35 | Konsequenzen
Was soll ich euch sagen? Marten hat minimal übertrieben. Ob das so gut für Nika war....?
Nervös trommelte Nika mit ihren Fingern auf ihrem Oberschenkel herum, während sie ihren Blick starr auf die weiße Tür gerichtet hielt, durch die zwei Sanitäter Paul vor einiger Zeit geschoben hatten. Es war bereits weit nach Mitternacht, doch sie ließen sie noch immer nicht zu ihm. Mittlerweile nagte das schlechte Gewissen an ihr, doch sie wusste noch immer nicht, was sie jetzt tun sollte. Außerdem hatte sie tatsächlich Angst davor, Marten ein weiteres Mal zu begegnen, auch, wenn er sie nie wirklich bedroht hatte. Doch vielleicht änderte sich das ja jetzt, da das Risiko bestand, dass sie vielleicht irgendwann gegen ihn aussagen musste; jedenfalls, wenn Paul Anzeige erstattete.
Sie zog unruhig das Handy aus der Tasche und warf einen Blick auf das Display. Maxwell hatte versucht, sie zurückzurufen. Als er nicht wie verabredet aufgetaucht war, um sie abzuholen, hatte Nika die Puzzleteile zusammengesetzt; er musste mit Marten über alles gesprochen und ihm von seinem Vorhaben erzählt haben. Kurzerhand hatte Marten entschieden, sie abzuholen, statt Maxwell das übernehmen zu lassen; vermutlich, um noch einmal mit ihr zu reden. Doch sie verstand nicht, weshalb. Es war doch klar, dass ihre Beziehung vorbei war; er hatte ihr knallhart ins Gesicht gesagt, dass er sie nur benutzt hatte, jedoch nichts für sie empfand. Warum also hatte er sich die Mühe gemacht, ins Studio zu kommen? Was hatte er damit bezwecken wollen? Er konnte unmöglich glauben, dass sie ihm das verzeihen würde.
Als der behandelnde Arzt aus dem Behandlungszimmer kam, schob sie die Gedanken bei Seite und steckte das Handy wieder weg. Sie sprang auf und lief auf ihn zu. Sie hatten Paul inzwischen geröntgt, doch niemand hatte ihr gesagt, wie stark seine Verletzungen waren.
„Kann ich jetzt zu ihm?"
Sie schaute dem Blonden, sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, erwartungsvoll in seine braunen Augen, die sie misstrauisch musterten.
„Wir bringen ihn gleich auf die Station. Dort können sie zu ihm. Aber ich glaube nicht, dass er mit Ihnen sprechen möchte."
Nika schluckte.
Was hatte Paul dem Arzt erzählt?
„Ich muss wissen, wie es ihm geht", sagte sie.
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen", erwiderte er abweisend, „Bitte warten Sie, bis wir Herrn Kirschner auf die Station gebracht haben."
Mit den Worten ließ er sie stehen. Nika seufzte schwer.
„Auf welche Station?", rief sie dem Arzt frustriert hinterher, doch da war er bereits im nächsten Behandlungszimmer der Notaufnahme verschwunden. Sie atmete tief durch, dann lief sie zum Empfangstresen zurück und legte ihre Unterarme müde darauf ab. Die Blondine auf der anderen Seite musterte sie mit schief gelegtem Kopf. „Können Sie mir sagen, auf welche Station Herr Kirschner gebracht wird?"
Die Zeit zog sich wie Kaugummi, während Nika auf dem Gang der Unfallchirurgie wartete. Als Paul am Ende des Ganges aus dem Aufzug geschoben wurde, sprang sie auf. Auch jetzt, ohne das viele Blut, wirkte sein geschwollenes Gesicht verformt. Sein Arm steckte in einem Gips. Als die Krankenschwester das Zimmer verlassen hatte, warf er Nika einen vernichtenden Blick zu. Sie fragte gar nicht erst, wie er sich fühlte; es war offensichtlich.
„Es tut mir leid", sagte sie hilflos. Paul reagierte nicht.
„Hast du den Ärzten gesagt, was passiert ist?", fragte sie vorsichtig.
Er stieß einen verächtlichen Laut aus. Dabei verzog sich sein Gesicht schmerzverzerrt.
„Das ist deine einzige Sorge, oder? Dass ich deinen Freund verrate?"
Seine Stimme klang seltsam fremd.
„Nein", sagte Nika schnell, „Außerdem ist er nicht mehr mein Freund. Er ist eindeutig zu weit gegangen, ich-"
„Ich will darüber nicht reden", unterbrach er sie kalt.
Sie hielt seinem vorwurfsvollen Blick stand.
„Brauchst du irgendwas? Klamotten oder so?", fragte Nika und trat an sein Bett heran.
„Nein", murmelte er.
„Möchtest du was trinken? Kann ich sonst irgendwas für dich tun?"
Sie hatte das Gefühl, irgendwie wieder gutmachen zu müssen, was Marten ihm angetan hatte.
„Ja", knurrte er. „Mich allein lassen."
Der Wecker riss Nika am nächsten Morgen aus ihrem sowieso unruhigen Schlaf. Die Fragen, ob Paul die Polizei einschalten würde und welche Folgen Martens Kurzschluss-Reaktion für sie und ihn selbst haben würde, hatten sie den Rest der Nacht wachgehalten. Auch jetzt kehrten sie sofort wieder in ihr Gedächtnis zurück.
Sie fuhr sich schwer seufzend durch ihre Haare und schloss ihre Augen erneut, versuchte so, ihre Gedanken zu vertreiben, doch es gelang ihr nicht. Also rollte sie sich irgendwann müde aus dem Bett. Ihr erster Weg führte sie unter die Dusche, doch auch das heiße Wasser konnte sie nicht beruhigen.
Sie hatte sich gerade eine Jogginghose und ein T-Shirt angezogen, als es an der Wohnungstür klopfte. Augenblicklich begannen ihre Finger zu zittern. Sie wusste nicht, ob sie Marten die Tür öffnen sollte; immerhin hatte er gestern Abend völlig die Kontrolle verloren. Es klopfte ein weiteres Mal. Sie strich die Haare aus ihrem Gesicht, dann näherte sie sich unschlüssig der Wohnungstür. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie schließlich den Schlüssel herumdrehte und die Tür einen Spaltbreit öffnete. Als ihr Blick in Martens blaue Augen fiel, schluckte sie unmerklich und das Hämmern des Herzens in ihrer Brust wurde noch stärker. Sie hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, denn ihre Kehle wurde trocken und schnürte sich immer weiter zu. Sie hielt die Türklinke so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Was willst du?", fragte sie abweisend, darauf bedacht, die Tür nicht weiter als nötig zu öffnen.
„Können wir reden?"
Seine Stimme war seltsam weich und seine Gesichtszüge wirkten wie die eines großen, reumütigen Kindes. Er schien genau zu wissen, dass er wieder einmal zu weit gegangen war. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch selbst jetzt erinnerte sie eine innere Stimme daran, dass er scheinbar zu allem fähig war. Er bereute Dinge nur selten. Vielleicht war das jetzt auch nur eine Masche, um sie auf seine Seite zu ziehen, damit sie im Fall einer Anzeige vor Gericht nicht für Paul aussagte. Immerhin hatte er vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal in Untersuchungshaft gesessen und war mit zwei blauen Augen davongekommen. Möglicherweise sah er auch einfach nur seine Felle davonschwimmen und wollte jetzt nur sich selbst retten, denn das Wasser stand ihm wohlmöglich bis zum Hals.
„Es gibt nichts zu reden", kommentierte sie kühl.
„Ich wollte nicht, dass das alles so kommt", räumte er leise ein.
Sein weicher Blick löste ein leichtes Kribbeln in ihrem Bauch aus, doch sie erstsickte es sofort im Keim. Er wusste einfach ganz genau, wie er mit ihr sprechen musste, damit sie weich wurde. Doch nachdem er sie betrogen und jetzt auch noch ihren Chef krankenhausreif geschlagen hatte, war sie endgültig fertig mit ihm.
„Interessiert mich nicht", gab sie so gleichgültig wie möglich zurück.
„Nika", versuchte er, sie aufzuhalten, doch sie brachte ihn mit einem eisigen Blick zum Schweigen.
„Lass mich in Ruhe, okay? Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben."
Mit den Worten drückte sie die Tür ins Schloss. Dann sank sie schwer seufzend mit dem Rücken dagegen. Ihre Finger zitterten und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch ihm gegenüber hatte sie nicht gezeigt, welchen Einfluss er noch immer auf sie hatte. Sie hielt den Atem an und horchte in die Stille hinein, bis die Tür nebenan endlich hinter Marten ins Schloss fiel. Kopfschüttelnd schloss sie für einen Moment die Augen. Wie hatte sie da nur hineingeraten können?
Sie musste unbedingt noch einmal mit Paul sprechen. Auch, wenn er gestern gleich mehrere Grenzen überschritten hatte – Martens Eskalation ließ sich trotzdem nicht rechtfertigen.
Kurz dachte sie darüber nach, Paul einen weiteren Besuch im Krankenhaus abzustatten, doch sie wusste, dass er sie gerade nicht sehen wollte und eine Aussprache heute noch keinen Sinn hatte. Sie würde sich wohl oder übel noch etwas gedulden und bis dahin versuchen müssen, sich mit der Unsicherheit zu arrangieren.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, als sie in der Küche eine Schüssel Magerquark mit Früchten hinunterzwang. Schon in eineinhalb Stunden würde ihre Spätschicht beginnen. Auch, wenn sie eigentlich gestern Abend noch die Entscheidung getroffen hatte, zu kündigen – sie hatte nicht das Gefühl, dass jetzt gerade der richtige Zeitpunkt dafür war. Vielleicht würde es sogar aussehen wie ein Schuldeingeständnis oder ein falsches Signal setzen. Möglicherweise würde es Paul nur dazu ermutigen, vor Gericht zu gehen. Außerdem musste sie zunächst einmal versuchen, die Wogen zu glätten und herausfinden, wie Pauls Version aussah, die er nach außen tragen würde.
Als sie ihr Auto auf dem Parkplatz abstellte, brachen die Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder über sie herein. Sie bemühte sich, Linos durchbohrendem Blick auszuweichen, als sie das Büro betrat. Der dunkelblonde Italiener saß am Schreibtisch, als sie den Mantel auszog. Während sie möglichst unauffällig an ihm vorbeilief, ließ er sie nicht aus den Augen.
„Nika."
Seine Stimme war lang nicht mehr so ernst gewesen. Sie schluckte unmerklich, blieb stehen und wandte ihm ihren Kopf zu.
„Ja?"
„Setz dich."
Sie ließ sich angesichts seiner kühlen Forderung widerstandslos auf den Stuhl ihm gegenüber fallen und musterte ihn erwartungsvoll. Sie wusste genau, dass er sie auf den vergangenen Abend ansprechen würde.
„Was ist los?", tat sie dennoch ahnungslos, um Zeit zu schinden, sich ein paar Gesprächsfetzen zurechtzulegen.
„Du weißt genau, was los ist. Paul liegt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Das kann ich nicht einfach so stehenlassen", kommentierte er kühl. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Denn nichts hätte es auf irgendeine Weise besser gemacht.
„Er hat mir erzählt, dass dein Freund gestern Abend hier gewesen ist", ließ er durchblicken, dass er über die Geschehnisse Bescheid wusste.
„Er ist nicht mehr-", wollte sie ihm gerade mitteilen, dass sie mittlerweile getrennt waren, doch er unterbrach sie.
„Ich habe wirklich versucht, Verständnis dafür aufzubringen, dass du nicht mehr so gut mit Paul auskommst. Aber ihm deinen Freund auf den Hals zu hetzen, ist vollkommen inakzeptabel", fuhr er fort.
„Ich habe ihn ihm nicht auf den Hals gehetzt!", protestierte sie energisch.
„Du solltest das nicht auch noch verteidigen. Paul wird vielleicht lebenslange Folgeschäden davontragen. Ist dir klar, was das bedeutet?"
Ihr Mund wurde trocken, während sich eine unbeschreibliche Hitze in ihrem Körper ausbreitete.
„Ich will das alles auch überhaupt nicht rechtfertigen, aber Paul-"
„Ganz egal, was Paul getan hat – das geht eindeutig zu weit und wir werden das nicht ignorieren", sagte Lino entschieden.
„Was heißt das?", fragte sie nervös.
„Zunächst einmal heißt das, dass du hier nicht länger arbeitest."
Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt, als Lino die Worte aussprach und ihr einen Umschlag über den Tisch schob. Sie wusste auch ohne ihn zu öffnen, dass sich darin ihr Kündigungsschreiben befand. Sie konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich passierte. Auch, wenn sie von sich aus hatte kündigen wollen – dass er ihr zuvorkam, statt sich erst einmal ihre Version anzuhören, machte sie sprachlos.
„Du schmeißt mich raus? Einfach so?!", platzte es fassungslos aus ihr heraus, als sie ihre Worte wiedergefunden hatte.
„Ja, und zwar fristlos."
Ja, irgendwie musste es ja so kommen, nicht wahr? Wie hellotherereadabook schon ganz treffend gesagt hat, wenn, dann richtig. Ich weiss, es war ein Kapitel ohne Marten, aber das ändert sich vielleicht noch mal. Wer weiss :) Wie wünscht ihr euch, dass es weitergeht?
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