25 // scheiß sekt. scheiß vodka.

Plötzlich spüre ich, dass sich die Sicht vor mir verdunkelt, als ob jemand vor mich tritt. Noch bevor ich die Augen öffnen kann, ertönt eine tiefe Stimme: "Tiara, was machst du denn hier?"

Ich erkenne die Stimme, ohne ihn zu sehen. Wie könnte ich nicht? Ich kenne ihn schließlich ziemlich gut.

Auch sein signifikanter Geruch nach Minze und Moschus wird von einem leichten Windstoß direkt in meine Nase geweht. Augenblicklich kommt mir sein kalter Blick bei unserer letzten Begegnung wie ein Flashback in den Sinn und es liegt ganz bestimmt nicht an der frischen Temperatur, dass ich beginne zu frösteln.

Ich überwinde mich schweren Herzens, öffne meine Augen und blicke geradewegs in seine schwarzen Augen.

"Geht's dir nicht gut?", fragt er fast schon besorgt und geht vor mir leicht in die Knie, um mich besser mustern zu können.

"Nicht so wirklich", gebe ich wahrheitsgemäß zurück und sehe mich suchend nach meiner besten Freundin um, die ein paar Meter weiter in einem weiteren Stuhl hängt und an ihrem Handy herumspielt.

Hat sie überhaupt mitbekommen, was hier gerade abgeht?

Amir reicht mir sein Glas. Es ist so kalt, dass ich versucht bin, die Finger direkt wieder wegzuziehen. "Cola, trink mal einen Schluck", fordert er mich auf.

Kurz überlege ich, ob ich ihm in der Vergangenheit genug Gründe gegeben habe, mich jetzt spontan vergiften zu wollen, halte ihn und sein Getränk dann aber doch für vertrauenswürdig und nehme einen kräftigen Schluck in der Hoffnung, dass die koffeinhaltige Limonade meinen Kreislauf ein wenig pusht.

"Bist du nur mit Rani hier?", erkundigt er sich neugierig und nimmt das Glas wieder an sich.

"Und mit Helin und einer Freundin von ihr", nuschele ich und richte mich in dem Stuhl ein wenig auf. Das Gespräch mit Amir ist anstrengend, was weniger an ihm, sondern mehr an meinem Alkoholpegel liegt. Ich muss mich darauf konzentrieren, überhaupt ein paar gerade Sätze rauszukriegen. Am liebsten würde ich gar nicht mit ihm reden, schließlich weiß ich, dass Shalik das gar nicht gefallen würde, doch irgendwie bin ich dann doch wieder zu gut erzogen dafür, ihn einfach zu ignorieren.

"Ohne deinen Freund?", hakt Amir provokant nach als könnte er Gedanken lesen und mein Blick schnellt alarmiert zu ihm. Erst jetzt, wo ich ihn genauer betrachte, sehe ich ihm an, dass auch er schon ziemlich betrunken ist. Keine gute Grundlage für so ein heikles Gesprächsthema.

Ich komme gar nicht dazu, zu antworten, da legt Amir schon nach. "Ist das eigentlich dein Ernst, Tiara? Mit was für Leuten gibst du dich jetzt ab?"

"Mit was für Leuten denn?", frage ich genervt und ziehe eine Augenbraue hoch. Ich mag es nicht, welchen Ton er da gerade anschlägt.

"Mit Shalik und seinen kriminellen Freunden. Wieso machst du das? Der tut dir nicht gut, der wird dich nur verletzen, so wie dein Ex damals."

Wütend funkele ich ihn an. "Was redest du da?" Plötzlich fühle ich mich deutlich nüchterner, als hätte die Wut in meinem Bauch den Alkohol verdrängt. "Was erlaubst du dir, Amir? Du kennst Shalik doch gar nicht richtig - und mich anscheinend auch nicht. Wer bist du, dass du über uns urteilst? Und dann bist du auch noch so frech und benutzt dafür Sachen, die ich dir im Vertrauen erzählt hab. Schämst du dich nicht?"

Ruckartig stehe ich von dem Stuhl auf, etwas zu schnell, was ich daran merke, als mir der Schwindel in den Kopf schießt.

Ich stehe unsicher auf den Highheels, die sich plötzlich viel zu hoch anfühlen und greife haltsuchend nach der Lehne des Stuhls, verfehle sie jedoch um einige Zentimeter und greife ins Leere. Das bringt mich noch mehr aus dem Gleichgewicht und ich kippe nach vorne, da schnellt Amirs Arm zu mir und fängt mich ab, gerade rechtzeitig, bevor ich ungebremst in den feuchten Sand der Außenanlage in Strandoptik falle.

Ich atme tief durch und verharre in Schräglage, beschämt, in seinen starken Armen.

Scheiß Sekt, scheiß Vodka.

Ciao Selbstachtung.

Während ich noch immer hier hänge wie ein Schluck Wasser in der Kurve, kommt mir ein Gedanke, den ich bisher naiverweise völlig außer Acht gelassen hatte.

Was, wenn Shalik auch hier jemanden kennt, wenn hier irgendwelche Freunde oder Bekannte von ihm rumstreunen, die mich ausgerechnet in dieser prekären Situation mit Amir sehen und das missverstehen? Mir wird heiß und kalt zugleich. Nichts könnte ich gerade weniger gebrauchen. Es läuft wirklich zu gut mit Shalik, als dass ich das riskieren wollen würde.

Ich löse mich so abrupt von Amir, als hätten seine Arme meine sonnengebräunte Haut verbrannt und versuche wieder einen festen Stand zu finden.

"Danke", sage ich trocken und streiche mir eine Locke aus dem Gesicht. "Und jetzt gehe ich." Ich drehe mich von Amir weg, doch er hält mich am Arm fest und zieht mich sanft zurück.

"Tiara, es geht nicht um mich. Ich akzeptiere, dass du mich nicht willst, das ist völlig okay. Aber Shalik? Weißt du eigentlich, was das für ein Typ ist, mit dem du da fröhlich kuschelnd über den Jahrmarkt spazierst? Das ist ein Verbrecher, ein Dieb und Einbrecher, ein Drogenschmuggler. Der saß Jahre im Knast, bis vor kurzem erst noch. Was willst du mit so einem? Der geht nicht mal arbeiten, der kann dir nichts bieten. Guck dich doch an, du hast viel mehr verdient als ihn."

Jetzt hat Amir eine schlafende Löwin geweckt. Egal, wie oft ich mir diese Fragen selbst gestellt habe, er hat kein Recht dazu, so abwertend über Shalik zu sprechen und ich werde nicht akzeptieren, dass er es wagt, ihn in meiner Anwesenheit zu degradieren.

Grob stoße ich mit meiner Hand gegen seine breite Brust um Abstand zwischen uns zu gewinnen, doch auch wenn ich meine ganze Wut in diese Geste stecke, bewegt er sich keinen Millimeter, was mich gleich noch mehr aufregt.

"Pass auf wie du redest, Amir", warne ich ihn mit erhobenem Zeigefinger. Meine blauen Augen funkeln zornig und jeder Muskel meines schmalen Körpers ist angespannt. "Es ist mir scheißegal, was Shalik gemacht hat, bevor wir uns kennengelernt haben. Er ist der liebste und fürsorglichste Mann zu mir, er macht mich glücklich und das ist es, was für mich in einer Beziehung zählt und kein Status, keine materiellen Güter oder Vorstrafen. Gerade du müsstest doch eigentlich wissen, dass ich auf sowas keinen Wert lege. Du behauptest doch, dass du dich in mich verliebt hast, dann solltest du mich auch kennen."

Aufgebracht schmeiße ich meine Hände in die Luft und schüttele den Kopf. "Wieso zur Hölle rechtfertige ich mich überhaupt vor dir?"

Amir presst seine Kiefer eisern aufeinander und presst seine Hand so fest zusammen, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten und ich Angst habe, dass das Glas unter seinem Druck gleich nachgibt und mit lautem Klirren in tausende Scherben zerspringt. Ich sehe vor meinem inneren Auge schon Blut über seine Hand laufen, da reißt er mich lautstark aus meinen Gedanken.

"Vielleicht rechtfertigst du dich ja eher vor dir selbst? Du weißt nämlich ganz genau, dass ich Recht habe, Tiara, du bist schließlich nicht dumm und so betrunken kannst du auch gar nicht sein, als dass du etwas so Offensichtliches übersehen kannst. Einmal Verbrecher, immer Verbrecher, oder willst du mir jetzt ernsthaft sagen, dass dein Shalik "ganz anders" ist?" Er setzt seine letzten Worte mit seinen Händen in Anführungszeichen, was absolut bescheuert aussieht und verstellt seine Stimme, als wolle er mich nachäffen.

"Selbst wenn Shalik wollen würde, er kann gar nicht anders, als immer wieder zu dem schnellen Geld zurückzukehren. Er wird immer wieder krumme Dinger drehen und tief in deinem Herzen weißt du das auch. Irgendwann wirst du dir das eingestehen müssen, Tiara, und dann wirst du noch an mich und meine Worte denken."

Mein Herz rast und ich höre deutlich, wie das Blut durch meine Adern rauscht. Adrenalin durchflutet meinen Körper und ich koche innerlich.

"Einen Scheiß werde ich. Ich werde dich zu unserer Hochzeit einladen, du kriegst einen Platz in der ersten Reihe und darfst mir auf Knien gratulieren und dich bei Shalik entschuldigen", keife ich. Im Normalfall bin ich eine ruhige, harmoniebedürftige Frau, doch der großgewachsene Iraner hat es innerhalb weniger Minuten geschafft, mich bis zur völligen Eskalation aus der Reserve zu locken.

Mir zuckt es in der Hand, am liebsten würde ich ihm vor allen Leuten eine schmieren, doch ich reiße mich zusammen. Tränen der Wut steigen mir in die Augen. Ich versuche noch krampfhaft sie weg zu blinzeln, doch es gelingt mir nicht. Stattdessen kullert eine dicke Träne über meine Wange.

Ich werfe Amir einen letzten Blick voller Enttäuschung zu. Ich kann nicht verstehen, dass er mich so angeht und mir mein Glück mit Shalik nicht gönnen, ja sogar zerstören will.

Wieso redet er mir das alles so mies, jetzt, wo ich gerade meinen Frieden mit der Situation gefunden hat?

Wieso trifft er genau meinen wunden Punkt?

Wieso holt er all meine Zweifel wieder hoch?

Und wieso hat er überhaupt die Macht dazu?

Weil Amir Recht hat, mit dem was er sagt?

Wird Shalik sich wirklich nie ändern?

Wütend beiße ich mir auf die Unterlippe. Gewiss steckt viel gekränktes Ego in Amirs Worten und vielleicht auch eine gute Prise der Absicht, mir für meine Abfuhr eins reinwürgen zu wollen, aber viel mehr als seine dreisten Behauptungen fuckt mich ab, dass er damit Erfolg hat.

Er hat erreicht, was er erreichen wollte, nämlich mich zu verunsichern und zu verletzen.

Ich lasse ihn einfach stehen und laufe überstürzt davon. "Tiara, warte mal", ruft Amir mir noch nach, doch ich reagiere nicht.

Ich stürme ins Innere der Disco und suche verzweifelt nach Helin. Rani habe ich einfach draußen sitzen lassen, aber ich kann jetzt auch nicht mehr zurück. Das Letzte was ich will, ist, jetzt nochmal zu Amir zu begegnen.

Doch dafür muss ich gar nicht mehr raus, denn offensichtlich ist er mir nachgelaufen. "Tiara", ertönt es leise neben mir und eine Hand berührt mich vorsichtig am Oberarm.

"Verpiss dich", zische ich, ohne mich umzudrehen.

"Komm schon, lass uns nicht so auseinander gehen. Es tut mir leid, hörst du? Ich wollte dir nicht weh tun."

"Du hast mir aber weh getan", knurre ich und fahre zu ihm herum. "Und zwar mit dem was du über Shalik gesagt hast. Deine Aussagen haben mir nämlich nichts neues über Shalik verraten, sondern nur über dich und ich hätte nie gedacht, dass du so ein ekelhafter, neidischer, missgünstiger Mensch bist." Kalt sehe ich ihm in die Augen, dann renne ich zum Ausgang, so schnell es besoffen auf 12-cm-Absätzen eben geht.

Ich knalle meine Verzehrkarte und einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Theke an der Kasse ohne die Kassiererin auch nur eines Blickes zu würdigen oder auf mein Wechselgeld zu warten und stürme nach draußen.

Vor dem Eingang des Steffys geht eine relativ hohe Metalltreppe nach unten, die ich vorsichtig runter stöckele, immer darauf bedacht, nicht in den Löchern des Metallrasters stecken zu bleiben oder auf der feuchten, rutschigen Oberfläche auszurutschen.

Am Fuße der Treppe gehe ich in die Knie und lasse mich auf das kalte Metall sinken. Direkt spüre ich, dass meine Hose die Feuchtigkeit aufsaugt, aber ich ignoriere das. Ich habe gerade andere Probleme als einen nassen Arsch.

Mit zittrigen Fingern fische ich mein Handy aus meiner kleinen Handtasche und wische die neue Nachricht von Shalik unbeachtet weg. Ich wähle Ranis Nummer und warte ungeduldig, doch sie nimmt den Anruf nicht an. Als nächstes suche ich Helin in meinen Kontakten und rufe sie an.

Es tutet zwei Mal, dann geht Helin ran und laute Musik dringt durch den Lautsprecher meines Handys.

"Ja?", schreit sie gegen die Lautstärke im Inneren der Disco an.

"Helin, ich bin draußen, vor der Tür. Ich hatte einen riesigen Streit mit Amir. Wollt ihr auch abhauen oder solle ich ein Taxi nehmen? Und kannst du mal schauen, wo Rani ist? Ich habe sie irgendwie verloren."

Es ist überhaupt nicht meine Art, meine Freundin alleine zu lassen. Niemals würden wir eine von uns im betrunkenen Zustand alleine lassen, das ist viel zu gefährlich. Vorhin habe ich einfach die Nerven verloren und über nichts mehr nachgedacht, ich bin einfach nur noch Knall auf Fall geflüchtet. Weg von Amir, weg von seinen Worten, weg von meinen Ängsten und schlimmsten Gedanken. Doch jetzt, wo ich mich ein wenig beruhigt habe, holt mich mein schlechtes Gewissen ein und ich mache mir Sorgen um meine beste Freundin.

"Ne, ich wollte sowieso abhauen, wir haben euch schon gesucht", schreit Helin mir ins Ohr. "Wir sammeln Rani ein und kommen raus. Warte dort auf uns, Tiara, ja?"

Erleichtert verabschiede ich mich von Helin und lege auf. Erneut blinkt Shaliks Nachricht auf meinem Handy auf. Diesmal wische ich sie nicht weg, sondern öffne sie.

"Ja, bitte melde dich bei mir, ich hasse es, wenn ich nichts von dir höre. Kann mich gar nicht konzentrieren, bin die ganze Zeit mit meinem Kopf nur bei dir. Ich weiß, dass du auf dich selbst aufpassen kannst, aber was wäre ich für ein Mann, wenn ich dich nicht mit allem was ich bin und habe beschützen wollen würde? Ich zweifle deine Eigenständigkeit nicht an und ich vertraue dir, ich will nur dass es dir immer gut geht."

Jetzt kann ich endgültig nicht mehr aufhalten, dass mir Tränen in Sturzbächen über das Gesicht rinnen. Shaliks Worte berühren mich so tief und gleichzeitig verletzen sie mich, wegen der Gedanken, die ich vor wenigen Minuten noch hatte.

Ich schäme mich dafür, wieder an Shalik gezweifelt zu haben. Ich schäme mich dafür, dass Amir es geschafft hat, mich so aus der Fassung zu bringen. Mittlerweile schäme ich mich fast schon dafür, überhaupt feiern gegangen zu sein und Alkohol getrunken zu haben. Ich schäme mich für das Drama und dafür, jetzt heulend und mit nassem Hintern vor einer Disco zu hocken.

"Manchmal glaube ich, du bist zu gut für mich", tippe ich wimmernd und sentimental in mein Handy.

"Tiara?", höre ich Ranis helle Stimme durch die Dunkelheit rufen. "Ich bin hier", schluchze ich leise.

"Oh Gott, was ist passiert?", ruft Rani alarmiert und stürzt die Treppen so schnell runter, dass ich Angst habe, dass sie wegen mir gleich ausrutscht, die Treppen runter fliegt und sich das Genick bricht.

Ich stehe auf und blicke Rani durch die Dunkelheit hinweg traurig an. Ihre Augen glänzen wie zwei Onyxe, zwei schwarze Diamanten und in ihnen liegt aufrichtige Sorge.

Ich lasse mich in ihre Arme ziehen und schluchze an ihre nackte Schulter. "Amir hat mich so fertig gemacht. Dass Shalik schlecht für mich ist, dass ich was Besseres verdiene und er mir nie was bieten können wird und dass er immer ein Verbrecher sein wird", berichte ich Rani und mir ist es in dem Moment auch egal, dass Helin das alles mitbekommt.

Bisher habe ich ihr Shaliks zweifelhafte Vorgeschichte verschwiegen, nicht weil ich mich für ihn schäme, sondern weil sie nicht der Mensch ist, mit dem ich solche Probleme bespreche.

"Was für ein Wichser", schimpft sie und streichelt zärtlich meine Wange. "Scheiß auf den, Maus. Ich konnte den nie leiden. Der ist furchtbar arrogant und hält sich immer für was Besseres. Ich habe nie verstanden, was du an dem findest."

Plötzlich muss ich lachen. Mit Tränen in den Augen beginne ich zu kichern, hebe den Kopf und sehe Rani an. "Das hat Shalik auch gesagt. Genau das Gleiche wie du."

"Na siehst du. Und was ich sage, stimmt fast immer, das weißt du ja. Komm Schatz, wir fahren nachhause."

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Meine Lieben,

Was für ein aufwühlendes (& langes) Kapitel.

Was sagt ihr zu Amirs Worten?

Und wer wird am Ende Recht behalten? Tiara oder Amir? Hochzeit oder Knast?

A.

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