1O // und was, wenn es klappt?

Ich lasse mich erschöpft auf mein Bett fallen und versuche vergeblich zu realisieren, was heute alles passiert ist. Mein Leben war in Ordnung, bis meine Eltern uns offenbart haben, dass es unsere Familie, wie ich sie schon immer kannte, von nun an nicht mehr gibt.

Vielleicht ist das schwer nachzuvollziehen, aber es fühlt sich an, als hätte mein Vater nicht nur meine Mutter, sondern auch Lias und mich betrogen. Meine behütete Kindheit, unsere intakte Familie, ein Mutter-Vater-Kind-Konstrukt wie aus einem schillernden Bilderbuch sind wie eine kaputte Fensterscheibe in tausend kleine, schneidend scharfe Teile zerbrochen.

Seit der Trennung meiner Eltern ging es Schlag auf Schlag: das erste Date mit Shalik, das zugegebenermaßen sehr schön war, jedoch von dem Streit mit Amir überschattet wurde und dann heute durch sein Geständnis vollends abgewertet wurde.

Das Klingeln meines Smartphones reißt mich aus den Gedanken. Auf dem Display leuchtet ein eingehender Anruf von Rani auf. Mein erster Impuls ist, ihren Anruf wegzudrücken. Ich hadere kurz mit mir, gehe dann aber doch ran.

Vielleicht hilft es mir, mich bei meiner besten Freundin auszukotzen. Geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid.

"Hey Süße, alles gut bei dir? Was treibst du so?", begrüßt sie mich fröhlich mit ihrer warmen Stimme.

"Ach hör auf", antworte ich resigniert und drücke mein Gesicht noch etwas tiefer in das weiche Kopfkissen.

"Was ist los? Gehts dir mies wegen deiner Eltern?", hakt sie nach.

"Ja, auch. Die Krönung des ganzen Elends war allerdings mein heutiges Treffen mit Shalik", erzähle ich vage und stöhne gequält auf.

"Wieso das denn?", fragt Rani überrascht. Nach unserem ersten Date habe ich meiner langjährigen Freundin schließlich noch begeistert von Shalik vorgeschwärmt und sie kann anscheinend nicht nachvollziehen, wie die Stimmung meinerseits innerhalb weniger Stunden komplett kippen konnte. "Willst du vorbeikommen?", schiebt sie liebevoll hinterher.

"Hast du nichts Besseres vor?", entgegne ich vorsichtig. Ich möchte sie eigentlich nur ungerne mit meiner miesen Laune runterziehen. Ich könnte mir an ihrer Stelle zumindest besseres für einen gemütlichen Sonntag vorstellen als mein langes Gesicht zu ertragen.

Doch Rani lacht leise auf. "Es ist Sonntag, was soll ich vorhaben?"

"Okay, dann komme ich vorbei." Wir verabschieden uns und ich bleibe noch einen Moment regungslos im Bett liegen, bevor ich mich aufraffen kann und die wenigen Minuten mit dem Auto zu Rani fahre.

Das kleine, freistehende Häuschen ihrer Familie, das mit ziegelroten Backsteinen verkleidet ist, liegt im benachbarten Stadtteil Bergerhausen. Vor dem Haus befindet sich ein gepflegter Vorgarten mit runden Buchsbäumen und vielen, riesigen Sonnenblumen, durch den ein gebogener Weg aus Granitsteinen von dem schwarzen, schmiedeeisernen Zaun zu der Haustür aus antikem Holz führt.

Ranis kleine Schwester Priya öffnet mir freudestrahlend die Tür und fällt mir überschwänglich in die Arme. "Tiara!", kreischt sie aufgeregt.

Das kleine Mädchen hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer großen Schwester und versetzt mich jedes Mal mit ihrem Anblick in Flashbacks an meine eigene Grundschulzeit.

Ihr langes schwarzes Haar glänzt wie Seide und ist ordentlich zu einer Flechtfrisur gebunden. Ihr kleiner Körper steckt in einem hübschen Jeanskleid mit einer gestreiften Leggings und ihre dunklen Augen funkeln voller Freude.

"Hallo Mäuschen", begrüße ich sie und drücke ihr einen Kuss auf die Schläfe. Dann ziehe ich eine Tafel Kinderschokolade aus meiner Tasche und drücke sie ihr in die Hand. "Hier, für dich. Aber teile mit Jaspal, okay?", weise ich sie an.

Brav nickt sie und stolpert durch den Hausflur in Richtung Wohnzimmer.

Rani kommt gerade die letzten Treppenstufen heruntergesprungen und umarmt mich zur Begrüßung liebevoll. Sie hat ihr schwarzes Haar zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt und trägt einen beigefarbenen, gemütlichen Zweiteiler aus Feinstrick und Adiletten.

Sie lächelt mich mitleidig an als sie in mein müdes, trauriges Gesicht sieht, streicht mir eine lose Haarsträhne aus der Stirn und drückt meine Wangen kurz mit ihren Fingern zusammen, sodass ich einen Fischmund ziehe. Ein Lächeln schleicht sich auf unsere Gesichter.

"Komm, wir gehen nach oben", fordert meine beste Freundin mich auf, greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich.

Wir machen es uns auf ihrem kuscheligen Bett gemütlich und Rani deckt mich fürsorglich mit ihrer türkis bezogenen Bettdecke zu. Ihr Zimmer riecht vertraut nach Vanille und Weichspüler und ich schließe für einen Moment erschöpft die Augen.

"So schlimm?", fragt Rani einfühlsam. Ich schlage die Augen langsam wieder auf. Sie rollt sich auf die Seite und mustert mich eindringlich. Ein Streifen ihrer braunen Haut blitzt unter ihrem kurzen Strickpullover hervor.

"Schlimmer", antworte ich resigniert und seufze leise.

"Was ist denn passiert? Gestern warst du doch noch voll auf Wolke Shalik", erwidert sie grinsend.

"Ja, voll", stimme ich ihr zu. "Wir hatten auch das perfekte erste Date. Wir waren mit seinem unfassbar süßen Welpen spazieren und danach bei ihm zuhause in seiner Wohnung. Wir haben uns gut unterhalten, Musik gehört und Shalik hat uns Pizza bestellt. Er war ein guter Gastgeber und hat sich den ganzen Abend um mich gekümmert. Ich habe ihm gesagt, dass es mir nicht so gut geht, weil in meiner Familie etwas vorgefallen ist und er war sehr rücksichtsvoll und hat mich weder ausgequetscht noch im Gegenteil einfach auf mein Befinden geschissen. Er hat den einfach richtigen Mittelweg gefunden. Generell haben wir einfach total gut miteinander gevibet, wir waren von Anfang an auf einer Wellenlänge. Und on top ist er sogar noch heißer als auf seinen Bildern", lasse ich den Abend Revue passieren und merke selbst, dass ich wieder ins Schwärmen gerate.

"Okay.. Ehrlich gesagt sehe ich das Problem jetzt noch nicht. Das klingt alles wie aus einem richtig kitschigen Liebesfilm", bemerkt Rani irritiert und zieht ihre kleine Stupsnase kraus.

"Das habe ich auch gedacht, das war alles zu schön, um wahr zu sein. Doch das Problem hat sich - wie soll es auch anders sein - heute herauskristallisiert. Shalik hat mich von zuhause abgeholt und wir sind am Baldeneysee spazieren gegangen. Ich habe mich ihm offenbart und ihm erzählt, dass meine Eltern sich getrennt haben, weil mein Vater eine Neue hat. Daraufhin meinte er, dass er mir ebenfalls gerne die Wahrheit sagen würde, da ich mich ihm so geöffnet habe und weil er will, dass ich von Anfang an weiß, auf was ich mich einlasse. Und dann ging es los. Er hat mir erzählt, dass er früher täglich gekifft und viel Alkohol getrunken hat. Er hatte keine Perspektive, da er keine Ausbildung machen oder generell arbeiten durfte und hat dann angefangen mit seinen zwei besten Freunden ein paar Dealer abzuziehen. Das Ganze hat sich hochgeschaukelt und die drei sind in Wohnungen, kleine Geschäfte und Arztpraxen eingebrochen bis sie irgendwann gepackt wurden und Shalik zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde", erzähle ich ihr die Kurzfassung und bin selbst erneut erschrocken über die Worte, die meinen Mund verlassen.

Rani nickt zustimmend und hört mir weiterhin aufmerksam zu.

"Als er wieder rauskam hat er dann irgendwann angefangen Drogen aus Tschechien zu schmuggeln und so sein Geld zu machen bis er - Überraschung - auch dabei irgendwann gepackt wurde. Seinen Worten nach hat er sogar noch Glück gehabt, da er mit einer verhältnismäßig kleinen Menge erwischt wurde, aber wegen seiner erheblichen Vorstrafen hat er dafür dann gleich nochmal drei Jahre Freiheitsstrafe bekommen, von denen er jetzt zwei Jahre abgesessen hat. Das letzte Jahr wurde zur Bewährung ausgesetzt."

Rani schweigt noch immer.

"Kannst du mal was dazu sagen?", fahre ich sie an und bereue es in der selben Sekunde schon wieder.

"Was soll ich denn dazu sagen, Tiara?", gibt sie ruhig zurück und zuckt mit den Schultern. "Fehler macht jeder - der eine mehr, der andere weniger und er hat offensichtlich die Verantwortung übernommen und für seine Fehler gebüßt."

Ich starre Rani aus großen Augen an. Das kann sie doch nicht ernst meinen? Ich habe erwartet, dass es sie genauso schockiert wie mich, doch sie reagiert zu meiner Verwunderung ziemlich locker.

"Rani, der war im Knast! Dreieinhalb Jahre!", erinnere ich sie empört. Ich glaube, sie erkennt den Ernst der Lage noch nicht.

"Ich habe dir doch gleich gesagt, der sieht aus wie ein Knasti", lacht sie.

"Das ist nicht lustig", schimpfe ich und schüttele energisch den Kopf.

Rani dreht sich wieder auf den Rücken und blickt an die weiße Zimmerdecke. "Du hast mir vor ein paar Tagen noch damit in den Ohren gelegen, dass du einen Mann willst, der ehrlich zu dir ist nach dem ganzen Drama mit diesem Hurensohn Mikan. Jetzt findest du einen Kerl, der dich komplett aus den Socken haut, der gut zu dir ist, der dir gefällt und der von Anfang an schonungslos ehrlich zu dir ist und das passt dir auch nicht?" Sie sieht mich provokant an und ihre dunklen Augen blitzen angriffslustig auf.

"Er hat Schulden bei diesem Drogenboss, deshalb verkauft er am Wochenende Teile in einer Disco. Von 10.000 Euro hat er jetzt schon 7.000 Euro abgearbeitet, aber er macht es momentan immer noch", gestehe ich vorwurfsvoll.

"Und danach hört er auf?", hakt Rani nach.

"Das ist es ja eben, das weiß ich nicht. Er sagt er will sich selbst von der Kriminalität distanzieren, aber was, wenn er es nicht tut?"

"Und was, wenn er es doch tut? Wieso sollte er lügen, wenn er bis jetzt schon so ehrlich zu dir war? Hat nicht jeder Mensch eine faire Chance verdient?"

Stille.

In all den Jahren habe ich meine beste Freundin noch nie als solchen Moralapostel erlebt. Ich habe mit einer komplett anderen Reaktion ihrerseits gerechnet. Empörung, Wut, Unverständnis, irgendwas in die Richtung, aber nicht damit, dass sie Shalik unbekannterweise in Schutz nimmt und mir ins Gewissen redet.

"Verstehe mich nicht falsch, Tiara, ich will Kriminalität auf keinen Fall gutheißen, aber soweit ich das verstanden habe, ist das doch seine Vergangenheit oder nicht? Und ich finde es einfach nicht richtig, wenn du ihm keine Chance gibst wegen etwas, was er lange vor dir getan hat. Wenn Gott alle Sünden vergibt, wer bist du, dass du es nicht tust? Wenn er dir versichert, dass er sich ändert, dann warte doch einfach ab, ob er sein Wort hält. Wenn er es nicht macht, kannst du dich noch immer von ihm distanzieren, aber ihn von vornherein zu verurteilen obwohl er ehrlich zu dir war und dir alle Karten offengelegt hat und vor allem obwohl du so dermaßen in ihn verschossen bist, halte ich einfach für falsch."

Nachdenklich nicke ich. Irgendwie hat Rani Recht. Ich habe auch schon Fehler gemacht und nach denen möchte ich heute auch nicht mehr beurteilt werden. Shalik hat mich wirklich von sich begeistert..

Ganz besonders gibt es mir zu denken, was Rani über Mikan gesagt hat. Mikan hat mich belogen und betrogen, wann immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. Seitdem ist Ehrlichkeit auf meiner Prioritätenliste unumgänglich ganz nach oben gerutscht und jetzt, wo ich jemanden finde, der ehrlich zu mir ist, ist mir das dann zu viel Ehrlichkeit?

Ich bin hin und her gerissen. Ich würde Shalik gerne wiedersehen, aber ich habe Angst davor, mir wieder das Herz brechen zu lassen.

"Und was, wenn es schief geht?", frage ich traurig und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen, bei dem Gedanken daran.

"Und was, wenn es klappt?"

___________________________

Meine Lieben,

Hättet ihr mit dieser Reaktion von Rani gerechnet, oder hättet ihr sie auch anders eingeschätzt?

Und was denkt ihr: wird es klappen oder wird es schief gehen?

A.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top