34 // verfickte fiktionsbescheinigung

Das kleine Hotelzimmer wirkt seltsam leer seitdem Shalik gegangen ist, ganz im Gegensatz zu meinem Kopf, der mit quälenden Gedanken so voll ist, dass ich das Gefühl habe, dass er zu explodieren droht.

Aus dem kleinen Kühlschrank der Minibar nehme ich mir eine Cola und öffne die eiskalte Glasflasche mit einem Flaschenöffner. Ich schiebe die Balkontür auf und nehme auf einem der dunkelgrauen Metallstühle Platz.

Mittlerweile ist die Sonne fast vollständig untergangen und es hat sich deutlich abgekühlt. Der Wind trägt die salzige Luft des Meeres die wenigen Hundert Meter bis zum Hotel hinauf und ab und an kann man sogar auf dem Balkon das melodische Rauschen der Wellen hören, wenn sie am Ufer brechen.

Mein schwarzes Cocktailkleid fühlt sich plötzlich seltsam deplatziert an und die nackten Schultern lassen mich frösteln, sodass ich mir eine dicke Strickjacke von drinnen hole und sie eng um meinen schlanken Körper schlinge.

Minutenlang sitze ich da, starre auf den zunehmend leerer werdenden Strandabschnitt und sehe der Dunkelheit zu, wie sie sich immer weiter über den niederländischen Nachthimmel legt, bis mir irgendwann stumme Tränen über die Wangen fließen.

Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich machen soll. Mein Herz schmerzt und heute Mittag hätte ich niemals gedacht, dass wir nur wenige Stunden später von dem puren Glück in einen solch trostlosen Zustand fallen.

Sollte Shalik das wirklich durchziehen und auf welche illegale Art auch immer Geld beschaffen, triggert es nicht nur meine Angst um ihn extrem, sondern es stellt mich auch vor die Wahl zwischen Liebe und meinen Prinzipien.

Als Shalik und Chico von ihrem Spaziergang zurückkommen, ist es schon später Abend. Meine Zehen sind mittlerweile eingefroren und meine Nase von der Kälte gerötet, doch der Wind pustet mir vom Gefühl her auch meinen Kopf frei, sodass ich mich noch nicht überwinden konnte, wieder reinzugehen. Stattdessen hänge ich nun seit knapp einer Stunde auf dem immer unbequemer werdenden Stuhl und hänge meinen Gedanken nach.

Mein Blick ist auf den klaren Sternenhimmel gerichtet und unterschwellig habe ich die verzweifelte Hoffnung, vielleicht eine Sternschnuppe zu sehen, so verzweifelt bin ich. Ein freier Wunsch und etwas Hilfe vom Universum könnten mir in diesem Moment garantiert nicht schaden.

"Ist dir nicht kalt?", ertönt Shaliks Stimme leise und er legt seine Hände von hinten schützend auf meine Schultern. Seine Nähe tut mir gut und gleichzeitig ertrage ich sie gerade nicht.

"Doch", antworte ich leise und drehe mich nicht um.

"Komm mit rein, Babe", fordert er mich auf, doch ich schüttele bestimmt den Kopf.

Shalik atmet laut hörbar aus und nimmt dann resigniert auf einem Stuhl mir gegenüber Platz.

"Können wir nochmal reden?", frage ich vorsichtig, da ich seine Stimmung nicht einschätzen kann. Vielleicht hat er es sich ja doch nochmal anders überlegt.

Shalik streicht sich durch den kurzen Bart, der mittlerweile unordentlich in alle Himmelsrichtungen von seinem mokkafarbenen Gesicht absteht. "Rede."

"Ich kann dich verstehen, Shalik, wirklich", beginne ich einfühlsam. "Trotzdem solltest du nichts überstürzen und nichts Dummes machen. Es gibt immer einen Weg und auch in dieser beschissenen Situation muss es noch einen anderen Weg geben."

"Tiara", stöhnt Shalik fast tonlos. "Du hast doch gar keine Ahnung wie das ist, wenn man keinen deutschen Pass, sondern nur eine verfickte Fiktionsbescheinigung hat. Wenn du in dem Land, in dem du aufgewachsen bist und dich zuhause fühlst, nichts als ein Flüchtling bist, der von anderen stellenweise wie ein Aussätziger behandelt wird und zum Leben noch weniger als Hartz IV hat. Wir sind die, die schwarz arbeiten und währenddessen wie Schmarotzer vom Staat Geld bekommen, dabei bleibt uns doch gar keine andere Wahl, weil wir Jahre, teilweise jahrzehntelang keine Arbeitserlaubnis bekommen. Wir flüchten aus unseren Ländern wegen Krieg, wegen schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen, auf der Suche nach Frieden, wie es jeder von euch doch auch machen würde, wenn in euren Ländern sowas passieren würde, wenn neben dem Kinderzimmer deines Babys eine Bombe hochgehen würde oder auf eurem Marktplatz Menschen öffentlich gesteinigt oder gehängt werden, weil sie homosexuell sind oder sonst irgendwie versuchen, frei und selbst bestimmt zu leben. Klar, wir hatten in Tunesien verhältnismäßig noch Glück, nachdem 2011 der Arabische Frühling war, aber wir sind davor nach Deutschland gekommen, als es noch die Hölle in unserem Heimatland war. Riad ist hier geboren und aufgewachsen, wir wollen nicht mehr zurück, wir fühlen uns hier heimisch. Ich kann nicht mal richtig Arabisch sprechen, verdammt!", flucht der junge Mann mir gegenüber aufgebracht und spielt unruhig mit seinen Fingern.

"Glaub mir bitte, bei allem Respekt, aber du kannst das einfach nicht verstehen, wenn du nie in so einer Situation warst. Du sagst, es gibt immer einen Weg. Das stimmt vielleicht in deiner rosa Märchenwelt als weiße Deutsche, aber für uns ticken die Uhren hier anders. Der deutsche Staat ist doch froh, wenn er einen Grund findet, uns zu verurteilen und wieder in unsere rechtliche Heimat abzuschieben."

Shaliks deutliche Ansprache macht mich sprachlos. Er hat Recht, ich kann mich in diese Situation nicht reinversetzen. Ich ziehe die Ärmel meiner grauen Strickjacke fröstelnd über meine Hände. "Und was hast du jetzt vor?", frage ich direkt, obwohl ich nicht weiß, ob ich die Antwort wirklich hören will.

"Ich habe gerade mit Dion gesprochen. Er ist seit einigen Tagen an einer Sache dran und hat mir schon letztens vorgeschlagen, einzusteigen. Ich habe abgelehnt, aber gerade mit ihm telefoniert und ihm gesagt, dass ich auf sein Angebot eingehe. Es ist eine Sache, bei der viel Geld drin ist mit wenig Risiko, quasi so sicher wie damals in unseren Anfängen, als wir die Dealer abgezogen haben."

Ich ziehe meine kleine Stupsnase kraus. "Aha, und was soll das sein?", frage ich misstrauisch. Viel Geld mit wenig Risiko – so fangen immer die dümmsten Geschichten an.

"Da ist ein Typ aus Meerbusch, ein alleinstehender Deutscher, Mitte 40 und stinkreich. Dions Onkel kennt den. Der sucht nach einem Weg, sein Kapital mit wenig Verlust einzusetzen und zu vermehren. Dions Onkel meinte daraufhin, dass sein Neffe im Drogenbusiness.."

"Moment", falle ich ihm skeptisch ins Wort. "Dion macht das mit den Drogen immer noch?"

"Ja", antwortet Shalik wie selbstverständlich und zuckt gleichgültig mit den Schultern.

"Also lass mich kurz zusammenfassen: er ist nur nicht in den Knast gewandert, weil du ihn gedeckt hast und darüber ist er so erleichtert, dass er jetzt lustig weiter Kilos verschiebt oder was?", frage ich bissig und kann meinen Ohren nicht trauen.

Shalik brummt entnervt. "Tiara, bist du von der Kripo oder was? Was Dion macht ist seine Sache, es geht doch jetzt nicht um ihn, man. Willst du jetzt wissen was das für eine Sache ist oder nicht?"

Ich beiße mir auf die Zunge. Ich hätte noch so viel mehr dazu zu sagen, wie scheiße ich Dions Verhalten finde, dass es leichtsinnig und respektlos gegenüber Shalik ist, aber noch dringender will ich wissen, wo Shalik sich da gerade reinreitet. "Ja", antworte ich deshalb sanft.

"Der Typ will Geld investieren. Dion hat ihm gesagt, er kauft für ihn Drogen und verkauft die weiter. Quasi alles auf sein Risiko, der Typ stellt nur das Kapital und Dion regelt den Rest. Das ist der Deal."

"Also wollt ihr für den Typen Drogen kaufen und verkaufen?", schlussfolgere ich fassungslos. Klingt wirklich nach einem Wahnsinnsplan und so risikoarm.

"Natürlich nicht, aber wir lassen ihn in dem Glauben. Wir lassen die Nummer das erste Mal normal laufen, damit er sich sicher fühlt, dass wir ihn nicht verarschen und beim zweiten oder dritten Mal, wenn es um größere Mengen Drogen und vor allem um mehr Geld geht, nehmen wir seine Kohle und verpissen uns."

Ich schüttele schockiert den Kopf und richte mich in dem Gartenstuhl auf. "Ihr wollt ihn also abziehen, verstehe ich das richtig? Vorsätzlicher Betrug und Handel mit BTM, was macht das? Fünf Jahre on top zu deiner offenen Bewährung von einem Jahr?" Ich spucke Shalik die Worte förmlich entgegen. In meiner Stimme liegt so viel Verachtung für die ganze Nummer, wie ich es selbst noch nie von mir erlebt habe.

"Das macht gar nix, weil es nicht schief geht. Jemand der Drogen kauft, rennt nicht zu den Bullen, wenn ihm Geld fehlt", stellt Shalik überzeugt klar.

"Sei dir da mal nicht so sicher", schnaube ich. Ich kann nicht fassen, dass Shalik nach seiner Vita noch so blauäugig sein kann und frage mich kurz, ob er mich einfach nur für dumm kaufen will, doch die tiefe Überzeugung in seinen braunen Augen verrät mir, dass er jedes seiner Worte genau so meint.

"Du hast mir versprochen, dass du nichts mehr machst, Shalik, nur deshalb habe ich mich überhaupt auf dich eingelassen. Du wolltest eine Chance und hast versichert, keine krummen Dinger mehr zu drehen."

Wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen, doch ich blinzele sie tapfer weg.

"Ich weiß, Baby und ich habe mich daran auch gehalten. Ich habe die ganze Zeit die Finger stillgehalten, auch wenn es mich angekotzt hat, arm wie eine Kirchenmaus zu leben, obwohl ich genau weiß, wie ich diesen Zustand ganz schnell beenden könnte. Ich habe es einzig und allein dir zu Liebe nicht getan, aber mit so einer Situation habe ich nicht gerechnet. Ich kann meinen Onkel nicht hängen lassen, das ist meine Familie, wir teilen dasselbe Blut. Er war immer für mich da und ich bin loyal, das wird sich nie ändern."

"Ich war auch immer für dich da, wieso bist du mir gegenüber nicht loyal?" entgegne ich spitz.

"Tiaraaaa", stöhnt Shalik und atmet tief durch. "Ich bin dir gegenüber loyal, ich habe nur keine andere Wahl. Der Typ ist naiv, die Sache ist todsicher. Niemals geht der zu den Bullen und sagt: "Guten Tag, ich wollte gerne Drogen für 50.000 Euro kaufen. Die ersten Male hat es auch geklappt, aber jetzt haben die zwei mich abgezogen und ich hätte gerne mein Geld zurück oder zumindest das versprochene Koks." Da sind locker 20-30k für jeden drin. Ich werde das durchziehen, dann habe ich erstmal keine Kopfschmerzen und kann Jimmy helfen."

Wir schweigen uns einen Moment an und die einzigen Geräusche, die die dunkle Nachtluft auf dem Balkon erfüllen, sind das Pfeifen des Windes und Chicos leises Schnarchen, der sich unter Shalik wie ein Fuchs zusammengerollt hat.

"Glaub mir, ich weiß was ich tue. Ich bin nicht dumm. Vertraue mir, es ist nur diese eine Sache", fleht er mich an und greift nach meiner Hand.

Ich lasse ihn gewähren und lasse ihn meine schlanken Finger mit seiner tätowierten Hand umgreifen. Sofort durchströmt mich die Wärme, die von ihm ausgeht und ein tiefer Schmerz erfüllt mein schweres Herz.

Was, wenn es das letzte Mal ist, dass wir so beieinandersitzen und uns nah sind?

Was, wenn uns diese Sache voneinander entfernt, weil Shalik an seinem Plan festhält und ich an meinen Prinzipien? Beides kollidiert miteinander und kann nebeneinander nicht existieren, doch kann und will ich ohne Shalik existieren?

Andererseits muss ich mich fragen, ob meine Liebe zu ihm so stark ist, dass ich mich mit dem Wissen arrangieren kann, was Shalik da abzieht?

Ganz zu schweigen von dem Rattenschwanz, den diese Aktion mit sich zieht, sollte sie scheitern..

"Ich weiß nicht ob ich damit umgehen kann", sage ich ehrlich und probiere tapfer, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken, doch es gelingt mir nicht.

"Kann ich verstehen", gibt Shalik zu, drückt meine Hand kurz fest und lässt sie dann los. Traurig sieht er mir in die Augen und sagt mit belegter Stimme: "Aber ich habe einfach keine andere Wahl. Wenn du damit nicht klarkommst, dann tut es mir leid, aber dann müssen wir das mit uns wohl beenden."

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Meine Lieben,

Wie würdet ihr euch an Tiaras Stelle entscheiden?

Und wie wird sie sich entscheiden? Wird die Liebe siegen oder ihre Prinzipien?

A.

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