Kapitel 23 : Switch


♪♫♪ I walk this mile, like anyone. What could be found in this sweet damaged smile (...) We are lost, we are found. We are thrown together ♪♫♪ -INXS „We are thrown together"-


... dieses Fahrzeug, über dessen Farbe sich Augenzeugen uneins sind ...

Na klar, so verdreckt, dass man von der Lackierung auch nicht nur ein Fitzelchen mehr erkennen kann, verstehe ich jetzt auch warum. Nicht einsteigen? Ihr habt ja alle keine Ahnung, denke ich, als ich schneller und schneller werde, und vielleicht ist es auch besser so, dass sie die Vorgeschichte nicht kennen. O ja, ich kann mir gut vorstellen, wie das auf den Rest der Band wirken muss: Ihr gehandicapter Gitarrist, der sich ohne ein Wort des Abschieds oder wenigstens eine kurze Erklärung von ihnen entfernt, steigt in ein Taxi ein, das man nicht fotografieren oder anderweitig zur Fahndung ausschreiben kann – und das auch noch freiwillig.

Wie ihr Kumpel ihnen das später erklären soll, falls er jemals wieder zum Vorschein kommen sollte, möchte ich lieber nicht wissen. Es hätte zu diesem Zeitpunkt auch wenig Sinn, denn angesichts der sich wie in Zeitlupe öffnenden Tür wische ich jegliche Zweifel beiseite. Jetzt noch einen Rückzieher machen? Vergiss es! Also lasse ich mich auf den Sitz hinter dem Fahrer fallen, bereit für das, was auf mich zu kommt.

Bereit? Wirklich?

Ich habe ja mit vielem gerechnet, nur nicht damit, dass ich das Gefühl habe, mich auf einem anderen Stern zu befinden, nachdem die Tür sich geschlossen und die Welt da draußen ausgesperrt hat. Ein Stern der ewigen Dämmerung, geflutet von sanften Gitarrenklängen, gemischt mit denen einer Sitar und aus der Ferne kommenden Chorälen: Mir will einfach kein besserer Begriff dafür einfallen, dass ich in dem bis aufs Minimum gedimmten und rötlich pulsierenden Licht kaum weiter als bis zu meinen Schuhspitzen sehen kann. An den getönten, schlammverkrusteten Scheiben liegt das bestimmt nicht, denn im Normalfall ließen sie so viel Sonnenlicht ins Wageninnere, dass man von dem Fahrer mehr erkennen kann als bloß eine undeutliche Silhouette. Ein scheinbar unbeweglicher Schatten, und doch verursacht er mir eine Gänsehaut, als er plötzlich seine Stimme erhebt.

Ich habe auf euch gewartet!

Auf euch gewartet... Da hat wohl jemand zu viele Shows von Michael Mittermeier gesehen oder ist einer von der ganz altmodischen Sorte und erwartet von mir, dass ich ihn ehrerbietig mit „Meister" anrede. Möge Er mir erklären, wohin die Reise geht, denn meine Versuche, einen Blick auf die draußen vorbeiziehende Landschaft zu erhaschen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Aber als ob ich es geahnt hätte, weit gefehlt - mein Chauffeur liebt es, die Spannung zu erhöhen.

Ich wette, Ihr fragt Euch, warum Ihr hier versammelt seid.

Ich kann es mir denken, aber warum so förmlich? Wenn wir schon ins Ungewisse unterwegs sind, könnten wir auch gleich zum Du übergehen. Doch das einzige, was an meine Ohren dringt, ist die Musik aus einer unsichtbaren Quelle, die geradewegs aus der mich umgebenden Atmosphäre zu kommen scheint...

♪♫♪ ... touch me and I will follow in your afterglow... ♪♫♪

... vielleicht aber auch aus der Hölle. Wenn mich nicht alles täuscht, ist die Temperatur in den letzten Minuten um einige Grad angestiegen. Die für die Wechseljahre so typischen Hitzewallungen können das unmöglich sein, denn die habe ich seit meinem Geburtstag nicht mehr gespürt. Dass sich die Fenster nicht öffnen lassen, verstärkt diesen unangenehmen Flash nur noch, und so greife ich instinktiv nach dem Brief, um mir Luft zuzufächeln. Leider hilft diese Maßnahme nur bedingt, denn die Luft um mich herum scheint sich immer stärker zu verdichten, so als hätte sich wie aus dem Nichts ein Geist an meine Seite geschlichen...

♪♫♪ ... heal me from all this sorrow... ♪♫♪

... wie im Oktober 2013 in Edinburgh bei einer Führung durch die unterirdischen Gewölbe der Altstadt. Da hatte mich unser Tourguide fast so weit gehabt, dass ich ihm das Märchen von dem bösen Geist, der dort unten umgehen sollte, glaubte. So kurz davor war ich – dabei gab es für dieses Phänomen eine simple wissenschaftliche Erklärung: Infraschall, eine mit den Ohren nicht wahrnehmbare Frequenz von unter 16 Hertz, die nur von Giraffen, Elefanten und Blauwalen wahrgenommen werden kann. Nur bin ich leider keines der genannten Tiere, und was mich umgibt, sind auch keine extrem niedrigen Frequenzen – sondern eine Präsenz, die ich ganz deutlich spüren kann, obwohl der Platz neben mir leer ist. Denn sonst hätte ich den kurzzeitig zum Fächer umfunktionierten Brief dort nicht ablegen können.


♪♫♪ ... heal me from all this sorrow... ♪♫♪

Was, zum Henker, ist das? Gerade noch habe ich Eva weit hinter der letzten Biegung zurückgelassen und bin durch die weit geöffnete Taxitür auf die Rückbank gehechtet, den leeren Beifahrersitz vor mir, wird es auch schon zappenduster um mich herum. Die Melodie, die von überall her zu kommen scheint, kenne ich nicht – dafür ist mir die sehnsuchtsvolle Stimme, die sie begleitet, umso vertrauter. Was auch immer hier gespielt wird, jetzt mache ich mir schon so meine Gedanken. Michaels Gesang so unvermittelt ausgesetzt zu sein, ruft mir wieder den Fetzen ins Gedächtnis, den ich seit jenem Abend mit mir herumschleppe. Wie war das nochmal mit dem Verhandeln als dritte Stufe nach Elisabeth Kübler-Ross?

Ich würde alles tun, um meinen besten Freund zu retten, und wenn ich dazu in der Zeit zurückreisen muss. Ins Jahr 1997.

Mir schwant übles. Dieses seltsame Taxi, vor dem sie das Publikum dieser absurden X-Factor-Sendung gewarnt haben, ist am Ende doch nicht etwa so eine Zeitmaschine wie in „Zurück in die Zukunft"?! Wohl eher nicht, denn das hier ist kein DeLorean, sondern ein japanisches Modell mit der gewohnten Rechtslenkung. Der Fahrer dagegen, der im Halbdunkel verborgen, das Fahrzeug mit gleichbleibender Geschwindigkeit steuert, ist genauso schwer zu erkennen wie das, was sich draußen so tut. Dennoch habe ich das Gefühl, dass er mit einem als verrückt geltenden Wissenschaftler so viel Ähnlichkeit hat wie ein Känguru mit einem Wombat.

♪♫♪ ... from all this sorrow, as I let you go. ♪♫♪

As I let you go... Ja, vielleicht sollte ich das wirklich. Aber will ich das wirklich? Was ich soll und was ich will – und wieder drehe ich mich im Kreis. Kein Wunder, dass mir dieses Dilemma, in das ich mich schon viel zu tief verstrickt habe, regelrecht die Luft abschnürt. Dazu diese drückende Hitze in diesem verdammten Fahrzeug, das noch nicht mal eine Klimaanlage hat. Und mitten hinein in das indisch angehauchte Gedudel aus dem imaginären Radio, fallen plötzlich Worte, die mir alle Haare zu Berge stehen lassen.

Schön, dass wir nun endlich komplett sind.

Komplett? Hä? So ganz von dieser Welt ist der Kerl am Steuer aber auch nicht. Ja, war vielleicht doch etwas in diesem Wodka aus der Hotelbar? Und noch während ich mich frage, an was für Halluzinationen ich gerade leide, schiebt der Typ noch einen weiteren, nicht weniger rätselhaften Satz hinterher.

Bestimmt habt ihr euch schon gefragt, ob ihr das Ganze hier nur träumt.

Tatsächlich habe ich das. Aber wieso sagt er „ihr"? Entweder „Sie" oder „du" – aber „wir"? Das würde ja bedeuten, dass...

Wenige Augenblicke später habe ich die Gewissheit, dass sich meine Nackenhaare nicht nur wegen der Stimme aufgestellt haben, die der meines besten Freundes so verdammt ähnlich ist. Dieses Gefühl hatte ich immer dann, wenn plötzlich jemand hinter mir stand, den ich nicht habe kommen hören. So wie dieser Typ damals bei einem Gig in einem Bergarbeiterstädtchen, der plötzlich mit der Axt hinter mir stand, weil er dachte, ich hätte seine Freundin angebaggert. Dabei war es Michael, der... Egal, jedenfalls konnte ich noch rechtzeitig stiften gehen, sonst hätte es ein Blutbad vom Feinsten gegeben. Was hatte ich darum gebetet, so einen Horror nicht mehr erleben zu müssen, und anscheinend war ich damit auch durchgekommen. Bis jetzt; doch es steht niemand hinter mir, und auch eine Axt schwebt nicht über mir, und dennoch spüre ich die Anwesenheit einer weiteren Person, auch wenn ich sie nicht sehen kann.

„Und nun, meine Herrschaften", wendet sich der Fahrer unseres Taxis Nummer Fünf an uns, „dass Sie hier und heute bei mir zu Gast sind, hat einen Grund, den Sie gleich erfahren werden. Wobei die Begriffe hier, heute und gleich relativ oder, besser gesagt, nur eine Frage der Perspektive sind."

Zitat: 33 Wörter - Text: 1327 Wörter - insgesamt: 1360 Wörter

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