Kapitel 1: "Das ist eine lange Geschichte."
Lexa
Still fährt das Auto über die lange Landstraße. Der Motor rattert leise für sich hin und das Radio spielt den nächsten der vielen ersetzbaren Lieder, die man zwar schon irgendwie mal gehört hat, jedoch keinem Namen zuordnen kann. An uns vorbei zieht die schier endlose Weite von nichts. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht aufgeregt und verunsichert bin. Wie gerne würde ich jetzt aus diesem heißen Auto springen und einfach ins nichts laufen. Aber irgendwann kommt dann noch ein Haus, eine Farm, ein Dorf oder eine Stadt. Irgendwann kommt immer was, egal in welche Richtung man laufen würde.
Ich lasse meinen Kopf an die, noch kühle Fensterscheibe, sinken und betrachte die an mir vorbeirauschende Landschaft. Obwohl es Herbst ist, will sich das Wetter einfach nicht beruhigen und so langsam gehen mir die täglichen 28°C auf die Nerven. Und in einem schwarzen Auto ohne Klimaanlage ist dies nicht grade zum Vorteil. Ich will mich aber nicht beschweren. Das Heim ist schon froh, dass sie überhaupt ein Auto haben.
Freue ich mich, dass ich wieder aus dem Heim raus bin? Definitiv. Diese ständige Beobachtung kotzt einen an. Freue ich mich auf meine neue Familie? Nein. Ich muss wieder in eine neue Schule gehen. Muss erklären, was alles in den letzten Jahren passiert ist. Und muss irgendwelche gemeinsamen Aktivitäten mitmachen, damit man sich besser kennen lernt oder damit man Vertrauen aufbauen kann. Nein danke. Habe ich alles schon durch. Mehrmals. „Freust du dich auf deine neue Familie?" Samantha. Oder wie ich sie gerne nenne: Ich-seh-alles-Positiv-Mensch. Sie arbeitet im Heim und hat mich die letzten Jahre begleitet. Ich kenne sie, seitdem ich das erste Mal mit 11 ins Heim gekommen bin. Sie ist zwar etwas zu übermotiviert. Aber wenn sie nicht grade ihr Gefühlt falsches Lächeln aufsetzt, ist sie okay.
Ich drehe meinen Kopf zu ihr, ohne ihn von der Fensterscheibe zu nehmen, antworte jedoch nicht. Ihre dunkelbraunen Haare hat sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden und die Schminke, die sie heute Morgen aufgetragen hat, betonen ihre braunen Augen. Sie trägt ein dunkelblaues Sommerkleid, was ihr gutsteht. Ich muss sagen, dass sie hübsch und mit ihren 32 Jahren noch mitten im Leben ist.
„Ach komm schon Lexa, es wird bestimmt schön. Dir wird es dort gefallen, glaub mir." Ihre Augen huschen kurz zu mir, als ob sie eine Reaktion von mir erwartet, und guckt dann wieder stur auf die Straße. Als sie merkt, dass ich nicht vorhabe zu antworten, fährt sie fort: „Sie haben einen Sohn in deinem Alter, ein schönes großes Haus. Außerdem haben sie Pferde-" „Ja genau. Geschwister und Pferde. Dass was ich mir schon immer gewünscht habe. Außerdem weiß ich das doch schon alles." „Sie hat ihre Stimme wiedergefunden!", jubelt sie, was ich nur mit einem Augenrollen quittieren und meinen Blick wieder auf die Landschaft richte. Unbewusst merke ich, wie sich ein kleines Lächelt auf meine Lippen schleicht.
„Wissen sie von früher?" Bringe ich nach einer gefühlten Ewigkeit die entscheidende Frage zur Sprache. Samantha schweigt und ich zucke leicht zusammen, als das Navi, welches vorne an der Scheibe angebracht ist, anfängt zu sprechen: „Bitte biegen sie die nächste Straße rechts ab." Ein Blick auf das Gerät verrät mir, dass es noch 15 Minuten in dem warmen Auto sind. „Nein, du weißt doch, dass wir darüber nicht viel sagen dürfen ohne dein Einverständnis. Sie wissen nur, dass es damals nicht an dir lag. Ich versteh sowieso nicht, warum du nicht willst, dass jemand davon weiß", antwortet die Frau am Steuer mir schließlich doch. „Es geht einfach niemanden was an", murmle ich. Sie gibt nur einen theatralischen Seufzer von sind. Sie weiß genau, dass es mit mir keinen Sinn hat zu diskutieren. Ich habe meinen eignen Kopf und setze den auch durch.
Familie Walker heißen sie. Die Eltern habe ich schon ein paar Mal getroffen. Am „Kennenlernen Tag", da haben sie eigentlich einen recht netten Eindruck gemacht. Aber der Schein kann trügen. Dies ist jetzt knapp zwei Wochen her und an dem Tag sind sie auch ziemlich im Stress gewesen. „Stadt oder Dorf?", frage ich in die Stille hinein, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. Die Häuser werden dichter und je weiter wir fahren, desto mehr Menschen befinden sich auf den Straßen. „Ein etwas größeres Dorf. Das Haus steht am Rande des Dorfes und es sind nur ein paar Meter bis zu einer Art Wüste oder so." Ich nicke dankend.
Ja ich hasse die Stadt. Ich mag das ruhige. Das mehrere Kilometer weite nichts. Die wenigen Menschen. „Aber die Schule ist der Nachbarstadt. Du wirst mit dem Sohn in eine Stufe gehen das restliche Jahr." Ab Montag super. Heute ist Samstag und die letzten Monate bin ich von einem Heimlehrer unterrichtet worden. Aber nur noch etwas weniger als ein Jahr, dann habe ich es hinter mir. Eigentlich wäre ich dieses Jahr schon fertig geworden, aber irgendwie halten es alle für besser, wenn ich nochmal wiederhole, damit ich mit dem Sohn in einer Stufe bin. Damit wir beste Freunde werden oder so.
Je weiter wir aus dem Dorf herausfahre, desto großer werden die Hause. Das Material aus denen sie bestehen wechselt von langweiligen Stein bis hin zu Holz und das ein oder andere aus Marmor ist auch dabei. Vor ihnen stehen gepflegte Gärten mit Blumen und Büschen und Kinder spielen in ihnen. Ich würde nicht sagen, dass es Villen sind oder die modernsten Häuser, die man je gesehen hat, eher im Gegenteil. Sie sind mittelgroß bis kleiner und sehen eher gemütlich und etwas älter aus. Aber es ist ruhig. Es ist eine angenehme Ruhige. Von weitem hört man einen Hund bellen, vielleicht drei Straßen weiter, für das Menschliche Gehör unhörbar.
Wir biegen in eine kleinere Seitenstraße ein, in der keine Häuser stehen. Vielmehr große Wiesen die von einem Zaun umgeben sind. Auf ihnen stehen vereinzelt Pferde, die in Ruhe grasen und ihr Leben genießen. Wir fahren auf ein weißes Holzhaus zu, was am Ende der Straße steht. Es ist, soweit man erkennen kann, zweistöckig und bei genaueren Hinsehen kann man erkennen, dass der Vorhof mit Kieselsteinen bedeckt ist.
Wir parken neben einem schwarzen größerem PKW. Da ich keine Ahnung von Autos habe, ist mir die Marke ein Rätsel, was ich nicht so schnell vorhabe zu lösen. Mit Autos kenne ich mich genauso wenig aus, wie mit Sport. Ich meine was ist der Sinn dahinter, dass Menschen einem Ball hinterherlaufen, um ihn in ein Tor zu schießen?
Meine Aufmerksamkeit wird wiedererweckt, als ich merke, dass Samantha von ihrem Sitz aufsteht und die Türe zuknallt. Ich mache es ihr gleich und stelle mich neben sie. Ich bin etwas größer als und dabei bin ich noch nicht mal die Größte. Sie ist einfach nur unheimlich klein, aber für sie ist das nie ein Problem und wenn dann doch jemand sie anspricht sagt sie, dass Blumen nur langsamer wachsen als Unkraut. Sie hat den Spruch aus irgendeiner billig Zeitung von der Tankstelle und kann sich seitdem voll und ganz damit identifizieren. Wie gesagt, Positiv Mensch.
Wir holen meine zwei Koffer aus dem Kofferraum und setzen uns in Bewegung. An der Tür angekommen, halten wir kurz inne. Warum weiß ich nicht. „Nervös? Aufgeregt?", fragt die Frau neben mir. Statt zu antworten Klingel ich einfach. Es ist bis jetzt die 5. Familie, zu der ich komme und schlimmer als wie den ersten beiden kann es nicht kommen. Und trotzdem spiele ich unterbewusst nervös mit den Ärmeln meines Pullovers.
Die Tür wird von einer lächelnden Person aufgemacht, die mich sofort in eine Umarmung zieht. Etwas erschrocken bleibe ich stehen und lasse es über mich ergehen. Ich kenne diese Situation. Am Anfang ist alles gut und alle sind freundlich, bis irgendwas passiert und sie dich wieder ins Heim bringen, als wäre man eine Katze, die man nicht mehr haben will. Man wird zu langweilig. Kann ihre Erwartungen nicht mehr erfüllen. Man wird zu teuer.
Kurz darauf löst sie sich von mir und gibt Samantha freundlich die Hand. Sie ist vielleicht 50, hat braune Haare, in denen vereinzelt graue Strähnen auftauchen. Sie hat braune Augen und ist etwas größer als ich. Das ist Olivia Walker. Meine neue Pflegemutter. „Schön, dass ihr da seid. Kommt doch rein. Soll ich beim restlichen Gepäck helfen?" „Ich habe nicht mehr", sage ich monoton. Samantha sieht mich streng an, sagt aber nichts dazu. „So gerne ich auch bleiben würde, ich muss leider wieder los", sagt Samantha freundlich und guckt mich an. „Pass auf dich auf, okay? Und wenn was ist-" „Dann ruf ich dich an, versprochen." Sie nickt zufrieden.
Samantha denkt, sie ist für mich verantwortlich und wenn sie könnte, würde sie mich auch direkt Adoptieren. Aber zum einen hat das Heim da irgendwelche Vorschriften, zum anderen will ihr Freund keine Kinder haben. Sie nimmt mich in den Arm und flüstert mir ins Ohr: „Versucht es wenigstens. Gib ihnen eine Chance." Ich löse mich von ihr und flüstere ironisch zurück: „Die letzten male war es auch alles meine Schuld."
Sie verabschiedet sich nochmal von Olivia und zieht die Tür hinter sich zu. Ich stelle die zwei Koffer neben der Tür ab und lasse mein Blick durch den Raum wandern. Es ist ein kleiner Flur, indem alle möglichen Jacken hängen und Schuhe stehen. Auf der linken Seite führt eine Holztreppe in das obere Stockwerk. Auf einem Regal an der Treppe, liegt eine Schüssel mit Schlüsseln drinnen, neben der zwei Bilder stehen. Auf einem ist Olivia mit einem Mann und einem Jungen. Ich schätze das ist ihr Sohn und ihr Mann. Auf dem anderen sind zwei Hunde zu sehen. Ein Golden Retriever und ein Australien Shepherd. Olivia stellt sich neben mich. „Max", sie zeigt auf den Retriever, „Und Moritz", sie zeigt auf den Shepherd. „Willst du nicht deine Schuhe ausziehen?", fragt sie freundlich.
Da mir nichts Anderes übrigbleibt, ziehe ich sie mir aus und stelle sie zu den anderen. Meine Jacke habe ich im Koffer. Was soll man auch bei den Temperaturen mit einer Jacke machen? „Mein Mann ist grade mit einer Gruppe ausreiten und mein Sohn, Noah, ist bei einem Freund von ihm", erklärt sie mir. Noch einmal betrachte ich das Bild von den dreien. Ihr Mann hat blonde Haare und ebenfalls braune Augen. Ihr Sohn hat zwar braune Haare, aber dafür grüne Augen. Es ist ein älteres Bild. Vielleicht war Noah zu dem Zeitpunkt 9 oder 10, jedenfalls sehen sie glücklich aus. „Wie wäre es, wenn ich essen mache und du solange deine Sachen auspackst", reißt mich Olivia von dem Bild weg und nimmt einen Koffer, den sie die Treppe hochträgt.
Ich gebe mir selber einen Ruck und folge ihr, mit dem anderen Koffer bewaffnet, die Treppe hoch. Die Treppe knarrt bei jedem Schritt, den wir machen, aber ich bin mir nicht sicher, ob Olivia das auch hören kann oder ob das nur mein gutes Gehör ist. Das erste was mir oben ins Auge fällt ist die Helligkeit, die durch das Fenster auf der linken Seite entsteht. Dort hängt außerdem eines dieser hänge Dinger von der Decke, in die man sich reinsetzen kann und an der Wand hängen Regale voll mit Büchern. Aber es sieht keinesfalls unordentlich oder unpassend aus, sondern eher gemütlich.
Die Frau vor mir geht zu einer Tür, die etwas links vor ist, und öffnet sie. „Das ist dein Zimmer. Ich hoffe es gefällt dir... ich wusste nicht was du magst und was nicht", stottert sie etwas nervös. „Es gefällt mir", sage ich ehrlich und gucke sie an. „Das ist schön. Ich geh mal unten Essen machen. Wenn irgendwas ist, komm einfach runter." Und ohne auf eine Antwort zu warten quetscht sie sich zurück in den Flur und geht die Treppe runter. Ich schließe die Tür und lehne mich gegen sie.
Ich öffne meine Augen und der helle Raum öffnet sich mir. Er ist insgesamt in Weiß und Hellbraun eingerichtet mit einer großen Fensterfront mit Fenstersitz an der gegenüberliegenden Wand. Links von mir steht ein großes Bett mit Nachttisch. Vor dem Fenster steht ein Schreibtisch, auf der einen Seite des Fensters ist ein Fenstersitz, der mit Kissen und Decken ausgestattet ist, sodass man sich da gut hinsetzten kann und an der Wand rechts daneben steht ein Kleiderschrank mit großem Spiegel. Ich nehme mir den ersten Koffer und ziehe in zu dem Schrank, wo ich alles ordentlich einsortiere. Bei dem zweiten mache ich genau dasselbe und stelle die drei Bilder, die ich habe, auf das kleine Regal rechts von mir. Dort stelle ich noch die wenigen Bücher, die ich habe, rein und schiebe die leeren Koffer unter das Bett. Meinen Laptop stelle ich auf den Schreibtisch, wobei mir auffällt, dass dort schon mein Stundenplan sowie Schulsachen liegen.
Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass ich mein Zimmer Richtung der Meilen Weiten leere hab und ich durch den Vorsprung des Wintergartens ganz leicht runterklettern kann. Wie für mich gemacht. Unten fällt eine Tür ins Schloss, worauf hin man viele Schritte auf der Treppe hört, die wahrscheinlich von den Hunden kommen. Also ist ihr Mann wieder zurück. Also wird es gleich essen geben. Ich gehe zur Tür und öffne sie, woraufhin hin die Hunde sofort in das Zimmer strömen. Auch steigt mir der Geruch vom fertigen Essen in die Nase, weshalb ich die Hunde kurz streichle, bevor sie auch schon wieder die Treppe runterlaufe und ich beschließe ihnen zu folgen.
Von dem kleinen Durchgang kommt man in einen großen offenen Raum. In der Mitte steht eine kleine Wand, hinter der das Wohnzimmer ist. Links ist die Küche mit dem Esszimmer. An dem Tisch sitzt ein Mann mit einer Zeitung in der Hand, der sehr dem Mann auf dem Bild gleicht. Sie selber steht noch mit einer Schürze um die Hüfte und brät irgendwas. Unsicher ob ich was sagen soll oder nicht, setzte ich mich einfach mit an den gedeckten Esstisch, weshalb beide Personen zu mir gucken.
Ein freundliches Lächeln legt sich auf den Mund ihres Mannes und er streckt mir die Hand entgegen. Ich ergreife sie, lasse mir jedoch meine Unsicherheit nicht anmerken. „John", erinnert er mich. „Schön, dass du endlich hier bist." Ich nicke nur und lasse die Hand wieder los. Seine Frau stellt einen Topf auf den Tisch und setzt sich neben ihren Mann. „Nimm dir doch was. Uns wurde gesagt, dass du Vegetarier bist, ist das richtig?" Ich nicke und nehme mir etwas und ich muss sagen, es riecht köstlich. Nachdem sich die beiden auch was genommen haben, fang ich an zu essen, während die beiden mich beobachten. War klar, dass das kommt. Wundert mich nur, dass es erst jetzt kommt. „Also Lexa", beginnt John unsicher und stochert in seinem Essen rum, „wie kommt es, dass..." „das ich im Heim gelandet bin?", beende ich seinen Satz und er nickt. Ihm ist die Situation sichtlich unangenehm. „Also, im Heim durften sie uns keine Auskunft dazu geben. Also du musst es nicht sagen", versucht seine Frau es zu erklären.
Ich gucke in die braunen Augen vor mir und irgendein kleiner Teil von mir, will es ihnen sagen. Sagen was die letzten Jahre für eine scheiße passiert ist, aber der Rest sträubt sich dagegen. Er ruft mir ins Gedächtnis, dass man auf niemanden zählen kann. Niemanden vertrauen kann, außer sich selbst. Und wieder einmal bin ich an dem Punkt angekommen, wo ich mich frage, ob ich sie in mein Leben lasse. Ob ich ihnen eine Chance geben soll, mir zu beweisen, dass ich ihnen vertrauen kann. Eine Chance, dass sie mich verletzten und noch weiter in den Abgrund stürzen, in dem ich eh schon bin. Und dieses Mal will ich es wirklich durchziehen. Niemanden vertrauen. Niemanden an mich ranlassen. Niemanden ins Herz schließen. In weniger als einem Jahr bin ich eh weg und dann werden sie mich sowieso vergessen.
Da sie mich immer noch beobachten, schüttle ich nur den Kopf und gebe ein: „Das ist eine lange Geschichte" von mir. Damit sind sie zwar sichtlich nicht zufrieden, nehmen es aber hin und wenden sich wieder ihrem Essen zu. Das hier wird definitiv nicht leicht.
°Feedback? Was ist euer erster Eindruck von Lexa?°
Wörter: 2649
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