23 | Differenzen
Eigentlich sind es zwei Kapitel. Ich habe überlegt, es zu teilen, mich aber dagegen entschieden, denn sonst hättet ihr vielleicht in diesem Kapitel auf Marten verzichten müssen. Da das Kapitel deshalb aber so super lang ist, kann es sein, dass ihr ein paar Tage länger als üblich auf das neue Kapitel warten müsst. :)
„Aber du musst doch zugeben, dass dieser junge Mann mit den vielen Tattoos und einem so unkonventionellen Beruf kein Umgang für dich ist."
Nika seufzte lautlos.
„Ich kann mir vorstellen, dass dich das irritiert hat, aber ich habe mir meine Freunde noch nie nach ihrem Aussehen oder ihrem Job ausgesucht", stellte sie klar.
„Ich möchte dich doch nur vor schlechten Erfahrungen bewahren", sagte Doris.
Nika legte das Handy auf der Anrichte ab und schaltete den Lautsprecher ein, um sich während des Telefonats mit ihrer Mutter um Martens Rührei zu kümmern.
„Selbst, wenn ich mit ihm schlechte Erfahrungen machen würde, wären es meine Erfahrungen, aus denen ich dann für die Zukunft lernen könnte", kommentierte sie und nahm einen Pfannenwender aus der Besteckschublade.
„Ich kann dir wirklich nur davon abraten, dich weiter mit ihm zu treffen. Ein Mann wie der bedeutet immer Ärger, Veronika. Das steht ihm schon ins Gesicht geschrieben", probierte Doris weiterhin, ihren Standpunkt deutlich zu machen.
„Du hast keine Ahnung, wie er ist. Du hast ihn ja nicht einmal richtig kennengelernt", verteidigte sie Marten.
„Du hast Recht. Ich kenne ihn nicht. Aber ich habe Lebenserfahrung", sagte Doris überzeugt.
„Und ich möchte meine eigene Lebenserfahrung sammeln", gab Nika trotzig zurück.
Doris seufzte theatralisch.
„Wieso willst du denn nicht aus der Erfahrung anderer lernen? Es ist nicht immer besonnen, stur zu sein und sein eigenes Ding zu machen."
„Ich finde es auch wirklich schön, dass du mich vor einem Fehler bewahren möchtest. Das zeigt, dass es dir trotz unserer Differenzen wichtig ist, dass es mir gutgeht", räumte Nika ein.
„Aber wieso hörst du denn dann nicht auf mich?", fragte Doris verständnislos.
„Das würde ich vielleicht sogar, aber du hast ihm nicht einmal eine Chance gegeben. Wenn du dir wirklich die Mühe gemacht hättest, hinter die Fassade zu schauen, so wie ich, und dann immer noch der Überzeugung wärst, dass er ein schlechter Mensch ist, wäre das vielleicht eine ganz andere Verhandlungsgrundlage. Meinst du nicht? Aber du hast dich nicht mal bemüht, ihn richtig kennenzulernen. Das ist wirklich sehr schade. Denn er ist wirklich nicht so, wie du es dir in deinen Alpträumen ausmalst."
Ihre Mutter atmete hörbar tief durch.
„Du wirst noch an meine Worte denken."
„Vielleicht. Aber dann bin ich dafür selbst verantwortlich", sagte sie entschieden.
„Wir können ja nächste Woche beim Abendessen noch einmal in Ruhe über alles sprechen", schlug Doris versöhnlich vor.
„Ich habe zu dem Thema alles gesagt. Du hast ihn respektlos behandelt. Das war ziemlich daneben. Ich wünsche mir, dass ihr normal mit meinen Freunden und Bekannten umgeht – vor allem, wenn sie mir am Herzen liegen. Ich benehme mich schließlich auch in Gegenwart eurer Freunde und blamiere euch nicht."
„Ich gebe zu, dass ich etwas übers Ziel hinausgeschossen bin, aber ich habe es wirklich nur gut gemeint."
Nika haderte mit sich. Einerseits benahm sich ihre Mutter zu uneinsichtig, andererseits hasste sie Streit und das Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern war sowieso schon stark vorbelastet. Sie wollte nicht, dass sie eines Tages komplett miteinander brachen.
„Nagut. Wenn ich tatsächlich zum Essen vorbeikomme, lass uns bitte nicht weiter von ihm sprechen, okay? Wir haben da einfach unterschiedliche Ansichten und ich möchte keine weiteren Streitigkeiten."
Sie hatte gerade das Telefonat beendet, da klopfte Marten an der Wohnungstür. Sein kühler Blick beunruhigte sie. Noch immer war sie der festen Überzeugung, dass er ihr etwas verheimlichte.
„Was ist los?", wollte sie wissen, als sie ihn hereinließ.
„Nichts", behauptete er und folgte ihr mit mürrischem Gesichtsausdruck in die Küche.
„Vielleicht hilft es, zu reden", sagte sie sanft, als er auf den Plastikstuhl am Küchentisch fiel.
„Ich bin nicht so", erwiderte er entschieden.
Sie nahm die Pfanne vom Herd, schob das fertige Rührei mit Schinken auf einen Teller und reichte ihn an Marten weiter.
„Aber dafür ist eine Beziehung doch da, oder? Dass man miteinander über alles sprechen kann", sagte sie, schnappte sich ihren Früchtequark und fiel zu ihm an den Tisch.
„So wie du mit mir über Paul redest?", hakte er misstrauisch nach.
Sie zog ertappt die Unterlippe zwischen die Zähne.
„Marten-"
„Jetzt musst du es mir auch nicht mehr sagen", unterbrach er sie entschieden.
„Du verstehst das nicht", sagte sie schuldbewusst.
„Lass uns jetzt nicht davon reden, sonst rege ich mich nur auf", erwiderte er und schaufelte sich etwas Rührei in den Mund. Sie seufzte frustriert.
„Wie du meinst", murmelte sie und schob sich einen Löffel Fruchtquark in den Mund. Einerseits enttäuschte es sie, dass sie ihn vor ihrer Mutter wie eine Löwin verteidigte, er sie aber nach wie vor auf Distanz hielt und nicht bereit war, sich voll und ganz auf diese Beziehung einzulassen. Andererseits war sie selbst nicht besser, denn er hatte Recht. Auch sie verschwieg ihm bewusst Dinge wie ihre Pauls zunehmendes Interesse an ihr oder ihre Schulden. Sie fühlte sich wie eine Heuchlerin, als sie die Doppelmoral ihres Denkens erkannte. Er musterte sie ernst mit schief gelegtem Kopf und ließ dabei das Besteck sinken.
„Ich mache Dinge einfach lieber mit mir selbst aus. Vielleicht erzähle ich es dir wann anders. Okay?", erwiderte er.
Sie senkte den Blick und aß einen weiteren Löffel Fruchtquark.
„Hey..."
Seine Stimme war weich geworden. Als er nach ihrer Hand griff, sah sie wieder in sein Gesicht.
„Das ändert nichts daran, dass ich gern mit dir zusammen bin."
Sie lächelte leicht.
„Es ist einfach schwer für mich, zu wissen, dass dich etwas beschäftigt und dir nicht helfen zu können."
Er strich sanft über ihre Wange.
„Es ist alles okay. Mach dir keine Gedanken", versicherte er ihr, bevor er sie zu sich zog und ihre Lippen mit seinen verschloss. Sie versuchte, sich darauf einzulassen und nicht weiter nachzubohren, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. Stattdessen frühstückte sie mit ihm gemeinsam, räumte anschließend die Küche auf, zog sich um, erledigte ein paar Einkäufe und machte sich anschließend auf den Weg zur Arbeit.
Der Tag verlief ziemlich stressig, denn Paul hatte vergessen, sich um die neue Preisanpassung zu kümmern und sie kurzfristig damit beauftragt, eine Kalkulation aller anfallenden Einnahmen und Ausgaben aufzustellen. Sie brauchte eine ganze Weile, sich die Informationen in Kontoauszügen und Verträgen zusammenzusuchen, doch es gelang ihr, die Übersicht kurz vor Schichtende fertigzustellen; gerade rechtzeitig, als Paul von seinem Auswärtstermin im anderen Studio zurückkam. Er parkte seinen Wagen vor dem Fenster, als sie die Datei abspeicherte und tief durchatmete.
„Und, wie sieht es aus?"
Sie fuhr zu Paul herum, der kurz darauf lässig im Türrahmen des Büros lehnte und sie erwartungsvoll musterte. Dabei fuhr er sich durch die Haare.
„Super, ich bin gerade fertiggeworden", sagte sie und nippte an ihrer Kaffeetasse, die Lotti ihr vor einiger Zeit gebracht hatte. Er machte ein paar Schritte ins Büro, blieb schließlich vor ihr stehen und sah eindringlich in ihr Gesicht. Sie wusste, dass er gleich einen weiteren Versuch starten würde, mit ihr zu flirten.
„Hast du heute schon was vor?", fragte er.
„Ja, aber nicht mit dir", wollte sie antworten, setzte jedoch ein höfliches Lächeln auf.
„Ja, ich muss auch direkt los", sagte sie stattdessen.
„Schade, ich dachte, du hast Lust, was essen zu gehen", antwortete er. „Ich hätte dich gern eingeladen, weil du das so schnell erledigt hast."
„Erstens hast du das Ergebnis noch gar nicht gesehen. Zweitens ist das mein Job. Und drittens fahre ich heute Abend noch nach Bremen", bremste sie ihn und schaltete den Computer aus.
„Was machst du in Bremen?", wollte er wissen und setzte sich ungefragt auf den Schreibtisch.
„Ich treffe dort ein paar Leute", versuchte sie ihren anstehenden Konzertbesuch möglichst vage zu beschreiben, denn sie fand, dass es Paul nichts anging, was sie in ihrer Freizeit tat. Er war in der letzten Zeit sowieso schon viel zu neugierig geworden.
„Macht nichts, dann essen wir eben ein anderes Mal zusammen", grinste er hartnäckig.
In Anbetracht der Tatsache, dass Paul ihr tatsächlich gerade erst eine Gehaltserhöhung genehmigt hatte, wollte sie ihn ungern vor den Kopf stoßen, doch sie würde ganz sicher nicht mit ihm zusammen zu Abend essen. Er schien einfach nicht verstehen zu wollen, dass sie bemüht war, Privates nicht mit Geschäftlichem zu vermischen; ganz egal, wie abweisend sie sich verhielt.
„Versteh mich nicht falsch, aber ich habe einen Freund und möchte deshalb nicht mit dir essen gehen. Du bist mein Chef. Ein echt guter Chef. Aber wir sollten nicht das Berufliche mit dem Privaten vermischen. Und es ist mir wirklich unangenehm, wenn du mir immer wieder Avancen machst", versuchte sie, Paul so vorsichtig wie möglich einen Korb zu geben, während sie aufstand, sich die dunkle Jacke überzog und das Handy in ihrer Jackentasche verschwinden ließ.
„Darüber wollte ich sowieso noch mit dir reden", erwiderte Paul ernst.
Sie hob skeptisch eine Augenbraue.
„Warum?"
„Es geht nicht, dass dein Freund in deiner Arbeitszeit hier herumhängt", stellte er klar. Seine Stimmlage hatte blitzschnell von aufreizend zu verärgert gewechselt.
Sie wusste genau, worauf er anspielte. Sie konnte nicht glauben, dass er den Rest ihrer Aussage – nämlich, dass sie nicht weiter von ihrem Chef angebaggert werden wollte – geflissentlich ignorierte.
„Er hat mich lediglich abgeholt", antwortete sie bemüht gefasst, auch, wenn sie ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre.
„Ja – eine halbe Stunde zu früh. Das geht einfach nicht", sagte er.
„Du hast mir doch selbst angeboten, zu gehen", erinnerte sie ihn.
„Und was, wenn ich dir nicht vorzeitig freigegeben hätte? Dann hätte er an der Theke gesessen und du hättest dich mit ihm unterhalten, statt dich um die Kunden zu kümmern", schlussfolgerte er.
„Vielleicht hätte er dann auch einfach im Auto gewartet", erwiderte sie.
Als sie den Schreibtisch umrundete, beobachtete Paul sie aufmerksam mit Adlersaugen.
„Wenn er dich nochmal abholt, möchte ich, dass er draußen auf dich wartet. Ich will nicht, dass jeder meiner Mitarbeiter seinen Partner hier anschleppt. Für eure Dates habt ihr eure Freizeit."
Nika seufzte lautlos. Es war offensichtlich, dass Marten ihm ein Dorn im Auge war.
„Okay, ich sage es ihm", gab sie trotzdem versöhnlich zurück, um die Situation nicht weiter zu verschärfen. Paul folgte ihr zur Tür, als sie das Büro durchquerte. „Bis übermorgen."
„Nika?"
Sie schloss lautlos seufzend die Augen, bevor sie noch einmal zu ihm herumfuhr.
„Ja?"
„Ich kann deine Schicht am Sonntag doch nicht übernehmen."
Sie bemühte sich, sich ihre Wut über seine plötzliche Planänderung nicht anmerken zu lassen. Schließlich wusste er, dass sie einen freien Sonntag gebraucht hatte. Es war offensichtlich, dass er jetzt nur zurückruderte, weil sie auf seine Einladung zum Essen nicht angesprungen war, er Marten nicht leiden konnte und sie ihn gerade höflich in seine Schranken gewiesen hatte.
„Macht nichts. Vielleicht kann Christian ja spontan für mich einspringen", sagte sie dennoch freundlich, auch, wenn sie gerade wirklich mit dem Gedanken spielte, Paul eigenhändig zu beseitigen.
„Ich finde, er hat schon genug Wochenend-Schichten übernommen. Ich als dein Chef möchte, dass du dich einfach an deinen regulären Dienstplan hältst, damit wir weniger hin- und hertauschen müssen. Alles andere sorgt nur für Chaos."
Mit den Worten drückte Paul sich mit mürrischem Gesichtsausdruck an ihr vorbei und ließ sie stehen. Es war klar, dass er und sein gekränktes Männer-Ego sie jetzt absichtlich an seine Autorität erinnerte, um seine Ansage zu untermauern. Er schlug sie praktisch mit ihren eigenen Waffen – und sie musste das akzeptieren, wenn sie wollte, dass er sie ernst nahm und keinen weiteren Versuch startete, bei ihr zu landen. Sie bemühte sich, die Hitze, die in seinem Körper vor lauter Wut aufstieg, zu ignorieren, schnappte sich ihre Sachen und machte sich auf den Weg nach Hause. Doch Pauls Art brachte sie so in Rage, dass sie die gesamte Fahrt über andere Autofahrer aufgrund ihres Fahrstils bepöbelte, ihren Chef verfluchte und sogar mit dem Gedanken spielte, sich doch in anderen Studios zu bewerben. So konnte das auf Dauer jedenfalls nicht weitergehen.
Als sie kurz darauf nach Hause kam, war ihr Zorn noch nicht verraucht. Pauls Interesse für sie hatte augenscheinlich Potential, zu einem echten Problem zu werden. Auch, wenn es riskant war, musste sie endlich mit Marten darüber sprechen. Schließlich führten sie jetzt so etwas wie eine richtige Beziehung und wenn sie von ihm Offenheit erwartete, musste sie diese auf jeden Fall selbst aufbringen.
Der Entschluss, es miteinander zu versuchen, lag bereits zwei Monate zurück, doch noch immer konnte sie nur schwer definieren, was genau das zwischen ihnen eigentlich war. Er war wirklich schwierig; dickköpfig, uneinsichtig und oft empathielos, doch trotz seiner eigenen Art hatte er auch eine weniger raue Seite. Seine Ratschläge waren meist etwas zu radikal für ihren Geschmack, doch er setzte sich tatsächlich mit den Dingen auseinander, die sie betrafen, und ihr tat das gut.
Sie schob die Wut auf Paul zur Seite, als sie Martens Wohnung betrat. Sie hatte ihm angeboten, zu kochen, und er hatte das Angebot angenommen. Während sie das Essen zubereitete, lag er im Wohnzimmer auf der Couch und zockte. Irgendwie fühlte es sich mit ihm tatsächlich wie das typische Pärchen-Leben an. Nach dem gemeinsamen Essen begann sie damit, die Küche aufzuräumen. Er stand etwas unbeteiligt daneben.
„Gehst du noch eine Runde mit Chopper, bevor wir fahren?", fragte sie und schob ein paar Essensreste von seinem Teller in den Mülleimer.
„Wieso wir?"
Sie fuhr irritiert zu ihm herum.
„Willst du doch nicht nach Bremen?"
„Doch. Aber was willst du da?"
„Maxwell hat mich eingeladen, also bin ich davon ausgegangen, dass wir zusammen dort hingehen", sagte sie leichthin und räumte den Teller in die Spülmaschine.
„Mir egal, ob er dich eingeladen hat. Ich fahre allein."
Seine Stimme war kühl und duldete keinen Widerspruch. Als sie sich erneut zu ihm umdrehte, war sein Blick düster geworden.
„Wieso das denn?", wollte sie wissen.
„Weil du da nichts verloren hast", stellte er entschieden klar.
„Wo ist dein Problem?", fragte sie und verschränkte gereizt die Arme vor der Brust.
„Ich habe kein Problem. Du hast dort einfach nichts zu suchen. Du hörst nicht mal die Musik", gab er kühl zurück und spiegelte ihre abweisende Körperhaltung.
„Nein, ich höre die Musik tatsächlich nicht. Aber Maxwell hat mich selbst gefragt, ob ich sein Konzert besuche und ich habe ihn noch nie live gesehen", erklärte sie bemüht geduldig, doch Marten ließ sich auch davon nicht beeindrucken. Stattdessen musterte er sie mit seinem gewohnt ernst-distanzierten Gesichtsausdruck.
„Wie alt bist du? Fünfzehn?"
„Alt genug jedenfalls, um selbst zu entscheiden, wo ich hingehe und wo nicht. Von dir lasse ich mir das also sicher nicht verbieten", erwiderte sie entschieden, nahm die volle Mülltüte aus dem Eimer und drückte sich genervt an Marten vorbei. Er umschloss ihr Handgelenk und zog sie zu sich zurück.
„Ich meine es ernst, Nika. Du hast da nichts zu suchen. Ich will dich da heute Abend nicht sehen, verstanden?", knurrte er und schaute dabei eindringlich von oben auf sie herab. Seine Art, über ihr Leben zu entscheiden, erinnerte sie an ihren Vater. Gerade deshalb traf er damit einen wunden Punkt bei ihr. Sie hielt seinem Blick stand, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, diese Diskussion weiterzuführen; nicht jetzt. Es war einer dieser Momente, in dem sie ihn besser nicht unnötig reizte.
Anfangs hatte sie wirklich ihre Probleme damit gehabt, herauszufinden, wann der günstigste Zeitpunkt für Diskussionen oder Auseinandersetzungen mit ihm war, doch mittlerweile hatte sie ein gutes Gespür dafür entwickelt. Sie entschied sich dazu, das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt fortzusetzen, und drückte ihm stattdessen die volle Mülltüte an die Brust.
„Hier. Bring das runter", forderte sie, schließlich war es sein Müll.
Als er tatsächlich mit der Mülltüte im Flur verschwand, atmete sie schwer aus und fuhr sich durch ihre blonden Haare. Er schlüpfte in ein Paar Sneakers, schnappte sich die Hundeleine und rief nach Chopper, bevor er sie schließlich in seiner Wohnung allein ließ.
Sie schaute ihm nachdenklich hinterher. Warum war es für ihn so ein Problem, wenn sie Maxwell und die anderen Jungs auf einem ihrer Konzerte besuchte? Sie würde sich dort nicht danebenbenehmen, sondern einfach nur die Show anschauen, zu der Maxwell sie eingeladen hatte.
Sie versuchte, ihre Wut herunterzuschlucken, und begann damit, die Küche aufzuräumen. Dabei fiel ihr Blick aus dem Fenster. Marten hatte gerade die Mülltüte entsorgt und lief mit Chopper die Straße entlang. Sie hasste es, wenn er sich so verhielt. Er hatte keine Lust darauf, diese Diskussion fortzusetzen, also ging er ihr einfach aus dem Weg. Vielleicht war das aber auch einfach nur seine Art, einer Eskalation vorzubeugen.
Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen Blick auf das Display und lächelte. Sie hatte schon ein paar Tage nichts von Janet gehört, freute sich jedoch, dass sie sich endlich zurückmeldete. Sie schob ihren vergangenen Streit mit Marten gedanklich zur Seite und nahm den Anruf entgegen.
„Hey", begrüßte sie ihre Freundin fröhlich.
„Hey."
Es tat gut, Janets Stimme endlich wiederzuhören.
„Alles gut? Passt es gerade? Sonst rufe ich später wieder an", sagte Janet.
Sie lächelte, ließ sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen und machte es sich gemütlich.
„Nein, es passt super. Wie geht's dir?", erkundigte sie sich.
„Wieder besser. Ich war ganz schön fies erkältet in den letzten Tagen. Und dir?", wollte Janet wissen.
„Ganz gut. Soweit läuft alles", verschwieg sie bewusst ihre Auseinandersetzung mit Marten.
„Schön. Also hast du inzwischen dein Geld bekommen?"
„Ja, Gott sei Dank!", antwortete Nika erleichtert.
„Also hast du jetzt alle offenen Rechnungen abbezahlt?", hakte Janet nach.
Sie seufzte.
„Schön wär's. Ich muss immer noch die Möbel abbezahlen. Und mein Laptop ist kaputtgegangen. Marten hat ihn für mich weggebracht. Das wird bestimmt nicht günstig. Aber den brauche ich einfach für meine Selbstständigkeit."
„Marten hat ihn für dich weggebracht", wiederholte Janet amüsiert.
„Was? Er hilft mir wirklich oft", verteidigte Nika ihn lächelnd.
„Mittlerweile kann ich ihn genauso schlecht einschätzen wie du", räumte Janet ein.
Nika wusste genau, was sie meinte.
„Mich macht das wirklich verrückt; manchmal habe ich das Gefühl, wir sind auf einem guten Weg, doch dann verhält er sich wieder wie ein Elefant im Porzellanladen", gab Nika zu.
„Bist du sicher, dass du nicht doch zu viel in die Dinge hineininterpretierst?", fragte Janet nachdenklich.
Sie atmete schwer.
„Ich weiß nicht; auch, wenn er manchmal unberechenbar und launisch ist, gibt er mir ein gutes Gefühl, und das ist doch das, was zählt, oder? Erst vor ein paar Tagen hatte ich wieder so ein unschönes Gespräch mit meiner Mutter, aber er hat mir den Rücken gestärkt und mir gesagt, dass ich mich davon nicht so runterziehen lassen soll", antwortete sie.
„Also seid ihr jetzt tatsächlich ein richtiges Paar?", wollte Janet wissen.
„Wir verhalten uns zumindest oft wie eins", entgegnete sie in Erinnerung an die vorangegangene Diskussion.
„So pärchen-mäßig, dass du ihn deiner Familie vorstellen würdest?"
Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt bei dem Gedanken. Die erste Begegnung zwischen Marten und Doris war schon unangenehm genug verlaufen.
„Meine Mutter hat ihn schon kennengelernt. War jetzt nicht das harmonischste Gespräch."
„Du hast ihn wirklich deiner Mutter vorgestellt?", platzte es aus Janet heraus.
„Eher ungeplant. Er stand zufällig ausgerechnet dann vor der Tür, als sie zu Besuch war. Er hat sich auch nicht als mein Freund, sondern als mein Nachbar vorgestellt. Aber sie war trotzdem ziemlich schockiert", schmunzelte sie.
„Also weiß sie nicht, dass ihr zusammen seid?"
„Nein. Ich glaube, dafür sind sie noch lang nicht bereit. Ich wüsste auch gar nicht, wie genau ich ihn ihnen vorstellen sollte. ,Das ist Marten, mein heißer Nachbar, mit dem ich regelmäßig Sex habe'?", antwortete Nika.
Janet lachte.
„Nein, im Ernst, ich denke, ihn in meiner momentanen Situation meinen Eltern als meinen Freund vorzustellen, würde unsere Differenzen nur verschärfen", fuhr Nika fort.
„Also hast du ihnen vermutlich noch immer nicht von deinen Schulden erzählt?"
Nika schüttelte den Kopf, auch, wenn Janet sie nicht sehen konnte.
„Nein, und gerade klappt ja auch alles besser und ich kann nach und nach alles abbezahlen. Außerdem könnte ich ihnen Marten sonst noch viel weniger vorstellen; die fallen doch tot um, wenn sie erfahren, dass ihre Tochter sich nicht nur hoch verschuldet hat, sondern sich darüber hinaus auch noch mit einem volltätowierten Kampfsportler aus dem Nachtleben trifft. Meine Mutter würde vielleicht noch glauben, er würde mir das Geld vorstrecken und ich müsste es ihm in Naturalien zurückzahlen – oder ich würde für ihn anschaffen gehen. Das Risiko möchte ich doch lieber nicht eingehen."
Sie erschrak, als Chopper zu ihr auf die Couch sprang. Kurz darauf fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie war so vertieft in ihr Telefonat mit Janet gewesen, sie hatte den Schlüssel in der Tür gar nicht gehört. Ob er die letzten Gesprächsfetzen mitbekommen hatte?
„Klingt, als wäre es wirklich besser, das erstmal zu lassen", hörte sie Janet sagen.
Als Marten im Türrahmen auftauchte und sie mit seinem typisch unergründlichen Gesichtsausdruck musterte, breitete sich eine innere Unruhe in ihr aus.
„Du, ich muss kurz auflegen. Ich rufe dich gleich nochmal zurück", sagte sie nervös und warf einen sorgenvollen Blick in Martens Gesicht. Hatte er tatsächlich gehört, was sie zu Janet gesagt hatte? Oder war er einfach nur noch immer wütend wegen ihrer vorangegangenen Diskussion über Nikas Konzertbesuch?
„Okay, ich bin zuhause. Meld dich einfach", erwiderte Janet, dann beendeten sie das Telefonat.
Marten stand noch immer im Türrahmen und bewegte sich nicht. Er schaute einfach nur prüfend in ihre Augen, so, als erwarte er von ihr, dass sie etwas sagte.
„Hast du dich wieder eingekriegt?", versuchte sie, die ihr unangenehme Situation zu überspielen und dabei von sich selbst abzulenken. Doch Marten hielt seinen durchbohrenden Blick weiterhin auf sie gerichtet und hob unbeeindruckt eine Augenbraue.
„Du hast Schulden?"
Ich weiß. Mieser Cut. Glaubt ihr, er hat noch mehr von ihrem Gespräch belauscht? Und was denkt ihr, wie er reagiert?
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