33 // perlen vor die säue

In den nächsten Wochen lebe ich mich in meinem neuen Zuhause ein und Shalik und ich werden ein eingespieltes Team. Wir verstehen uns gut und streiten uns kaum. Der Eklat am Tag nach dem Umzug war Gott sei Dank eine Ausnahme, eine einmalige Sache, die sich so nicht wiederholt hat.

Wir führen eine friedliche Beziehung, die auf Respekt und Ehrlichkeit beruht. Wir bemühen uns offen über alles zu reden, über unsere Ängste, Wünsche und Träume und schaffen es dadurch in der Regel, Unstimmigkeiten zügig aus der Welt zu schaffen, bevor sie sich unnötigerweise zu handfesten Streitigkeiten aufbauschen.

Meine Gefühle zu ihm steigern sich von Tag zu Tag. Ich war noch nie so verliebt wie in Shalik, habe noch nie so vertraut und mich fallen gelassen, wie bei ihm.

Es ist ein sonniger Septembertag, der perfekte goldene Spätsommer und Shalik hatte die Idee, dass wir das vielleicht letzte Wochenende dieses Jahrs mit schönem Wetter nutzen um ans Meer zu fahren. Wir wollen uns eine kleine Auszeit vom Alltag nehmen und mal was anderes sehen. Ein kleiner Tapetenwechsel sozusagen.

Der niederländische Küstenort Scharendijke liegt knappe 300 Kilometer von Essen entfernt und wir brauchen gute drei Stunden mit dem Auto dorthin.

Ich habe uns im Internet ein Zimmer in einem kleinen aber feinen Hotel direkt am Strand gebucht. Wir haben Chico mitgenommen, gemeinsam einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt und sind einfach abgehauen.

Das Zimmer ist groß und hell mit einer riesigen Fensterfront, die einen wunderschönen Blick auf die Nordsee offenbart. Heute ist es nahezu windstill, weshalb das graublaue Meer nur sanfte Wellen schlägt, die im Sonnenlicht glitzern.

"Ich könnte mir schon gut vorstellen hier zu leben", schwärme ich und suche in unserem schwarzen Hartschalenkoffer nach meinem türkisenen Bikini. Vermutlich wird das Wasser deutlich zu kalt sein, um darin zu baden, aber ich bin hochmotiviert und will es zumindest versuchen.

"Oh ja, jeden Tag aufwachen und aufs Meer sehen hat definitiv seinen Reiz", stimmt Shalik mir zu und setzt sich erschöpft aufs Bett. Er ist die ganze Strecke durchgefahren mit nur einer kurzen Toilettenpause und wollte sich partout nicht von mir ablösen lassen.

Es ist gerade elf Uhr und bereits 25 Grad warm, weshalb wir uns in Badeklamotten schmeißen, unsere Handtücher und Chico schnappen und es kaum erwarten können, endlich an den Strand zu kommen.

Wir verbringen einen entspannten Tag am Meer, lassen uns von der Sonne bräunen und kühlen uns ab und an kurz in dem klaren Salzwasser ab, bis uns die Füße vor Kälte weh tun.

Mittags essen wir Pommes und Frikandeln, während wir unsere nackten Zehen im Sand vergraben und könnten nicht glücklicher sein.

Selbst Chico, der bereits in der ersten halben Stunde eine süße Hundefreundin gefunden hat, hat die Zeit seines Lebens. Er tollt mit ihr durch den Sand, springt tollkühn in die Wellen oder jagt den Möwen hinterher, die immer ein Ticken schneller sind als er.

Am Abend duschen wir und putzen uns heraus, da wir einen Tisch zum Dinner in einem schicken Restaurant reserviert haben. Chico lassen wir mit einem großen Kauknochen im Hotelzimmer und laufen über die Strandpromenade zu dem Lokal unserer Wahl.

Shalik trägt eine dunkle Jeans und ein weißes Hemd, ich ein schwarzes Cocktailkleid und silberne Riemchen-Sandaletten mit Absatz. Die Sonne verschwindet langsam wie ein glutroter Ball hinter dem Meer und es ist noch immer so angenehm warm, dass man keine Jacke braucht.

Wir essen frischen Fisch, ich trinke einen kühlen Weißwein und wir reden nicht mal viel miteinander. Wir sind einfach selig, miteinander hier zu sein und ein paar Stunden paradiesischer Ruhe zu genießen.

Wir teilen uns gerade einen schokoladigen Lavacake zum Dessert, da klingelt Shaliks Handy. Er wirft einen kurzen Blick aufs Display und sieht mich dann entschuldigend an.

"Ich muss da kurz ran, Baby, sei mir nicht sauer, okay? Es ist mein Onkel, der ruft eigentlich nicht ohne Grund an."

"Kein Problem", antworte ich gelassen und schenke ihm ein strahlendes Lächeln. Ich bin viel zu tiefenentspannt um mich von so einer kleinen Störung aus der Ruhe bringen zu lassen. Nicht heute.

Shalik läuft von der geölten Holzterrasse des Restaurants herunter, zwischen den zahlreichen Rattanstühlen mit dicken weißen Auflagen hindurch und einige Schritte die Promenade entlang, während er angestrengt sein Handy ans Ohr presst und seine Miene sich immer mehr verfinstert.

Ein ungutes Gefühl beschleicht mich. Es sieht aus, als gäbe es keine guten Neuigkeiten. Ich lege meine Dessertgabel auf den Tellerrand und beobachte Shalik, der wild gestikulierend auf seinen Gesprächspartner einredet, den obersten Knopf seines Hemdes öffnet und sich resigniert durch die Haare fährt.

Das Telefonat dauert gute fünf Minuten, bis Shalik mit hängenden Schultern wieder zu mir an den Tisch kommt. Seine Augen sind rot und glasig, seine Frisur zerzaust.

"Was ist los?", frage ich ihn alarmiert und mit schlechtem Gefühl.

Er setzt sich gar nicht erst hin, sondern bleibt vor dem Tisch stehen und legt den Kopf schief. "Können wir bitte gehen?", fragt er mit belegter Stimme.

Sofort schiebe ich den Teller von mir und stehe auf. "Klar, ich bezahle nur eben", antworte ich. Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, Shalik würde mich nicht darum bitten, wenn es ihm nicht wichtig wäre.

"Ich mache das schon", winkt er ab und geht rein, um die Rechnung zu begleichen.

Ich warte auf Shalik, dann verlassen wir gemeinsam das Restaurant. Wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander her, ich gebe Shalik die Zeit, die er braucht, bis ich bemerke, dass er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt.

Abrupt bleibe ich stehen und lege meine Arme um seinen Bauch. Ich ziehe ihn an mich, schmiege mich an seine Brust und streichele zärtlich über seinen Rücken.

Shalik schluchzt leise und vergräbt seinen Kopf in meinen Haaren. Es ist das erste Mal, dass ich ihn wirklich weinen sehe und es löst einen tiefen Schmerz in mir aus. Ich will nicht, dass es ihm schlecht geht.

"Was ist denn passiert?", frage ich leise.

Er löst sich sanft von mir und setzt sich wortlos auf eine niedrige Naturstein-Mauer, die den breiten Spazierweg mit den zahlreichen kleinen Läden und Lokalen von dem weißen Sandstrand abgrenzt.

Shalik lässt seinen Blick über die blau-weiß gestreiften Strandkörbe hinweg auf das Meer fallen. Ich setze mich neben ihn und greife nach seiner Hand.

In der Ferne streiten zwei Möwen begleitet von lautem Krähen um ein Stück Brötchen, hinter uns tönen Stimmengewirr und leise Musik aus den Geschäften. Alles um uns herum ist lebendig, die Leute genießen den lauen Wochenendabend, aber wir sitzen mittendrin und die Schwere des Augenblicks drückt uns nieder.

"Najim hatte heute eine Gerichtsverhandlung wegen Steuerhinterziehung. Als er damals, vor gut acht Jahren mit meiner Tante nach Deutschland kam, hat er angefangen einzelne Autos günstig von Privatleuten aufzukaufen, zu reparieren und gewinnbringend weiter zu verkaufen. Er hatte keine Ahnung von dem System hier in Deutschland, von Steuern oder Arbeitsgenehmigungen und hat halt einfach für sich selbst gearbeitet, um sich und seiner Frau das Leben zu finanzieren und zeitgleich Asylbewerberleistungen erhalten. Das ist jetzt nach all den Jahren irgendwie rausgekommen und die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben."

Seine Stimme ist monoton, immer wieder schluckt er schwer oder wischt sich wütend über seine feuchten Augen.

"Heute wurde die Sache verhandelt und er wurde schuldig gesprochen. Er wurde zu einer Geldstrafe von 9.000 Euro verurteilt und er muss dieses Geld zahlen, sonst muss er die Strafe mit 90 Tagessätzen a 100 Euro im Knast absitzen. Gleichzeitig muss er auch noch eine Steuernachzahlung von knapp 10.000 Euro leisten." Shaliks Stimme bricht und er wirft zornig einen kleinen Kieselstein in den feinen Sand.

"Das tut mir leid, das ist wirklich scheiße", bestätige ich mitfühlend und streichele mit meinem Daumen über Shaliks tätowierten Handrücken.

"Jimmy will jetzt seinen Autohandel verkaufen um die Schulden zahlen zu können. Wegen seiner Duldung und den Schulden bekommt er natürlich keinen Kredit. Er will sein Geschäft, seine Selbstständigkeit, alles was ihm am Herzen liegt, aufgeben."

Mein Freund steht auf und tritt unruhig von einem Bein aufs andere.

"Najim ist sowas wie mein Mentor, er hat mich bedingungslos angenommen ohne mich zu verurteilen. Er war derjenige, der mich neben meiner Mama immer im Knast besucht hat, als sogar mein eigener Vater nicht mehr kommen wollte. Er hat mich unterstützt, ob bei der Wohnungssuche oder bei Gerichtsverhandlungen, er war immer für mich da. Er hat damals auch meinen Anwalt bezahlt, damit ich keinen Pflichtverteidiger, sondern einen guten Anwalt kriege, weil meine Eltern sich das gar nicht leisten konnte.

Ich kann das nicht auf mir sitzen lassen, dass er alles aufgibt. Ich bin ihm das schuldig, er hat so viel für mich getan. Ich kann nicht zusehen, wie er alles verliert, allein schon wegen Eya und Nuri darf das nicht passieren." Shalik redet sich in Rage, schmeißt aufgebracht seine Hände in die Luft und tritt wütend mit dem Fuß gegen die niedrige Mauer.

"Ich verstehe dich, Schatz, aber was willst du denn machen? Du hast doch selbst keine 20.000 Euro, die du ihm geben kannst", entgegne ich bemüht ruhig. Ich gehe Probleme durchdacht und mit Vernunft an, im Gegensatz zu Shalik, der meist emotional aus dem Bauch heraus handelt und zu Übersprungshandlungen neigt.

"Das stimmt, ich habe das Geld nicht, also muss ich es besorgen", antwortet er bestimmt. "Ich kenne tausend Wege, wie man schnell zu Geld kommt", erklärt er wild entschlossen und seine braunen Augen funkeln kampflustig.

"Tausend Wege, die dich dann auch wieder zurück in den Knast bringen, ist dir das etwa egal?", fahre ich ihn an. Seinen Kampfgeist und seine Loyalität in allen Ehren, aber dieser Plan klingt wenig zielführend.

"Weißt du was Tiara? Ja, es ist mir egal. Es ist mir wichtiger, dass mein Onkel, der Vater von zwei kleinen Mädchen ist, der sich nie was hat zu Schulden kommen lassen, außer, dass er sich in diesem Land mit seinen Gesetzen und seiner widersprüchlichen scheiß Bürokratie nicht auskannte, zu wenig Steuern bezahlt hat, bei seiner Familie bleiben und sein Geschäft behalten kann. Lieber gehe ich in den Knast, als dass er es tut oder seine gesamte Existenz verliert. Eya und Nuri brauchen ihren Papa mehr als mich hier draußen irgendjemand brauchen könnte. Seien wir doch mal ehrlich, für mich wären es nur ein paar Jahre mehr Knast in meinem eh schon verkorksten Leben. Perlen vor die Säue."

Ungläubig schüttele ich den Kopf. "Perlen vor die Säue", wiederhole ich nuschelnd. "Das kannst du doch nicht ernst meinen", stammele ich perplex.

Ich dachte Shalik sei dem Teufelskreis der Kriminalität endlich entkommen, nicht zuletzt durch mich und unsere Beziehung, doch anscheinend habe ich mich in ihm getäuscht. Immer wenn gerade alles gut läuft kommt das Leben und hat andere Pläne.

"Ich meine das todernst", stellt Shalik klar und sieht mir tief in die Augen, als wäre das Beweis genug.

"Shalik, bitte, du-", beginne ich, doch er fällt mir ins Wort. "Tiara, ich liebe dich wirklich und ich weiß, du meinst es nur gut mit mir, aber ich brauche jetzt gerade ein bisschen Zeit für mich."

Verletzt beiße ich mir auf die Unterlippe. Ich wäre gerne für ihn da und würde ihm zur Seite stehen, aber er gibt mir nicht die Möglichkeit dazu - nicht zuletzt, weil meine Meinung ihm nicht passt.

"Es tut mir leid, dass das ausgerechnet jetzt passiert, wo wir zusammen hierhin gefahren sind, aber ich habe mir das auch nicht ausgesucht", rechtfertigt er sich zerknirscht, nachdem er mich einen Moment lang schweigend betrachtet hat.

"Schon okay", antworte ich leise und kämpfe mit den Tränen. Ich drücke mich von der Mauer ab und fahre mir gedankenverloren durch mein brünettes Haar. "Ich gehe zurück ins Hotel."

"Okay. Ich komme kurz mit und hole Chico, dann gehe ich erstmal mit ihm spazieren und versuche meinen Kopf frei zu kriegen."

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Meine Lieben,

was für eine verzwickte scheiß Situation. "Immer wenn gerade alles gut läuft kommt das Leben und hat andere Pläne." Könnt ihr Tiara damit Recht geben?

Und versteht ihr Shalik und seine Motive?

Wie wird Tiara darauf jetzt wohl reagieren?

A

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