01 | Nika

Meine Tulpen. Herzlich Willkommen zu meiner Geschichte. Aus gegebenem Anlass  und experimentellen  Gründen der Re-Upload für eine andere Kategorie. 

Schwer seufzend stellte Nika den schweren Umzugskarton auf den Laminatfußboden im Flur ihrer neuen Wohnung. Sie hasste Umzüge und konnte sich durchaus coolere Gestaltungsmöglichkeiten für ihren Urlaub vorstellen. Als Studioleitung eines Fitness-Studios hatte sie nicht viel Jahresurlaub. Umso mehr tat es ihr im Herzen weh, dass sie nicht mit ihrer besten Freundin Janet nach Sardinien fliegen konnte. Stattdessen hatte sie sich nur ein paar Tage für den Umzug freinehmen können.

„Ich schätze, nur noch einmal laufen."

Nika fuhr zu Josh herum, der mit einem großen Umzugskarton bepackt hinter ihr im Flur stand. Seit er angefangen hatte, sich mit dem Thema Fitness zu beschäftigen, war Josh ziemlich in die Breite gegangen. Nika hatte ihm den Spitznamen „Beachboy" verpasst, denn er war blond, blauäugig, braun gebrannt, groß und vor allem muskulös. Sie war ihm unendlich dankbar, dass er ihr beim Umzug half. Ohne ihn wäre sie restlos aufgeschmissen. Ihre wenigen Freundinnen hatten sich bisher nicht blicken lassen.

„Super, ich habe nämlich langsam die Schnauze voll", erwiderte sie und drückte sich an Josh vorbei ins Treppenhaus. Ihr Bruder folgte ihr die Stufen hinunter. „Du besitzt aber auch einfach unglaublich viel Scheiße, Nika. Die Hälfte davon hättest du sicher schon zwanzig Mal wegwerfen können", kommentierte er trocken, als sie ins Freie traten. Das Mehrfamilienhaus lag in einer Seitenstraße eines ruhigen Wohnviertels. Hinter dem Haus erstreckte sich ein kleiner, grüner Park mit hohen Laubbäumen. Im Sommer würde sie sicher oft auf der Wiese liegen und in einem Buch schmökern, denn ihr winziger Balkon würde sicher kaum Sonne abbekommen.

Josh erreichte den großen Sprinter als Erstes und zog die letzten beiden Kisten nach vorn. Eine davon reichte er seiner Schwester, die andere trug er selbst. Die Blondine folgte ihm wieder zurück ins Treppenhaus.

„Das nächste Mal bestehe ich vielleicht doch auf einen Aufzug", kommentierte sie, als sie den schweren Karton die Treppe hinauf schleppte. Ihr Bruder war bereits wieder in ihrer Wohnung angekommen, als Nika die letzten Stufen erreichte. Doch dann öffnete sich die untere Seite des Kartons mit einem reißenden Geräusch und der Inhalt krachte auf den gefliesten Boden unter ihr. All ihre Kosmetikartikel verteilten sich im Treppenhaus. Haarspray, Duschgel, Shampoo-Flaschen, verschiedene Cremes und Make-Up-Artikel kullerten an ihr vorbei, teilweise die Treppe wieder hinunter.

„Verhurte Dreckscheiße!", fluchte Nika und blickte fassungslos von oben durch den Karton auf den Fußboden, bevor sie ihn wieder notdürftig zusammenflickte.

„Du weißt definitiv, wie man einen guten Eindruck bei den neuen Nachbarn hinterlässt", kommentierte Josh trocken. Sie grinste in sich hinein, denn ihr war bewusst, dass sie nicht perfekt war. Sie war stur, dickköpfig und launisch. Außerdem ließ sie sich von niemandem etwas sagen, nicht einmal von Lino und Paul, den beiden Chefs des Fitness-Studios, das sie leitete. Doch sie hatte auch gute Eigenschaften; sie war treu, loyal und abenteuerlustig. Trotzdem war sie vielen zu direkt und eckte häufig damit an, dass sie ihr Herz auf der Zunge trug.

„Fick dich, Josh!", gab sie zurück, während sie ihre Sachen wieder aufhob und in den reparierten Karton zurückwarf.

Sie atmete lautlos durch, als sie leise Schritte hinter sich hörte, die gerade die Treppe hinaufkamen. Vermutlich hatte Josh Recht und sie war gerade dabei, ihren zukünftigen Nachbarn ihre beste Seite zu präsentieren. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Hand, die ihr eine Flasche Haarspray reichte und griff danach, ohne aufzuschauen. „Danke", murmelte sie. „Bitte."

Sofort hielt sie in ihrer Bewegung inne und fuhr überrascht herum.

Er war es tatsächlich.

Schokoladiger Teint, dunkle, akkurat rasierte Afro-Frisur, braune Augen. Ihr eben noch genervter Gesichtsausdruck wich einem ungläubigen Lächeln. Wie viele Jahre war das jetzt her? Sie wusste es nicht. Es mussten um die sechs oder sieben sein.

Nach der Schulzeit, in der sie wie Geschwister zusammengewachsen waren, hatten sie sich trotz aller guter Vorsätze aus den Augen verloren. Seit seinem Erfolg als Rapper hatte er sich immer seltener bei ihr gemeldet, bis der Kontakt schließlich komplett abgerissen war. Doch auch ihr Interesse daran, die Freundschaft zu pflegen, war durch ihren eifersüchtigen Exfreund immer mehr verloren gegangen. Er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihr vorzuhalten, dass ihr einstiger bester Freund jetzt ein anderes Leben lebte und sie darin keinen Platz mehr hatte. Am Anfang hatte es Nika das Herz gebrochen, doch irgendwann hatte sie es eingesehen und akzeptiert.

Dass Maxwell jetzt völlig unverhofft nach all den Jahren wieder vor ihr stand, ließ sie all diese schlechten Erinnerungen vergessen. Als sie sich im Braun seiner Augen verlor, schien es, als hätten die Jahre ohne ihn gar nicht existiert. Er sah gut aus, nur ein wenig erwachsener als damals. Inzwischen trug er scheinbar coole Coogi-Sweater, überteuerten Schmuck und einen Bart.

„Maxwell!", platzte es fast schon euphorisch aus ihr heraus, während sie sich hektisch erhob und dabei beinah mit ihm zusammenstieß.

„Nika!"

Ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie ihn nach all der Zeit begrüßen sollte, schloss er sie überschwänglich in seine Arme. Dann löste er sich von ihr und betrachtete sie.

„Gut siehst du aus", sagte er. Sie musterte ihn skeptisch. So gutaussehend fühlte sie sich gerade gar nicht. Sie trug irgendein asymmetrisch geschnittenes Shirt mit Snipes-Aufdruck und eine Nike-Leggings, war ungeschminkt und ihre langen, blonden Haare fielen offen über ihre Schultern.

„Mensch, wie geht's dir?", fragte sie und versuchte, von ihrem – in ihren Augen eher unspektakulären – Selbst abzulenken.

„Gut, und dir?", erkundigte er sich.

„Gerade etwas stressig, aber mir sonst geht's mir prima", erklärte sie und deutete auf den geflickten Umzugskarton.

„Ziehst du hier ein?", fragte er.

„Nee, ich arbeite bei nem Umzugsunternehmen", erwiderte sie trocken.

Maxwell lachte auf.

„Cool, dann kann ich dir schon mal einen deiner Nachbarn vorstellen. Nika, das ist Marten."

Erst jetzt bemerkte sie ihn – den noch größeren Typen mit den rotblonden Haaren, dem markanten Gesicht und dem Dreitagebart. Er wirkte durch die Tattoos an Hals und Händen irgendwie bedrohlich auf sie, stand etwas abseits und musterte sie durchdringend aus seinen blauen Augen.

„Hi", begrüßte sie ihn und reichte ihm kurz ihre Hand. Dabei fiel ihr Blick auf die tätowierten Finger. Mit ihm wollte sie sich auf jeden Fall nicht anlegen, also schenkte sie ihm ein Lächeln und hielt seinem Blick stand. Er erwiderte es und wirkte sofort sympathischer. Nein, nahezu heiß.

„Hey, Maxwell, alles klar?"

Inzwischen hatte es auch Josh wieder in den Flur geschafft. Ein breites Grinsen bildete sich auf Maxwells Lippen, als er ihren Bruder begrüßte.

„Ja, Digga, und bei dir?"

„Soweit bei so einer Schwester alles klar sein kann."

Nika stöhnte genervt und drückte Josh den geflickten Karton in die Hand. Dann schob sie sich an ihm vorbei in ihre noch ziemlich chaotische Wohnung.

„Ihr könnt ruhig reinkommen, wenn ihr wollt", forderte sie Maxwell und Marten auf, die ihr in den kleinen, frisch gestrichenen Flur ihrer Wohnung folgten. Gegenüber der Wohnungstür lag die Küche, rechts davon befand sich das Wohnzimmer mit angrenzendem Mini-Balkon, auf dem zwei Plastikstühle Platz gefunden hatten. Links vom Flur gingen das kleine Schlafzimmer und das kleine, fensterlose Bad mit Badewanne ab. Nika führte die Jungs in ihr bisher spärlich eingerichtetes Wohnzimmer, in dem sich außer einer hellen Couch lediglich eine Wohnlandschaft, bestehend aus einem Sideboard und einem Regal, befand.

„Setzt euch doch. Ich hole euch etwas zu trinken", sagte sie und verschwand kurz in der Küche. Dort nahm sie zwei Gläser aus einem der Oberschränke, schnappte sich eine Flasche Cola und kehrte zu den anderen ins Wohnzimmer zurück. Dort übergab sie die Gläser und die Flasche an Maxwell.

„Kommst du erst mal allein klar? Ich muss den Sprinter zurückbringen", riss Joshs Stimme sie aus den Gedanken. Der blonde Sunnyboy musterte sie lächelnd. „Ja, alles cool, wir telefonieren einfach später. Danke erstmal, dass du mir überhaupt geholfen hast."

Josh zog seine kleine Schwester in die Arme und drückte sie kurz an sich.

„Kein Ding", sagte er, löste sich von ihr und verabschiedete sich mit einem Handschlag von Maxwell und Marten. „Ich ruf dich an", sagte er und verschwand. Sie blieb mit den beiden Jungs allein zurück.

Sie hatte Maxwell so lang nicht gesehen, dass sie sich unglaublich viel zu erzählen hatten. Marten saß größtenteils schweigend daneben, während sie Maxwell von ihrer Ausbildung erzählte, und davon, wie sie schließlich Studioleitung geworden war. Maxwell sprach von seiner Zeit mit und ohne die 187 Straßenbande. Er war noch immer derselbe verrückte Typ von früher, aber im Herzen ein guter Mensch. Nika freute es zu hören, dass er seinen Weg und ein paar coole Jungs gefunden hatte, mit denen er all diese verrückten Dinge teilen konnte, die er erlebte.

Über Marten, den geheimnisvollen Nachbarn, erfuhr sie allerdings ziemlich wenig. Wenn, dann trug er ein paar Sprüche zu Maxwells Anekdoten bei, doch über sich selbst schwieg er konsequent. Nur hin und wieder fing er einen von Nikas neugierigen Blicken auf. Für sie war er ein Mysterium. Sie hatte das Gefühl, an seinen geheimnisvollen Augen abzuprallen. Vielleicht war er aber auch einfach nur nicht daran interessiert, sich weiter mit ihr zu beschäftigen. Er wirkte jedenfalls nicht so. Sie vermutete, dass er von Weibern vollkommen übersättigt und deshalb abgestumpft war.

Irgendwann verabschiedete er sich schließlich und ließ die beiden allein. Kaum war die Tür hinter Marten ins Schloss gefallen, veränderte sich Maxwells bisher so ausgelassener Blick. Er musterte sie reumütig.

„Ich weiß, ich habe mich wie ein Arschloch verhalten. Es war nicht cool, dass ich dich nicht mehr angerufen hab'", sagte er überraschend. Seine Worte trafen sie mitten ins Herz. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihre Enttäuschung noch so tief sitzen würde.

„Passiert ist passiert", sagte sie, schließlich war sie selbst nicht ganz unschuldig an der Situation. Sie hatte sich auch irgendwann nicht mehr gemeldet.

„Ich war einfach so geflasht von diesem Film, auf dem wir alle waren. Plötzlich kamen Mädchen zu mir und wollten Fotos mit mir machen, andere wollten meine Nummer. Leute haben mich auf der Straße erkannt, völlig fremde Menschen, die ich noch nie vorher in meinem Leben gesehen habe", versuchte Maxwell trotzdem, sich zu erklären.

„Und da hast du unsere Freundschaft vergessen", stellte sie leise fest.

Er seufzte.

„Nein, aber ich hatte einfach keine Zeit mehr, mich darum zu kümmern. Ich war auf einmal nur noch unterwegs und mein Leben ist wie ein Film an mir vorbeigelaufen. Ich bin immer noch dabei, das alles zu realisieren. Ich habe oft daran gedacht, dich anzurufen, aber als ich es dann endlich gemacht habe, hattest du eine neue Nummer."

Nika starrte ihn wütend an.

„Was ist mit Facebook, du Arschloch? Oder Instagram? Oder Snapdings?"

Er lachte auf.

„Was?!", fauchte sie.

„Du meinst Snapchat", korrigierte er sie grinsend.

„Mir doch egal!", erwiderte sie und schlug mit ihrer Faust gegen seinen Oberarm.

„Du bist nicht mal mit deinem echten Namen bei Facebook, Digga! Ich hab dich gesucht, aber nie gefunden. Was weiß ich, welchen Fantasienamen du dir bei Instagram gemacht hast."

„Nikalinchen", murmelte sie leise.

Maxwell schmunzelte, wurde dann jedoch ernst.

„Du hast Recht, okay?", räumte er ernst ein, „Es tut mir leid. Ich habe einen Fehler gemacht. Aber du hättest dich auch melden können."

Nika erwiderte seinen anklagenden Blick.

„Damit ich mir gebe, dass du mir auf deinem Höhenflug nicht zurückschreibst? Davor hatte ich einfach zu viel Angst. Ich habe mich schon schlecht genug gefühlt, weil ich mich auch irgendwann nicht mehr gemeldet habe."

„Verstehe."

Ein peinlicher Moment der Stille entstand, indem sie einander einfach nur schweigend in die Augen schauten. Es war Maxwell, der das Schweigen wieder brach. „Sind wir noch Freunde?"

Wie hat es euch gefallen, das erste Kapitel? Ich bin so gespannt auf euer Feedback. 

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