Kapitel 17: "Das Spiel ist noch nicht vorbei"

Lexa

51 Stunden sitze ich jetzt schon hier. Habe nichts gegessen, nichts getrunken, geweint und nachgedacht und bin noch immer nicht so einem Entschluss gekommen. Die Wolken haben sich schon in der Nacht vor den Mond gezogen und bedecken jetzt die sonst so angenehme morgen Sonne. Der Wind pfeift mir um die Ohren und hätte ich nicht meinen grauen Pullover an, würde ich bestimmt erfrieren. Das noch keine Jäger nach mir suchen, deute ich mal als ein gutes Zeichen. Vielleicht hat er auch nicht mit seinen Eltern geredet. Vielleicht hat er einfach nur geschwiegen. Aber wieso sollte er das machen?

Egal ob er mit jemanden geredet hat oder nicht, eigentlich muss ich mit ihm redet. Ihm den Ernst der Situation erklären, daran ändern kann ich jetzt auch nichts mehr. Ich kann nur noch verhindern, dass er es allen weitersagt. Ich strecke mich und springe mit einem Satz von dem Baum herunter, der irgendwie zu meinem Lieblingsplatz geworden ist. Meine Pfoten führen mich automatisch in Richtung Schule, ohne dass ich groß darüber nachdenken muss. Nebenbei bemerke ich, wie jegliche Tiere mir aus dem Weg gehen. Kein Wunder bei meinem Anblick.

Kurz vor der Stadt verwandle ich mich zurück. Auch wenn es jetzt nur noch zwei Meilen zur Schule sind, versuche ich die Entfernung so langsam wie möglich hinzustrecken. Die Menschen gucken mich komisch an und ich merke verständnislose Blicke in meinem Rücken, aber ich straffe meinen Rücken und gehe mit erhobenem Kinn weiter. Bloß nicht schwach aussehen.

Zeig ihnen nicht, wie es in deinem inneren Aussieht. Aber ich kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie gucken. Meine langen Haare müssen zerzaust und verknotet sein. Mein Pullover ist noch dreckig von dem Staub, den ich nicht abgeklopft bekommen habe. Bestimmt sind meine Augen noch rot unterlaufen und mein Gesicht ist voller Staub. Ich muss aussehen, wie jemand, der drei Tage nicht geduscht hat und im freien geschlafen hat. Was ja auch stimmt, aber das wissen sie nicht.

Alles in meinem Körper schreit danach wegzulaufen. Aber ich muss wissen, ob er es jemanden gesagt hat. Ob ich noch etwas weiterleben kann oder ob ich die Flucht ergreifen muss.

Die Abgase von den Autos steigen mir in die Nase. Die Gerüche von den Menschen steigen mir in die Nase. Von dem Essen. Auch wenn ich Hunger habe, gehe ich unbekümmert weiter. Ich habe schon längere Zeit ohne Essen ausgehalten. Dann schaffe ich die weiteren paar Stunden auch noch. Aber von irgendwoher muss ich mir was zu trinken besorgen.

Meine Beine tragen mich zu dem Schulgebäude und ernüchternd muss ich feststellen, dass grade Pause ist. Das macht es einfacher Noah zu finden. Aber auch sorge ich so für mehr Aufsehen. Vereinzelt sitzen Schüler draußen. Reden oder rauchen. Aber es ist zu kalt, um normal draußen zu sitzen. Möglichst unauffällig versuche ich die Treppe hochzugehen, werde jedoch aufgehalten. „Na wen haben wir denn da. Lässt du dich auch mal wieder blicken." Ein selbstgefälliges Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht und möglichst lässig lehnt er sich an das Geländer. Zumindest versucht er das. „Lass mich in ruhe Will", knurre ich. „Du weißt ganz genau, dass ich dich locker besiegen kann." „Das glaubst aber auch nur du." Er kommt einen Schritt näher. Zu nach. Ich unterdrücke den Reflex nach hinten zu gehen. Da er locker einen Kopf größer ist als ich, muss ich zu ihm Hochblicken.

„Du bist eine Ausgestoßene. Also mach einen Fehler und ich ruiniere dein ganzes Leben. Noch mehr, als es eh schon ruiniert ist." Sein grinsen wird breiter und will mir einmal über die Haare wuscheln, jedoch schlage ich seine Hand gekonnt weg. „Ich hab dir schon einmal gesagt, dass wenn du mich einmal anfasst, deine Hand ab ist. Dieses Versprechen bleibt weiterhin." Ich kneife meine Augen wütend zu schlitzen zusammen und wenn wir hier nicht unter Schülern wären, würde ich ihn sofort angreifen. „Ruhig Tiger. Das Spiel ist noch nicht vorbei." Diese Worte lösen einen Schauer bei mir aus und kurz kann ich mich nicht bewegen. Während Will wieder die Treppe runter geht und sich zu seinen Freunden gesellt, schwirrt nur ein Wort in meinem Kopf rum. Tiger. Tiger. Tiger. Du bist schwach. Ein Monster.

Ehe Will noch einmal auf mich zu gehen kann, flüchte ich in das Gebäude. Meine Hände zittern und nervös spiele ich mit dem Saum meines Oberteils, welches mittlerweile schon ausgefranzt ist. Dank Will habe ich mein Ziel, weshalb ich eigentlich hier bin, aus den Augen verloren. Noah. Wie wird er reagieren. Wird er ängstlich davonrennen? Mich schlagen, weil ich ein Monster bin? Bestimmt wird er mich nicht mit offenen Armen begrüßen, nachdem ich ihn fast gefressen habe.

Je näher ich der Cafeteria komme, desto lauter wird es. Und desto stärker wird auch der Geruch von Essen. Mein Magen fängt an zu knurren, aber gekonnt ignoriere ich es. Es gibt jetzt wichtiges als Essen. Meine Hände werden schwitzig, weshalb ich sie mir nervös an meiner Hose abstreiche. Unauffälliger kann ich ja nicht sein. Auch die anderen Schüler gucken mich im Vorbeigehen an. Ob es jetzt an meinem Aussehen oder Verhalten ist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich beides.

Vor der Cafeteria bleibe ich stehen, atme zitternd ein und trete einen Schritt nach vorne, um in besagten Raum gucken zu können. Ich kann nicht zählen, wie viele Schüler dort sitzen, aber es sind zu viele und es macht mir noch einmal klar, wieso ich mich sonst von der Räumlichkeit fernhalte. Die vielen Geräusche und Düfte strömen auf mich ein, sodass ich nichts Klares daraus entnehmen kann. Dann halt auf die altmodische Weise.

Meine Augen scannen nach für nach den Raum ab, bevor ich James erblicke. Auch er scheint mich ihm Blick zu haben und hat einen verwirrten Gesichtsausdruck. Fragend hebt er die Augenbrauen und formt mit seinen Lippen ein Wort. Wenn der nur wüsste.

Aber wo James sitzt, sitzt auch Noah. Der sich auch kurz danach umdreht, sodass er mich ansieht. Mein Atem bleibt kurz stehen als ich sein Gesicht sehe. Seine Wange ist komisch blau-grün gefärbt. Hat er sich geprügelt? Und wenn ja, weswegen? Ist mein Vater wiederaufgetaucht?

Nervös schreite ich durch die Schülermassen und versuche dabei niemanden groß zu berühren, was gar nicht so leicht ist, wenn alle auf einem Haufen sind. Ich bleibe direkt vor ihm stehen. Seine Augen werden groß und ich spüre den Blick seiner Freunde auf mich. „Können wir reden?", murmle ich und verschlucke dabei den halben Satz. Unsicher, ob er mich überhaupt gehört hat, stehe ich da und starre ihn an. Wechsle zwischen seinen Augen und der Wange hin und her. Versuche seinem intensiven Blick stand zu halten, aber ich aber nicht kann. Ich bin schwach.

„Klar", gibt er nun lauter und deutlicher von sich als ich es getan habe. „Wir sehen uns im Unterricht. Josh? Bringst du meine Sachen weg?", bittet er seinen Freund und steht samt seiner Schultasche auf. Erwartungsvoll sieht er mich an. Ich sollte mich bewegen. Voraus gehen. Es ist doch ein gutes Zeichen, dass er nicht vor Panik wegrennt. Ohne auf die anderen zu achten, nehme ich mir Noahs Wasserflasche von seinem Platz und verlasse fluchtartig den Raum, in der Hoffnung, dass Noah mir folgt. Aber ich traue mich nicht, mich umzugucken. Erst als wir auf dem Gang sind, höre ich Noahs Schritte wieder hinter mir. Mein Herz schlägt schneller. Du willst, dass er dir folgt. „Lexa, jetzt warte doch mal. Nicht so schnell." Ich bleibe stehen und es dauert einige Sekunden, bis er neben mir stehen bleibt. „Danke", murmelt er und streicht sich die Haare zurück. Ich muss mit ihm reden. Aber nicht mitten im Gang. Zu viele Personen, die was mitbekommen können. Da bleibt nur ein Ort über.

Langsam gehe ich wieder los. In den Raum, in dem ich immer meine Pausen verbringe. Fernab von den Schülern, den Lehrpersonal und sonstigen Wesen. Der Raum, der schon seit Wochen wegen Renovierung geschlossen ist. Auch wenn hier in den Pausen nie einer vorbeikommt und der Raum auch nie abgeschlossen ist, suche ich die Gegend ab, bevor ich den kühlen Raum betrete. Nur noch entfernt hört man Schüler, die über die Schule, Mitschüler oder sonstiges Reden.

Ich drehe dich Flasche auf und trinke einige Schlucke. Du kannst dem Gespräch nicht entgehen. Auch wenn du es versuchst. Aber ich brauche das Wasser jetzt. Sonst verdurste ich. Irgendwann stelle ich sie ab und merke, wie noch immer Noahs Blick auf mir ruht. Er ist an die Wand neben der Tür gelehnt, wahrscheinlich um schnell die Flucht ergreifen zu können, wenn er es muss. „Hör auf mit dem Pulli zu spielen, du machst ihn noch kaputt", bemerkt er beiläufig. Ich stocke und starre auf meine Hände. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich ihn weiter ausfranse.

Wie soll ich anfangen? Von vorne? Was muss er überhaupt wissen? Doch nicht alles, oder? Oder soll ich ihm nur das wichtigste Sagen. Vielleicht kauft er es mir ja ab, dass das alles nur ein Traum gewesen ist. Wahrscheinlich eher nicht. Aber statt, dass er etwas sagt, steht er nur da und guckt mir zu, wie ich den Raum auf und ab streife. „Ich weiß, du hast Fragen", murmle ich. „Viele fragen", ergänzt er. Unbeholfen nicke ich.

„Und ich werde versuchen, die Fragen zu beantworten. So wie ich sie dir beantworten kann." „Aber...?" Er starrt mich an. Ich stocke. Aber. „Aber du musst mir eine Frage vorher beantworten." Er verstränkt die Arme und nickt mir in Zeitlupe zu. „Hast du es irgendwem erzählt?" Sein Blick wirkt unverständlich und langsam schüttelt er den Kopf. „Wirklich nicht? Nicht Joshua? Nicht Nayla? Nicht deinen Eltern?" „Niemanden", bestätigt er. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn nur er es weiß und keiner weiß, dass er es weiß, dann könnte doch noch alles gut werden. „Okay, es ist extrem wichtig, dass du es niemanden verrätst, okay? Das ist wirklich, wirklich wichtig", versuche ich ihm verständlich zu machen. Er nickt wieder. Dann haben wir das schonmal geklärt.

„Was bist du? Ich meine jetzt bist du offensichtlich ein Mensch. Aber sonst? Bist du so eine Art Werwolf? Ein Hybrid-Werwolf?" Ich muss auflachen und setze mich auf die Fensterbank. Unverständlich zieht er die Augenbrauen hoch. „Mach dich nicht lächerlich. Es gibt keine Werwölfe, die sich nur zur Hälfe bei Vollmond verwandeln und wenn du gebissen wirst, dann bist du einer von ihnen", kläre ich meinen Lacher auf.

„Also?" „Ich bin ein Anomolis, eine Mischform von Mensch und Tier. Ähnlich wie bei Werwölfen. Aber man wird so geboren. Wir können uns verwandelt, wann immer und wo immer wir wollen", erkläre ich grob und hoffe, dass er es verstanden hat. Erwartungsvoll starrt er mich an. „Also ist es eine Mischform zwischen Mensch und Leopard?", fragt er und sieht mich zweifelnd an. „Nein. Es kommen alle Tiere in Frage, die es auf der Erde gibt", kläre ich. „Also auch eine Zecke?", überlegt er. „Theoretisch, ja", bestätige ich. „Das ist zwar unwahrscheinlich, aber möglich."
„Wieso unwahrscheinlich?" Wie mache ich das jetzt am besten verständlich? „Okay, angenommen, zwei Anomolis kommen zusammen. Eine Zecke und ein Wolf. Wenn die beiden zusammenkommen, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass das Kind ebenfalls ein Wolf wird. Einfach weil der Wolf das stärkere Lebewesen ist. Außerdem ist es so, dass man eine Zecke viel leichter töten kann", erkläre ich und das war definitiv keine gute Erklärung. „Und was wäre, wenn ein Wolf und ein Leopard ein Kind bekommen würden?" „Dann spielen andere Faktoren eine Rolle. Welche, die auch bei dem ersten Beispiel eine Rolle spielen, aber-"

Die Schulklingel ertönt und draußen hört man die ersten Menschen. „Okay wir machen es so, ich gehe jetzt in den Unterricht. Du gehst nach Hause und duschst erstmal. Offiziell bist du heute eh noch krankgemeldet. Also... wir reden heute Nachmittag weiter, ja? Ich schreibe mir so lange noch Fragen auf und versuche alles zu sortieren, okay?", gibt er ehrlich von sich. Und wartet auf eine Reaktion von mir. Langsam nicke ich und er verschwindet durch die Tür. Das lief doch gut. Es hätte schlechter laufen können. Er hätte ausrasten und die Polizei rufen können.

Von draußen hört man, wie die Schüler schnell in ihre Räume gehen, um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen, aber ich bleibe sitzen. Warte bis es ruhig wird und sehe stattdessen zu den halb kahlen Bäumen, dessen Blätter einsam im Wind wehen. Ich glaube er hat recht. Ich sollte erstmal duschen. Und was essen. Und hoffen, dass die Walkers nicht da sind.

Irgendwann stehe ich auf und schlurfe einsam den verlassenen Gang runter. Als ich in den Bus einsteige, nicke ich einmal dem Busfahrer zu und setze mich an meinen üblichen Platz nach hinten. So wie ich es immer tue. Was könnte Noah noch Fragen? Irgendwas über meine Vergangenheit? Dass wird er sich nicht trauen. Oder doch? Momentan kann ich ihn nicht einschätzen.

Nach einer halben Ewigkeit steige ich aus und gehe die letzte Meile zu Fuß weiter. Was soll man auch machen, wenn das Haus komplett abgelegen ist? Was natürlich auch sein Gutes hat. Nachdem ich von drinnen kein einziges Geräusch gehört habe, schließe ich die Tür mit dem Ersatzschlüssel auf, den ich daraufhin wieder unter den Briefkasten klemme. Wieso habe ich den sonst auch immer vergessen. Aus der Küche schnappe ich mir einen Apfel und renne die Treppe hinauf. Besser einen Apfel als nichts.

Gefühl 1000 Stunden später stehe ich verlassen in meinen Raum. Die nassen Haare tropfen auf den Boden und immer noch nervös spiele ich mit meinem Pulli. Wann kommt er endlich? Oder sagt er es doch Joshua? Von draußen scheint die Sonne herein und erleuchtet den Raum. Genau das Gegenteil meiner Stimmung. Ich tigere auf und ab, bleibe immer mal wieder vor dem Spiegel stehen. Wieso nimmt mich das alles so sehr mit? Meine Mutter hatte doch auch kein Problem damit gehabt. Sie hatte ein schönes Leben, also wieso mache ich mir so Gedanken deswegen. Vielleicht weil meine gesamte Zukunft davon abhängt. Vielleicht weil mein Leben davon abhängt.

Draußen geht die Autotür und die Haustüre wird aufgeschlossen. Allein an den Schritten kann ich ausmachen, dass es Noah ist. Es dauert genau 18 Sekunden, bis er sich die Schuhe ausgezogen hat und dann noch einmal 31 Sekunden, bis er die letzte Stufe beschritten hat. Er zögert es hinaus. Ich trete vor die Zimmertür und starre in an. Ihm im Auge behaltend gehe ich ein paar Schritte zurück und setze mich auf das Bett. Er folgt mir und schließt die Türe hinter sich. Bleibt aber stehen und sein Blick schweift durch das Zimmer. Unbeholfen gucke ich ihn an. Was erwartet er von mir? Das ich glücklich durchs Zimmer hüpfe, weil er hier ist.

„Anomolis also. Dann hast du mich das letzte Mal vor den Dingos gerettet?", fängt er an. Ich stocke. Das ist wahr. Aber das würde ich niemals zugeben. „Ich habe dich nicht gerettet, ich habe nur mein Revier verteidigt", lüge ich ihn an, was ihm ein Grinsen entlockt.  



°Feedback? Falls irgendwann keine Kapitel mehr kommen, tut es mir leid, komme so gar nicht zum Schreiben. Was denkt ihr, wie geht es mit Lexa und Will weiter und wie viel wird Lexa Noah erzählen?°

Wörter: 2489

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