Kapitel 6 : Devil inside
Im Alter von zwölf reiste ich in meinen Träumen durch die Zeit.
Und mit sechzehn? Traf ich in ihnen meinen Schwarm. Meinen Helden.
-Nicole Simon (2023)-
Man müsste nochmal zwanzig sein und nicht so blöd wie damals.
Durch die Zeit reisen... mit dem Taxi nach Paris... Was wusste ich schon. Es gibt Träume, die du besser nicht als unwichtig abtust, egal wie oft du sie hattest. Irgendwann holen sie dich nämlich ein, dann aber umso heftiger. Und wenn es nur in Form eines Busses ist, dessen Fahrer mir heftig gestikulierend zu verstehen gibt, dass ich die Straße freimachen und nicht Maulaffen feilhalten soll. Mein entsetztes Gesicht muss Bände sprechen, denn sofort fragt mich Andy, ob ich einen Geist gesehen hätte.
Einen Geist nicht, aber das Maskottchen am Rückspiegel des Busses, ein Teufel. In diesem Fall ein tasmanischer Teufel aus Plüsch, schwarz und fauchend. Jetzt weiß ich auch wieder, weiß, wo ich den zuletzt gesehen habe. Auf der Reeperbahn nachts um halb eins? Nee, auf der Straße von Melbourne nach Geelong oder wie der Ort auf dem Weg zum Fährhafen hieß, und zwar am fünfundzwanzigsten Dezember 2022.
Heftiger Regen trieb uns von der Straße runter und hinein in die nächste Kneipe, wo wir darauf warten wollten, dass der Wolkenbruch nachließ. Dass wir in einer Karaokebar gelandet waren, ging uns leider erst auf, nachdem unser Bier auf dem Tisch stand. Eva war natürlich Feuer und Flamme und ich betete im Stillen, dass sie nicht auf die Idee kommen würde, mitzumachen. Dumm gelaufen, ein weiteres Bier genügte, dass sie mich nicht nur begeistert nach vorne zog, sondern auch noch den Song auswählte - mit mir als Lady Gaga und ihr als Bradley Cooper. Dabei war ich so musikalisch wie ein Stein.
A star is born? Nicht bei diesem Gegröle! Nicht eine Note traf ich, was aber der Mehrheit, die sich in diesem Laden mit großem Enthusiasmus zum Affen machten, am Allerwertesten vorbeiging. Und tatsächlich konnten sie sich vor Freude kaum halten. Standing Ovations, schrille Pfiffe, und dazu noch zwei Drinks auf Kosten des Hauses – Eva war in ihrem Element. Aber so richtig. Ich dagegen hätte mich am liebsten verkrochen und machte mich auf meinem wackeligen Stuhl klein, so gut ich konnte. Nützte nur nix. Im Gegenteil: Mit Schmackes hieb mir Eva ausgerechnet auf die Schulter, die am meisten von der Sonne abbekommen hatte. Autsch! Das tat weh, juckte meine Freundin aber überhaupt nicht. Seelenruhig nahm sie einen kräftigen Zug von ihrer Limo, bevor sie sich auf ihren Stuhl schwang und die Blicke durch das Lokal schweifen ließ.
„Mensch Nicky, jetzt amüsier' dich doch mal. Beim Karaoke geht's doch nicht um den nächsten Recall für DSDS, sondern darum, mal so richtig Spaß zu haben."
Toller Spaß, seufzte ich lautlos in mein Pint, bestens vertraut mit dem, was sie darunter verstand. Mit jeder Minute, die die Zeit vorwärts kroch, sank meine Laune ein Stückchen mehr, vielleicht weil ich ahnte, was ihre Unruhe zu bedeuten hatte. Bitte nicht das – lass es nicht das sein, wonach es aussieht. Aber auch das blieb mir verwehrt. Natürlich hatte Eva in der Menge zwei Kandidaten gefunden, die sie an unseren Tisch winkte. Auf irgendwelche Typen hatte ich gerade mal so gar keine Lust, aber da verstand Eva wiederum keinen Spaß.
„Hi!"
Sam und Dean. Aus Kalifornien. Winchester oder was? Fehlte jetzt nur noch der schwarze Chevrolet Impala. Das wären dann wohl doch zu viele Zufälle gewesen, und heben konnten sie meine Stimmung ohnehin nicht, weshalb ich einsilbig blieb, auch wenn unsere neuen Bekanntschaften im Grunde ganz nett waren. Irgendwann fiel dann auch Eva auf, dass sich hier nichts mehr reißen ließ und entschuldigte uns mit zerknirschter Miene bei den beiden, die sich anscheinend mehr erhofft hatten als holprigen Smalltalk.
„Sag mal, was stimmt mit dir eigentlich nicht!"
Na, da hatte sie ja das ideale Stichwort geliefert, um einen Streit vom Allerfeinsten vom Zaun zu brechen, der dazu führte, dass wir uns für den Rest der Fahrt durch das regelmäßige, zum Glück nicht mehr ganz so starke Gepladder hindurch nur noch anschwiegen. Dem Winterblues wollten wir entfliehen? Ja, aber doch nicht so! Unterwegs auf einer menschenleeren Straße, inmitten eines einsetzenden Gewitters, wegen eines auf die Fahrbahn gestürzten Astes zum Halten gezwungen zu werden. Nichts wie weg damit, ging es mir durch den Kopf und ich riss die Tür auf – schließlich war die dicke Luft zwischen uns kein Grund, uns beide noch größerer Gefahr auszusetzen als der, in der wir bereits schwebten.
Wütend über den Himmel weißzuckende Blitze tauchten die nächtliche Landschaft in ein unwirkliches Violett, und ich wusste nicht, wovor ich größere Angst hatte: vor den grellen Stroboskoplichtern oder dem dumpfen Grollen, das bleiern hallend über uns hinwegfegte. Dennoch ging kein Weg daran vorbei. Wenn wir die Fähre nicht verpassen wollten, mussten wir das Hindernis beiseite schaffen. Schlotternd passte ich eine weitere Serie von Blitzen ab, bevor ich ins Freie sprang. Eva musste ich nicht lange bitten, sie wusste selbst am besten, was zu tun war. Zu zweit anpacken, jede an einem anderen Ende – ja, so konnte es funktionieren.
Verdammt, das Teil war schwerer als gedacht. Es zwang mich in die Knie und ließ mich vor Anstrengung schnaufen. Oh Mann, wieviel Pech konnte man haben? Fluchend ließ ich unabsichtlich einen der schlüpfrigen Zweige durch meine Finger gleiten und stolperte gerade noch nach hinten weg, bevor er mir ein Auge ausschlagen konnte. Das war ja gerade nochmal gutgegangen, wollte ich schon erleichtert aufatmen, da hörte ich Eva aus voller Kraft schreien.
„Achtung Nicky! Pass auf!"
Obwohl mir etwas sehr großes entgegen kam, blieb ich mitten auf der Fahrbahn stehen und starrte den mich aus dem Cockpit eines Busses anfauchenden Plüschteufel wie hypnotisiert an. Sein grässliches Maul würde mich gleich verschlingen, wenn mich nicht vorher der Kühlergrill des Fahrzeugs aus der Hölle erwischen würde. Wie in einem schlechten Film, riss ich beide Arme in die Höhe und mir vors Gesicht, so als könnte ich den unausweichlichen Zusammenstoß doch noch abwenden.
Ich nicht, aber Eva. Ich habe keine Erinnerung daran, wie sie es geschafft hatte, ihren Posten so schnell zu verlassen, denn noch im selben Moment wurde es um mich herum schwarz, mit einem Nachbild des Busses, der wie aus dem Nichts aufgetaucht und gleich darauf wieder verschwunden war.
Dem Winterblues entfliehen, im Prinzip keine schlechte Idee. Nur hatte ich beim Kauf der Tickets nicht ahnen können, dass ich am Ende zu unserem Road Trip nicht in unserem Luxusmietwagen aufbrechen würde, sondern im Tourbus von INXS, meiner Lieblingsband, zu der ich nun durch eine Laune der Natur gehöre.
Da stehe ich nun und weiß nicht, was ich sagen soll. Gar nichts? Ist vielleicht besser so, denn während wir zu fünft auf unseren Manager warten, ist die Luft aufgeladen mit einer Spannung, die ich mir nicht erklären kann. Da hilft auch nicht, dass Michael noch fehlt und Garry deswegen ungeduldig in der offenen Bustür von einem Fuß auf den anderen tritt.
„So ein Schiet. Wo bleibt er denn nur?"
Nanu, warum so gestresst? In Youtube-Videos wirkt er doch stets wie die Ruhe selbst. Verdenken kann ich es ihm nicht, ist doch die ganze Situation alles andere als normal, am wenigsten für mich. Hochgradig angespannt, weil ich immer noch nicht weiß, wie Chris die Nachricht von meinem Totalausfall aufnehmen wird, zucke ich denn auch zusammen, als sich von hinten Schritte nähern und eine mir wohlbekannte Stimme erklingt, die ich jederzeit unter Tausenden heraus erkennen würde, weil sie die erste gewesen ist, in die ich mich vom Fleck weg verliebt habe, ohne zu ahnen, wie der Mensch, dem sie gehört, überhaupt aussah: die Stimme des Sängers.
Wessen Stimme auch sonst, höre ich Eva im Geiste sagen, während sie dabei die Augen verdreht.
Ja, wen auch sonst... Erst als ich „meinen Helden" damals auch endlich auf MTV erblickt hatte, war es mit den nächtlichen Träumen losgegangen. Okay, nicht unbedingt jede Nacht; dennoch hätte ich nie gedacht, Michael eines Tages auch wirklich leibhaftig gegenüber zu stehen. Doch nun ist dieser unwahrscheinliche Fall eingetreten. Das Dumme ist nur: Es ist das eine, von einer solchen Begegnung bloß zu träumen – anders aber sieht die Sache aus, wenn man plötzlich die Möglichkeit dazu hat.
Vor allem wenn man weiß, dass dem anderen nur noch wenige Jahre bleiben werden.
1366 Wörter.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top