Kapitel 22 : Hear that sound

♪♫♪ When the love around begins to suffer and you can't find love in one, in one another, push away those bitter tears ♪♫♪ -INXS „Bitter Tears"-

Beth ist fort. Und ich habe es so richtig versemmelt. Dass es allein meine Schuld ist, weiß ich nicht erst, seit ich diesen Brief, den sie bestimmt nicht in letzter Minute geschrieben hat, in den Händen halte. Wieder und wieder habe ich ihn mir durchgelesen, bis ich gemerkt habe, dass ich mich im Kreis drehe. Jetzt steckt das zerknitterte Stück Papier zusammengefaltet in meiner linken Gesäßtasche, wo es mir gefühlt ein Loch in die Jeans brennt, als stiller Vorwurf dafür, dass wieder einmal jegliches „was wäre wenn" zu spät kommt.

Denn zusätzlich dazu rumort es tief in meinem Magen und lastet dumpf auf der Brust. Beth hätte diese Entscheidung auf jeden Fall durchgezogen, notfalls auch alleine - aber in ihrer letzten furchtbaren Konsequenz niemals ohne fremde Hilfe.

Und dennoch hast du es versiebt, verkackt, vergeigt. Du ganz allein, und du weißt nicht, wer alles darin eingeweiht war...

Michael? Mit Sicherheit, jedenfalls wenn es um den Brief geht. Was das Ablenkungsmanöver betrifft, bin ich mir dagegen nicht sicher, da ich weder Jon noch Andy so eine Gemeinheit zugetraut hätte. Gerade bei Andy nicht, aber wer weiß, schließlich heißt es ja auch, stille Wasser wären tief. Wenn ich jetzt noch anfange, mich verrückt zu machen, wer hinter meinem Rücken Beth zum Flughafen gebracht hat... O Mann. Stehe ich wirklich kurz davor, den Kopf zu verlieren und in Selbstmitleid zu baden? Dabei müsste der echte Tim doch wissen, was er jetzt zu tun hätte. Spar dir dein soll ich oder soll ich nicht und bring den Schlamassel in Ordnung, indem du ihr nachfliegst. Jedenfalls würde Andy das tun. Brüder im Geiste: In diesem Punkt war mein Andi ähnlich gestrickt wie er, doch leider ist mein Andi 2016...

Halt. Stop! Jetzt bloß nicht damit anfangen, bittere Tränen zu weinen. Jetzt gibt es nur eine Sache, auf die ich mich zu konzentrieren habe, und zwar auf das, was vor mir liegt.

Flieg ihr nach. Bring den Schlamassel in Ordnung. Rette deine Ehe.

Ich kann mir sogar sehr gut vorstellen, dass sich Beth niemanden aus der Band als Chauffeur ausgesucht, sondern ein Taxi gerufen hat. Wenn das einer weiß, dann unser Manager. Er war ja auch dabei, als Leslie den Abflug gemacht hat. Doch bei der hektischen Betriebsamkeit im Stadion habe ich zunächst einige Schwierigkeiten, sein in einem Blechcontainer untergebrachtes Büro zu finden. Kabel und Kisten, Stolperfallen überall: Nachdem ich zweimal in die falsche Richtung gelaufen bin, stehe ich dann doch noch vor der gesuchten Tür, die einen Spalt offensteht. Mehrere Stimmen dringen durch ihn zu mir nach draußen, doch die von Chris, der anscheinend mit jemandem telefoniert, kann ich klar und deutlich verstehen. Im Gegensatz zu dem Gespräch, von dem nur Fetzen bei mir ankommen. Normalerweise mache ich in solchen Situationen einen Rückzieher, weil ich nur ungern lausche, doch was ich höre, macht mich dann doch nachdenklich, denn offenbar geht es um mich.

Laienhafte Tonaufnahmen, allenfalls geeignet fürs Privatarchiv... ein professionelles Kamerateam muss her... Dogs in Space... Drückt mir die Daumen, dass Richard Zeit hat...

Wenn ich diese wenigen Fragmente, die ich bei dem Lärm verstehen konnte, richtig deute, dann hat Chris vor, den Regisseur ins Boot zu holen, der die Musikvideos für unsere Band gedreht und für den Michael auch schon als Hauptdarsteller vor der Kamera gestanden hat. Dogs in Space - da wird sich Michael aber freuen. Ja, lang, lang ist's her, dass ich dieses Werk in besserer VHS-Qualität sehen durfte. Jedenfalls für mich. Damals habe ich natürlich kein Wort verstanden, es war auch nicht notwendig, aber jetzt dagegen... Falls Mr. Lowenstein tatsächlich zusagt, fände mein amateurhaftes Chronistendasein abrupt ein Ende. Und schon wieder werde ich abserviert? Es ist zum Jaulen. Zum Jaulen deshalb, weil ich zu meinem Erschrecken feststellen muss, dass ich gerade dabei bin, in meiner neuen Rolle voll aufzugehen.

Flieg ihr nach. Bring deine Ehe in Ordnung. Lass alle Hoffnungen fahren.

Oder vielleicht doch nicht. Denn Chris hat die Band zu einem in letzter Minute angesetzten Meeting einberufen. Die ganzen viertausend Kilometer von Perth nach Melbourne noch einmal mit dem Bus zu bewältigen? Und das in sieben Tagen? Was für eine Tortur! Von dieser Aussicht hat sich bis jetzt niemand begeistert gezeigt, nicht nach dem Zwischenfall mit dem Getriebe, der uns den bequemen Tourbus gekostet und eine Planänderung mitsamt Verspätung beschert hat. Doch nun präsentiert er die Lösung für unser Problem, da wir seiner Meinung nach schon genug Strapazen hinter uns haben.

Also warum nicht das Ersatzfahrzeug canceln und dafür den nächsten Flieger chartern?

Ein brandneues Flugzeug, das er ja nicht zum Spaß angeschafft hat. Schließlich sollen wir ja auch irgendwann auf die große US-Tournee gehen. Spätestens wenn KICK wie eine Bombe eingeschlagen hat und ihr dann einen Gitarristen gefunden habt, der meine Rolle zu hundert Prozent ausfüllt, ansonsten war's das dann mit dem Amortisieren des Privatjets, denke ich voller Sarkasmus. Trotz meiner finsteren Gedanken bekomme ich gerade noch die Kurve, als Chris zu einer Erklärung ansetzt, wie wir von seiner Planänderung profitieren werden. Aber ist nicht unser ganzer bisheriger Aufenthalt eine einzige Ansammlung von Planänderungen gewesen? Und damit meine ich nicht nur die Australian-Made-Tournee, sondern ich muss dabei vor allem auch an Eva und mich denken.

Ach, Eva. Wie mag es ihr wohl ergehen, mit meinem Gegenspieler an ihrer Seite? Wird sie sich nicht irgendwann darüber wundern, dass wir zwei völlig gegensätzliche Charaktere sind?

Bevor ich aber weiter in meine eigene Gedankenwelt abdriften kann, legt Chris uns dar, wie er sich den Rest der Tournee, die trotz aller Widrigkeiten doch noch halbwegs sauber gelaufen ist, vorgestellt hat. Nun bin ich aber doch gespannt, wie Richard Lowenstein und seine Filmcrew in unserer jetzigen Situation in das Bild passen.

Und wie sie da hinein passen. Kaum eingetrudelt, werden sie auch schon im Backstagebereich filmen, was das Zeug hält, um genügend Material zusammenzubekommen, damit es nicht so auffällt, dass sie die Hälfte der Tournee verpasst haben. Heute in Perth, in einer Woche in Brisbane, und zum Schluss, am Australia Day, in Sydney. Mit riesigem Feuerwerk und allem drum und dran.

Nach unserem Auftritt heute Abend geht es für uns dann allerdings morgen nach Hause, damit wir uns nochmal richtig erholen können. Kräfte sammeln, wie Garry so treffend sagt und damit ich zum Gipswechsel ins Krankenhaus kann. In Melbourne. Während die anderen nach Brisbane weiterfliegen, und von dort aus ist es ja auch nur ein Katzensprung nach Sydney.

Vor lauter Zahlen schwirrt mir der Kopf. Und nicht nur davon; denn während Michael mit dem Rest der Band am Zweiundzwanzigsten seinen Geburtstag groß feiert, womöglich sogar noch mit einer rauschenden Party, muss ich in Melbourne versuchen, die Scherben meiner Ehe zu kitten.

„Die einen kommen, die anderen gehen", setzt Kirk dann natürlich noch einen drauf, wobei ich das Gefühl habe, seine Bemerkung bezieht sich nicht nur darauf, dass wir und Richard uns am Flughafen die Klinke in die Hand geben werden. Oh ja, niemals war die Zeile words are weapons, sharper than knives treffender als jetzt, denn seine Worte versetzen mir einen feinen Stich. Doch nicht für lange, denn als ob er geahnt hätte, was sie in mir ausgelöst haben, schiebt er eine Idee hinterher, die die anderen mit Begeisterung aufnehmen: Lasst uns letzte Erinnerungsfotos schießen, bevor die Maschine mit dem frisch engagierten Filmteam eintrifft.

Doch warum müssen wir dazu an den Flughafen fahren, wenn das Sportstadion von Perth mit seinem saftigen Grün nach einem heftigen Regenguss doch eine viel schönere Kulisse abgibt als die Symphonie in Asphalt auf dem Rollfeld oder der Besucherplattform?

Das Expresslabor ist Kirks Begründung dafür, dass wir auf der Aussichtsterrasse posiert und uns immer wieder anders aufgestellt haben. Damit jeder mal vorne ist, und wie immer konnten es Jon und Michael nicht lassen, Faxen zu machen. Wenn es mal wieder länger dauert, habe ich gedacht, ihnen dann aber doch ihren Spaß gelassen. Ernst genug würde es schließlich noch früh genug werden, spätestens dann, wir uns auf Chris' Geheiß in alle Winde zerstreut hätten. Auch das ein oder andere Foto, das uns als Spiegelung in einer der vielen Pfützen zeigt, ist dabei. Ich bin überzeugt, sobald die Aufnahmen erst mal entwickelt sind, geht das große Hallo los, wer wie viele Abzüge haben möchte.

Jetzt aber ist erst mal Warten auf Richard und seine Leute angesagt. Da Michael und Garry jeder noch eine qualmen wollen, haben wir uns im Ausgangsbereich versammelt. Im Prinzip ist es egal, wo wir uns hinstellen, da man hier die Einteilung in den größeren Wartebereich für Nichtraucher und den erheblich kleineren Platz für Raucher noch nicht zu kennen scheint. Oh ja, diese sogenannten Raucherbereiche kenne ich noch zu gut, als Andi und ich noch zusammen verreist sind; diese gruseligen Exemplare, die mich verblüffend an Aquarien erinnert haben, sind mir besonders gut in meinem Gedächtnis haften geblieben.

Kaum brennt die Camel, kommt der Bus.

Auch diese Zigarettenwerbung kenne ich noch zu gut. Nur haben sich die beiden keine Camel angezündet, und es kommt auch kein Bus des Wegs, um Touristen zu bringen oder mitzunehmen. Es ist ein schmutzverkrustetes und somit farblich völlig undefinierbares Taxi mit seinem charakteristischen Brummen. Und es fährt mit Karacho vor, um die nächste Pfütze mitzunehmen. Schon sehe ich den Wasserschwall tsunamigleich über Garry und Michael hereinbrechen und habe prompt jenes Interview mit Michaels damaliger Lebensgefährtin vor Augen, das Teil einer Filmdokumentation über unseren Sänger war.

Auch damals war es ein Taxifahrer der besonders rücksichtslosen Sorte, der sich mit dem leicht beschwipsten Pärchen anlegte, das sich in der Kopenhagener Innenstadt dort aufhielt, wo es sich seiner Meinung nach gar nicht hätte aufhalten dürfen: mitten auf der Fahrbahn. Inzwischen weiß ich ja, wie stur Michael manchmal sein kann und wieviel Spaß er daran hat, andere zu provozieren. Bisher ist ja auch immer alles gutgegangen.

Nur 1992 an jenem Abend in der dänischen Hauptstadt nicht, denn da geriet er leider an den Falschen und dadurch in ein Handgemenge, bei dem er schließlich so unglücklich mit dem Kopf auf der Bordsteinkante aufkam, dass die später gestellte Diagnose „Schädel-Hirn-Trauma mit Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn" lautete. Bitte kein vorgezogenes Kopenhagener Fiasko, bete ich daher für mich und schließe meine Augen, doch auch da sehe ich diese Szene noch so real vor mir, als wäre ich selbst dabei gewesen.

Natürlich die Taxifahrer!

Als ich wieder ins Hier und Jetzt zurückgerissen werde, bekomme ich gerade noch mit, wie Kirk außer sich meinen Gedanken lautstark eine Stimme verleiht.

„Na warte, den kauf ich mir!" ruft er und hält auf den Auslöser, was das Zeug hält, und rennt dem sich entfernenden Fahrzeug hinterher.

Den holst du nicht mehr ein, denke ich mir und schaue ihm nach, wie er im Flughafengebäude verschwindet. Wohl um den vollen Film entwickeln zu lassen.

Unsere Überraschung könnte nicht größer sein, als Kirk nach einer Stunde zurückkehrt und die Bilder aus dem Etui zieht. Ja, wirklich - die meisten zeigen uns sechs, einige davon ein wenig verschwommen. Ich hätte davon ja keine Abzüge genommen, aber wer weiß, ob es nicht genau die Aufnahmen sind, deren Fehlen später Jon bejammert.

„So, und jetzt, liebe Freunde, kommen wir zu dem Idioten, der Garry geduscht und mir fast einen Herzkasper verpasst hat. Hoffen wir mal, dass das Kennzeichen oder die Nummer von dem Vogel nicht genauso verwackelt ist wie das Gehampel von Jon und Michael."

Doch es ist, als ob ich es geahnt hätte: Die Fahrspur vor dem Wartebereich ist leer, die Pfütze zu meinen Füßen unberührt, als hätte sie nicht einmal ein Windhauch gestreift. Plötzlich ist es für mich, als wäre die Zeit stehen geblieben, und klar und deutlich erinnere ich mich wieder an das Vorprogramm des Films mit Dan Aykroyd.

... Wir raten dringend davon ab, in dieses Fahrzeug, über dessen Farbe sich Augenzeugen uneins sind, einzusteigen ...

Ach, wirklich? Wer's glaubt! Und langsam, ohne länger darüber nachdenken zu müssen, setze ich mich in Bewegung.

Zitat: 27 Wörter - Text: 1953 Wörter - insgesamt: 1980 Wörter

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