Kapitel 7: "Zweieinhalb Meter"
Lexa
Genau vier Wochen bin ich jetzt hier. 28 Tage. 672 Stunden. Und bis jetzt kamen noch keine Aktivitäten, die das Gemeinschaftsgefühl stärken sollen. Keine Gruppenunternehmungen oder Therapiestunden.
Ich habe das ein oder andere Mal im Stall ausgeholfen, um höflich zu sein. Vielleicht auch um den gemeinsamen Aktivitäten aus dem Weg zu gehen. Damit ich das letzte Jahr noch gefahrlos und unauffällig überstehe. Sollen sie denken, dass ich mich eingelebt habe.
Die Tage werden immer kälter und mittlerweile merkt man schon gar nicht mehr, dass vor kurzem noch Sommer gewesen ist. Und jetzt stehe ich hier, vor meinem spärlich bestückten Kleiderschrank, aus dem ich mir einen einfachen Pullover raushole und ihn mir überziehe. Noch 20 Minuten, bis es essen gibt. Genug Zeit, um mir die andere Seite meiner Haare auch noch zu flechten.
Also schließe ich die Schranktüre und blicke stattdessen in mein Spiegelbild, welches sich nun vor mir befindet. Der viel zu große Graue Pullover, den ich mir von Mason geklaut habe, als ich in das letzte Mal gesehen habe, hängt mir lasch über die Schulter. Während die eine Seite meiner Haare fein säuberlich zu einem Bauernzopf zusammengebunden ist, hängt mir die andere Seite noch ungebunden, strohig über den Rücken.
Also fange ich langsam an zu flechten, so wie es mir meine Mutter einmal beigebracht hat. Rechts in die Mitte. Links in die Mitte. Und so weiter. Währenddessen gehe ich gelangweilt durch mein Zimmer. Die Sonne scheint durch die weißen fluffigen Wolken und es sieht so aus, als würde es draußen so warm sein, wie noch vor kurzem.
Ich schiele kurz auf mein Handy, aber das kleine Lämpchen, was blinkt, wenn ich eine Nachricht bekomme, verrät mir, dass mir niemand geschrieben hat. Kein Wunder. Mason schläft bestimmt noch. Und die anderen würden mir nie schreiben. Wenn sie mich nicht eh schon vergessen haben.
Elf Minuten. Ich nehme mir ein Haargummi und halte es mit meinem Mund fest, damit ich, immer noch flechtend, die Treppe zur Küche runter gehen kann. Ich höre, wie Noah irgendwas über eine Chloe erzählt.
Ich rieche frische Brötchen mit einem Hauch eines Eies. Die Treppen geben ein leichtes Quietschen von sich, wie auch schon die Wochen zuvor. Es hat etwas beruhigendes, dass mich jeden Morgen das gleiche Geräusch begleitet, wenn ich die alte Treppe runter gehe.
Am Küchentisch sehe ich schon Noah, an seinem Handy, neben seinem Vater sitzen. Während ich mir das Haargummi in den Zopf reinmache, damit dieser nicht aufgeht, setze ich mich zu ihnen an den Küchentisch. Nun fällt wir auch Olivia auf, die noch in der Küche steht und Eier kocht. „Morgen", murmle ich leise, in der Hoffnung, dass ich nicht allzu sehr aufgefallen bin.
Nervös kaue ich auf meiner Zunge, versuche mir aber nichts anmerken zu lassen. Noah blickt einmal kurz von seinem Handy hoch, bevor er mit irgendwem weiterschreibt. Wahrscheinlich Joshua. Auch ich sehe wieder einmal auf mein Handy. Er hat immer noch nicht geschrieben. Okay es ist ja auch erst vier Uhr bei ihm.
„Na was habt ihr heute so schönes vor", freundlich lächelt Olivia zu uns rüber, bevor sie samt den Eier zu uns an den Tisch kommt.
„Nichts", antworte ich wahrheitsgemäß. Wahrscheinlich werde ich den restlichen Tag in meinem Zimmer verbringen und weiterschreiben. Die letzten Tage habe ich es einfach nicht geschafft. Vielleicht laufe ich heute Abend raus und beobachte die Sterne. Heute sollen nämlich die Sternschnuppen gut zu sehen sein. „Ich wollte noch was trainieren", erwidert Noah und legt dabei sein Handy vorsichtig neben sich ab. „Und was noch", hakt seine Mutter nach.
„Wir wollen heute Abend wieder zum See." „Du weißt, dass es viel zu kalt dafür ist. Ihr werdet noch krank. Und Joshuas Mutter ist ganz bestimmt auch dagegen."
„Aber Mum, wir machen das jedes Jahr und das weißt du auch. Außerdem habe ich es dir schon letzte Woche erzählt." Das Stimmt. Man konnte sie laut und deutlich diskutieren hören.
Gespannt beobachte ich das Gespräch. So wie ich Olivia kennen gelernt habe, wird sie bestimmt nachgeben. Aber was wollen sie um diese Zeit an irgendeinem See? Wenn man kein Fell hat, dann ist es ganz bestimmt zu kalt.
„Unter einer Bedingung", fängt sie an nachzugeben und ich befürchte das Schlimmste. „Du nimmst Lexa mit." Wie ich es befürchtet habe. Die gemeinsamen Aktivitäten. Ich wusste, dass sie irgendwann noch kommen.
„Das tut dir auch gut. Vielleicht freundest du dich ja mit Nayla an. Mal raus aus dem Haus", redet mir sie Mut zu, als hätte sie in meinem Gesicht abgelesen, dass ich von dieser Idee nicht begeistert bin. „Und, ihr macht zusammen die Pferde für den Austritt heute fertig", ergänzt John.
Ergeben nickt Noah und wagt es nicht zu widersprechen. Wahrscheinlich, weil er Angst hat, dass sie es ihm doch nicht erlauben. „Muss ich wirklich mit? Ich würde viel lieber hierbleiben", versuche ich es, aber bekomme nur ein freundliches Lächeln und ein Nicken von Olivia als Antwort. Super.
Den ganzen wundervollen Abend mit Menschen verbringen, mit denen ich nichts anzufangen weiß. Mit denen ich eigentlich nichts zu tun habe.
Nach dem Essen, stelle ich mein Geschirr in die Spüle und befinde mich schon auf der Treppe, als mit Noah aufhält. „Wo willst du denn hin?" „Nach oben", gebe ich mit einem genervten Unterton wieder und verschränke die Arme vor meiner Brust. Er kommt einen Schritt näher, sodass er jetzt auch auf der Treppe steht. Keine Schwäche zeigen. Bleib ruhig.
„Komm, je schneller wir das im Stall fertig haben, desto schneller kannst du wieder nach oben." Also meinte sein Vater das ernst. Ich soll wirklich jetzt noch bei den Pferden mithelfen. Wartend, dass ich mich bewege, bleibt er auf der Treppe steht und blickt mir in die Augen. Ich halte seinem Blick stand. Die Luft wirkt wie aufgeladen und langsam fühle ich mich wieder, wie das kleine Kind, dass unbedingt seine extra Kugel Eis haben möchte.
Er wendet seinen Blick ab und schluckt einmal, ehe er die Stufe wieder runter geht und sich seine schwarzen Schuhe anzieht. „Mach was du willst, Lexa. Nur schiebe nachher bitte nicht die Schuld auf mich." Mit diesen Worten schnappt er sich seine Jacke und verschwindet aus der Haustür.
Ich seufze und es fühlt sich so an, als hätte ich die ganze Seite die Luft angehalten. Vielleicht ist dies auch so. Ich bleibe stehen, höre wie in der Küche das Geschirr gespült und gelacht wird. Ich will nicht schuld sein. Ich will keinen Ärger bekommen. Nicht hier. Nicht schon wieder.
Leise, aus Angst, dass sie mich hören könnten, schleiche ich die Treppe wieder runter, schnappe mir meine ausgefransten Schuhe und trete aus der Tür.
Die kühle Luft schlägt mir entgegen und ich bin froh, dass ich mir eben Zöpfe gemacht habe.
Während ich zu dem Stall gehe, aus dem man schon diverse Pferde Geräusche hört, ziehe ich mir meine Schuhe an. Im Stall ist die Luft staubig. Durchzogen von dem Geruch nach Heu und Pferd. Das Typische eben.
„Da ist sie ja", begrüßt mich Noah, dabei ein Pferd führend. „Halt die Klappe, Noah", zische ich und bekomme prompt den Strick von dem Pferd in die Hand gedrückt.
„Auf die Linke Weide", weißt mich er Junge an, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. Die Linke Weide. Die Kleine von Beiden.
Auch wenn ich widersprechen möchte, lasse ich es und ziehe stattdessen das Pferd einfach hinter mir her. Je schneller wir fertig werden, umso besser.
Ich mache das Tor zu der Weide auf, ziehe dem Pferd das Halfter aus und lege dies in eine Kiste, die neben dem Zaun steht, nachdem ich das Tor wieder geschlossen habe.
Mit einem seufzen begebe ich mich wieder zu dem Stall zurück und sehe wie Livia mir schon mit zwei weiteren Pferden entgegenkommt. Sie ist nett. Immer freundlich. Ich habe sie eigentlich noch nie ohne ein Lächeln auf den Lippen gesehen. „Guten Morgen", begrüßt sie mich, was ich nur mit einen nicken und einem aufgesetzten Lächeln erwidere. Tue so als wäre alles normal und keiner stell Fragen. Etwas womit ich jetzt schon lange auskomme.
Insgesamt 11 von den 19 Pferden landen auf der Weide. Also eine kleinere Gruppe heute. Obwohl ich keine Jacke anhabe, ist es nicht so kalt wie ich dachte. Ich merke zwar noch wie sich die Kälte einen Weg durch die Fasern meines Oberteils sucht, aber es ist auszuhalten.
Lustlos trotte ich zum Stall zurück und ich hege die Hoffnung, dass gesagt wird, dass es das war und ich wieder hoch gehen kann. Ich muss mich nicht mit Noah verstehen, auch wenn die Walkers andere Meinung sind.
„Da ist ja unser heutiger Miesepeter wieder", begrüßt mich Livia wieder und wirft mir eine Bürste zu. Dabei deutet sie auf ein Pferd und ich verstehe. Anscheinend bin ich wohl doch noch nicht fertig.
Mein Herz wird von einem Stich durchzogen. Ich weiß, dass jeder so denkt. Oder zumindest die meisten. Es ist ja auch irgendwie mein Plan, dass sich alle von mir verhalten wollen, aber es verletzt mich. Verletzt mich, dass sie wirklich so denken. Bis jetzt habe ich es mir nur so vorstellt. Es zu hören ist noch einmal was anderes.
Ich fange also an das braune Pferd vor mir zu bürsten. Ebenso wie die anderen Beiden, die mit mir hier im Stall stehen. „Ihr wollt heute also wieder zum See", beginnt Livia das Gespräch und guckt dabei vor allem Noah. Wahrscheinlich geht sie davon aus, dass ich nicht mitbekomme. Wäre ja auch ein Wunder, wenn ich hierbleiben dürfte.
Ihre Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden und in ihren Wimpern hat sich Staub vom Stall verfangen. „Ja. Mit Josh, Nayla und Lexa." „Du gehst mit", verwundert, aber freundlich guckt sie mich an. Das hat sie wohl nicht erwartet. „Gezwungenermaßen", gebe ich von mir.
Sie geht nicht weiter auf die Bemerkung ein und denkt sich wahrscheinlich nur ihren Teil. „Dann muss ich ja morgen früh die Pferde ganz alleine fertig machen." Sie täuscht einen Schmollmund vor und tut so, als würde sie sich eine Träne aus dem Auge wischen. Wieso? Noah hilft ihr doch bestimmt. „Meine Eltern helfen dir bestimmt", muntert Noah sie auf.
„Wieso hilfst du ihr nicht?", kommt es aus meinem Mund, schneller als ich denken kann. Verwundert sieht der Junge zu mir rüber. Grade als er anscheinend nachfragen will, wie ich das meine, ändert sich sein Gesichtsausdruck. Von Fragend und verwundert zu verstehend. „Ach stimmt, dass kannst du gar nicht wissen." „Was kann ich nicht wissen?" In solchen Momenten wünsche ich mir, dass ich Gedankenlesen oder eine Augenbraue hochziehen kann. Um meine Verwunderung einfach noch mehr ausdrücken zu können. Einfach nur um es zu können. „Wir übernachten am See."
Super. Schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Man hat ja nichts Besseres zu tun, als mit drei besten Freunden an irgendeinem See zu sitzen und zu warten, bis es endlich morgen wird, damit man wieder weg von ihnen kommt. „Sonst noch irgendwas", hacke ich vorsichtig nach. Angst, dass er sagen könnte, dass die ganze Stufe zu diesem See kommen wird und dass es dann irgendeine verrücke Party dort gibt. Oder dass dort irgendein Ritual durchgeführt wird, damit man in den Freundeskreis aufgenommen wird. Vielleicht gibt es ja ein Blutritual und man wird in eine Sekte aufgenommen.
„Ja. In der Regel gehen wir schwimmen."
Super. Wasser. Nicht, dass ich gegen Wasser etwas habe. Ich mag es. Aber schwimmen? Mit so gut wie fremden Personen? Darauf kann ich gerne verzichten. Aber immerhin besser als eine Sekte.
Ich bemerkt wie Noah mich noch eine Weile anguckt und es sieht so aus, als würde er irgendwas sagen wollen. Aber er tut es nicht und konzentriert sich wieder auf das Pferd, welches vor ihm steht.
Nachdem die Pferde fertig waren, ging alles ganz schnell. Die Gruppe, John und Olivia kamen und dann sind alle weg gewesen. Die Gruppe und die Walkers auf den Ausritt. Livia musste schnell weg, weil sie einen wichtigen Anruf bekam und Noah hat sich zwischenzeitlich irgendwann mit einem Pferd verdrückt.
Jetzt sitze ich hier, auf dem Dach des Wintergartens. Die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Die Weite vor mir. Die Beine sorglos über der Kante. Das Wiehern der Pferde im Hintergrund. Und die Pferdehufe auf dem trockenen Boden des Trainingsplatzes.
Noah wie er zum nächstens Sprung ansetzt und mit dem Pferd über das Hindernis fliegt. Seine Haare fliegen dabei in alle möglichen Richtungen. Wahrscheinlich hat er in seinem Leben nie etwas anderes gemacht. Wahrscheinlich ist er genau so groß geworden. Auf dem Rücken eines Pferdes. Wen wundert es auch. Wenn man an einem Ort lebt, wo es Pferde gibt, wo man nur hinguckt.
„Spring mir bloß nicht da runter."
Ich gucke einmal runter, an meinen Beinen vorbei, die in der Luft schwingen. Höchstens zweieinhalb Meter. „Keine Sorge, dass würde ich überleben", antworte ich dem Jungen, der Mittlerweile schon mit seinem Pferd an dem kleinen Holzzaun steht.
„Ja, aber ich habe keine Lust dich ins Krankenhaus zu fahren und dass dann irgendwie meinen Eltern zu verklickern." „Du hast doch nur Angst, dass du nicht zu deinem See darfst", witzle ich und ich merke wie sich ein Lächeln auf meine Lippen schleicht. Vielleicht soll ich ja doch springen. Dann muss ich wenigstens nicht mit.
Sofort werde ich wieder ernst. Du musst Stark bleiben. Lass keine an dich ran. Sie werden dich sowieso wieder verletzen. Das tun sie immer.
Ich stehe auf und merke, wie Noah meinen Bewegungen folgt. Kurz bevor ich wieder durch das Fenster in mein Zimmer klettere, hält mich der Junge auf. „Ach und Lexa?" Ich drehe mich zu ihm um. Darauf wartend, was er jetzt sagt. Seine Haare hängen ihm klitschnass über die Stirn und ich erkenne die ein oder andere Schweißperle, die sich ihren Weg über das Gesicht sucht. „Fang schon mal an zu Packen. Und irgendwo im Keller müssten noch Zelte und Schlafsäcke sein."
Ohne auf seine Aussage einzugehen, gehe ich nach drinnen und schließe das Fenster. Das Zimmer sieht immer noch so aus, wie ich es heute Morgen verlassen habe. Es sieht sogar noch so aus, wie an meinem ersten Tag. Mit einer Ausnahme. Das Bild von mir und Mason steht nun ohne Glas auf meinem Nachttisch.
°Feedback? Ich weiß, Zeitsprünge sind immer blöd, aber was will man machen?°
Wörter:2332
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top