Kapitel 21 : Disappear
♪♫♪ You're driving all over town, in your big car windows down
Sweet perfume trails behind, the impression is in my mind ♪♫♪ –INXS „Know the difference"-
Als ich zu mir komme, tröpfelt diffuses Licht an den nur halb zurückgezogenen Vorhängen vorbei in den Raum. Seltsam, trotz der frühen Stunde, die mir das Display des neben mir liegenden Telefons anzeigt, müsste es doch längst viel heller sein; obwohl ich in meinem verkaterten Zustand dankbar dafür sein sollte, dass das Hotelzimmer nicht wie sonst von strahlendem Sonnenschein geflutet wird. Verkatert – ja. Aber wovon?
Dass ich mich wie ausgespuckt fühle, kann unmöglich an der zu einem knappen Drittel geleerten Wodkaflasche von der Hotelbar liegen, denn es gab Zeiten, in denen ich deutlich mehr vertragen habe. Man wird eben nicht jünger, schießt mir ein Gedanke durch die trägen Hirnwindungen, obwohl dieser fünfzigjährige Körper keine Probleme mit den Knien zu haben scheint und wahrscheinlich auch niemals hatte, so wie ich. Ansonsten hätte ich dort nämlich OP-Narben. Das ist aber auch schon das einzig Gute daran. Nein, Älterwerden ist wirklich kein Spaß, vor allem nicht als Frau.
Früher hätte mich auch eine ganze Armada von offen herumstehendem Sprit nicht weiter gestört, jetzt dagegen runzele ich schon die Stirn beim Anblick der Flasche, die ich gefährlich nah am Rand meines Nachttischs abgestellt haben muss, bevor ich in meinen Klamotten eingeschlafen bin. So nah, dass sie herunterzufallen droht, wenn ich mir sie nicht schnappe - es sei denn, ich möchte den bereits vorhandenen Scherbenhaufen noch vergrößern.
Schraub die Buddel zu, denn außer dir ist ja niemand hier.
Da dämmert es mir wieder. Eva war ja schon gestern Abend nicht mehr hier, und seitdem ist sie verschwunden, im Gegensatz zu dem Zettel, den sie mir geschrieben hat. „Die fünf Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross. Eins: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Zwei: Zorn. Drei: Verhandeln. Vier: Depression. Fünf: Akzeptanz"
Stöhnend richte ich mich auf dem Bett auf und schraube die Flasche zu. Dann verlasse ich das Bett mit unsicheren Schritten, um die Vorhänge komplett aufzuziehen. Täusche ich mich oder schillern die an diesem Morgen besonders tief hängenden Wolken auch wieder wie Opale? Verdammter Kater! Früher hätte ich versucht, mit dem Zeugs am nächsten Morgen weiterzumachen, mit dem ich am Abend zuvor aufgehört habe. Nur kann man damit weder diesen erbärmlichen Zustand bekämpfen noch einen klaren Kopf behalten, und den brauche ich, wenn ich Eva fragen möchte, was genau sie dazu bewogen hat, mir so eine Nachricht zu hinterlassen – obwohl ich mir das genauso gut sparen könnte, weil ich die Antwort im Grunde längst kenne.
Mit einem riesigen Pott starken Kaffees habe ich es mir auf der Bank vor dem Hotel so bequem wie möglich gemacht und versuche, das Geflacker über mir zu ignorieren. Angereichert mit Zitronensaft ist dieses Gebräu nun wirklich keine kulinarische Offenbarung, aber seit wann muss Medizin schmecken? Helfen soll das widerliche Zeugs, also Augen zu und runter damit. Uääägs: Ein Horrortrip in sechs Minuten, von dem ich mich frage, wann er zu Ende geht, denn als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich die Person, mit der ich so bald nicht gerechnet habe, die Straße heraufkommen: Eva, barfuß und mit von ihren Fingern baumelnden Sandalen, die Haare zerzaust und der Kajal verlaufen. Wie ein Waschbär in zerknitterten und schlechtsitzenden Klamotten, die sie besser gleich danach in Ordnung gebracht hätte.
♫ I'm not here for your entertainment, you don't really want to mess with me tonight.. ♫
Ach herrje. Manchmal schließen Fröhlichkeit und Singen einander aus, stelle ich so für mich fest und versuche, mir lieber nicht vorzustellen, von welchem Trip sie gerade zurückkommt oder wie ihr One-Night-Stand gelaufen ist. Verdammt – ich denke schon wie Nicky! Und anscheinend bin ich genauso schlecht darin, ein Pokerface aufzusetzen, denn kaum erblickt sie mich, geht es auch schon los. Ihre eben noch so relaxte Haltung weicht einer Anspannung, wie ich sie eigentlich nur von Garry beim Stimmen seines Basses kurz vor dem Auftritt kenne. Mir jetzt noch die passenden Worte – oder Ausreden, wie Andy sie nennen würde – zurechtzulegen, kann ich vergessen.
„Nein, Nicky, es ist nicht das, was du denkst", erklärt sie seufzend und mit einem Augenrollen. „Mir die Nacht um die Ohren schlagen, um irgendeinen Typen aufzureißen? Nee, Nicky, danach ist mir schon seit einiger Zeit nicht mehr."
Und noch bevor ich mich fragen kann, was das mit den beiden Touris aus Kalifornien werden sollte, fährt sie fort: „Irgendwie ist dieses ganze Clubbing-und-One-Night-Stand-Ding nicht mehr mein Fall. Ich wollte einfach nur tanzen, um den Kopf frei zu bekommen."
So etwas hatte ich mir schon gedacht, doch auf das, was jetzt kommt, war ich nicht vorbereitet.
„Das täte übrigens auch mal dir zur Abwechslung gut. Einfach mal loslassen und dein Gedankenkarussell abschalten. Eigentlich hatte ich gedacht, unser Trip, für den ich dir übrigens dankbar bin, würde ein Stück weit dabei helfen."
Obwohl ich die Einzelheiten immer noch nicht kenne, muss ich zugeben, dass das nach einem guten Plan klang. Aber wie sagte jemand in einem Interview, das ich neulich auf einem Musiksender gesehen habe, so schön? Du kannst laufen, wohin du willst, aber deine Schatten folgen dir. Und zwar überall hin.
„Ich hatte sogar schon das Gefühl, du kommst inzwischen leichter aus dir raus. Aber ganz ehrlich? So wie du neulich auf diesen Song zu der Meldung über die Hall of Fame reagiert hast, glaube ich nicht, dass du schon so weit bist."
Hatten wir das nicht schon? Komisch, es nur zu lesen, hat sich schon verdammt surreal angefühlt, aber es jetzt erneut zu hören, macht etwas mit mir, das ich am liebsten ganz weit weg schieben würde. Und tatsächlich, als dann noch die Worte „Selbsthilfegruppe" und „Trauercafé" fallen, erkenne ich, dass es Eva ernst ist. Wie ernst, das zeigt mir ein Link, den sie anscheinend längst auf ihrem Smartphone abgespeichert hat, um ihn mir unter die Nase zu halten.
Ein Trauercafé für regelmäßig Wiederkehrende und solche, die hineinschnuppern wollen, so hat sie sich ausgedrückt, und zwar mitten im Zentrum von Perth, acht Blocks entfernt.
Sich jetzt noch zu drücken? Aussichtslos. Denn nach einer kurzen Dusche, gefolgt von einem hastigen Klamottenwechsel, laufe ich ihr im Schlepptau hinterher. Auf einen Marsch mit der Aussicht auf baldigen Regen oder – noch schlimmer – Gewitter hat keiner von uns Lust. Und so fände Eva es zwar ganz schick, jemanden zu finden, der uns mitnimmt, doch ich halte es lieber mit dem Motto einer unserer Songs: Just keep Walking. Denn wenn ich dem, was mich erwartet, schon nicht entkommen kann, möchte ich lieber gewappnet sein, und so würde mir das Laufen wenigstens noch zu einer letzten Galgenfrist verhelfen.
Trauercafé schön und gut. Aber auch wenn sich Eva währenddessen woanders aufhalten wird - was soll ich Wildfremden erzählen? Etwa, dass ich nicht glauben will, dass ich meinen besten Freund nie mehr wiedersehen werde? Wut auf mich selbst, dass ich die wenige Zeit zusammen nicht besser genutzt und lieber auf meiner blöden Extrawurst bestanden habe anstatt im Bus zu bleiben? Dann wäre ich nämlich diesem verdammten Tausch entgangen.
Noch größere Wut darüber, dass ich es dann wahrscheinlich auch nicht gebacken bekommen hätte, dem Menschen, der mir gleich nach Beth und Andy der liebste war, beizustehen? Dann hätte ich dann vielleicht früher erkannt, was Michael dazu getrieben hat.. aber das hat ja anscheinend nicht mal Andy hinbekommen, und die beiden standen sich von uns allen am nächsten.
Ja, liebe Leute hier in dieser Runde, jetzt fragt ihr euch sicher, wie das funktioniert haben soll, dass sowohl Andy und Michael beste Freunde waren als auch Michael und ich, übe ich im Stillen meine Worte an die imaginäre Gruppe im noch fünf Blocks entfernten Café.
Diese Ausschließlichkeit, was Freundschaften angeht, habe ich noch nie verstanden, und wenn ich ehrlich bin, keiner von uns. Dieses Eifersuchtsding war etwas, das in unserer kleinen Familie von Anfang an nicht existiert hat.
Verhandeln? Das wäre dann die nächste Stufe, die vor mir läge. Verhandeln. Nur wie? Und mit wem? Etwa so? Ich würde alles, was in meiner Macht liegt, tun, um die Dinge, wie sie jetzt sind, ungeschehen zu machen.
Wobei ich wette, meinem in 1986 gelandeten Gegenstück geht es genauso. Mehr noch: Viel kann diese Nicky nicht vermasselt haben, denn sonst wären wir längst in einem Paralleluniversum gelandet, in dem Beth und ich zwar möglicherweise vorletztes Jahr unseren vierzigsten Hochzeitstag gefeiert hätten, aber Michael immer noch leben würde. Vielleicht hätte er sogar seine kleine Tochter groß werden sehen und sich darüber gefreut, wie verdammt ähnlich sie ihm heute sieht.
Was sind wir doch für Helden – jede nur denkbare Änderung haben Nicky und ich hinbekommen. Warum dann zum Henker nicht auch diese? Noch haben wir dieses fragwürdige Gleichgewicht, doch mit jedem Tag – ach was, jeder Stunde – steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es kippt. Außerdem, sind hier für meinen Geschmack viel zu viele Vielleichts im Spiel. Vielleichts, von denen niemand etwas erfahren darf. Denn sonst...
Just keep walking? Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, entfährt Eva ein freudiges „Na, wer sagt's denn!"
Huch! Was zum Henker habe ich nicht mitbekommen? So aufgeregt, wie Eva herumfuchtelt, muss die ersehnte Mitfahrgelegenheit wohl endlich erschienen sein. Ein Taxi. Doch anstatt anzuhalten, ignoriert der Fahrer Evas Wedeln und steuert das verdreckte Auto stur an uns vorbei, obwohl hier offensichtlich Passagiere auf ihn warten. Kann der Kerl am Steuer nicht sehen, was sich hinter ihm abspielt? Bei diesen schlammverkrusteten Spiegeln und Scheiben wundert mich das gar nicht. Und so schießt Eva ein Bild, um wenigstens die Telefonnummer des Unternehmens einzufangen. Doch das eben noch triumphierende Lachen bleibt Eva im Halse stecken.
„Das gibt's doch nicht", entfährt es ihr mit einem Ausdruck des Unglaubens, und als ich kurz darauf einen Blick auf das Display des in Evas Händen bebende Smartphone werfe, kann selbst ich genug erkennen, um ebenfalls fassungslos zu erstarren.
Denn wie Sie sehen, sehen Sie nichts.
Da, wo die Heckflosse des Suzuki mehr oder weniger deutlich das Bild ausfüllen sollte, gähnt uns eine leere Straße entgegen. Und doch hat Eva den Wagen genauso deutlich gesehen wie ich; doch im Gegensatz zu Eva hat es bei mir Klick gemacht.
Aus meiner Erstarrung gerissen, bin ich es, der aus dem Stand in einen wilden Sprint verfällt, um die Verfolgung aufzunehmen und dem Taxi nachzujagen, während Eva zurückbleibt.
Zitat: 27 Wörter - Text: 1666 Wörter - insgesamt: 1693 Wörter
A/N: „Du kannst laufen, wohin du willst, aber deine Schatten folgen dir. Und zwar überall hin": Dieses Zitat habe ich James Hetfield (Metallica) geklaut. Den Song „Shadows Follow" gab es offiziell erst am 13. April dieses Jahres zu hören.
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