Kapitel 19 : Questions

♪♫♪ I was standing, You were there, Two worlds collided (We're shining through) and they could never tear us apart ♪♫♪ -INXS „Never tear us apart"-

„Die fünf Phasen der Trauer nach Elisabeth Kübler-Ross. Eins: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Zwei: Zorn. Drei: Verhandeln. Vier: Depression. Fünf: Akzeptanz..."

Den Zettel muss mir Eva hingelegt haben, nachdem ich so bald nicht wieder aufgetaucht war und sie mich nicht erreichen konnte. Aber warum diese kryptischen Worte und warum jetzt? Wie gebannt lese ich weiter.

„Nach dieser verflixten Meldung hätte ich eigentlich wissen müssen, dass du über Andis Tod noch lange nicht hinweg bist, so wie du seitdem drauf bist. Sonst würdest du diesen einen Song nicht wieder und wieder abspielen?"

Song? Abspielen? Womit? Wenn ich nur wüsste, was Eva mit diesen verwischt aussehenden Zeilen gemeint hat, doch sie zu fragen, ist nicht möglich, denn ich bin allein und noch immer aufgewühlt von den in Schockwellen über mich hereingebrochenen Neuigkeiten, die im Prinzip nur für mich welche sind. Als ich irgendwann aufgewühlt ins Hotel zurückgekehrt bin, habe ich erwartet, sie schlafend anzutreffen – doch unser Zimmer war leer und das Bett unberührt. Nein, halt – so ganz stimmt das nicht: Hatte sich mein altes Galaxy noch auf dem Nachttisch befunden, als ich das Hotel verlassen hatte, so liegt es jetzt auf den zerwühlten Laken wie auf dem Präsentierteller und zeigt eine Statuswarnung an: Ihr Akkustand ist niedrig.

Nur noch 11%? Mist. Meine Lüge ist aufgeflogen. Warum habe ich das blöde Teil nicht ausgeschaltet? Es jetzt aufzuladen und Eva anzurufen, wäre garantiert das Verkehrteste, was ich tun kann, so aufgebracht wie sie ist, wenn ich ihren kurzen Brief richtig interpretiere.

„Wir sollten reden!" Sonst hätte sie den Rest nicht in Blockbuchstaben hingeschmiert. MORGEN!!" und zwar mit ganz vielen Ausrufezeichen und extra fett: „ODER WENN DU WIEDER KLAR BIST!!!"

Wenn ich wieder klar bin... Anscheinend glaubt sie, ich wäre durch eine Meldung im Radio so aus der Bahn geworfen worden. Zuerst kapiere ich gar nichts, doch nachdem ich die vergangenen Tage Revue passieren lasse, glimmt bei mir ein winziger Funken einer Ahnung auf. Gewissheit erlange ich jedoch erst, als ich mich auf dem Galaxy zu Nicoles Playlist durcharbeite.

Don't ask me, what you know is true, don't have to tell you, I love your precious heart...

Nur mit halbem Ohr hinhörend, rauscht der Rest an mir vorbei, während ich die Liste abwärts scrolle und feststellen muss, dass sie sich neben unserem Material aus dem letzten und vorletzten Jahr zum größten Teil aus unserem neuen Album zusammensetzt. Doch das haben wir noch gar nicht veröffentlicht.

„New Sensation", „Guns in the sky"... Wieder sehe ich die Dreharbeiten zu den Videos vor mir, mitten im dicksten Winter in diesem Hotel in Prag. Ich weiß nicht, wie oft wir diese Szenen in einem völlig düsteren Gang drehen mussten, bis der Regisseur zufrieden war. X-mal mussten wir durch immer dieselbe Tür, damit die Aufnahme so wirkte, als wäre sie in einer einzigen Einstellung und ohne Schnitt gedreht worden. Wir alle in Schwarz, dazwischen immer wieder die für Bruchteile von Sekunden eingeblendeten Gesichter von Reagan und Gorbatschow sowie die Begriffe S.D.I., USA und CCCP... und dazu ein äußerst wütender, extrem aggressiver Michael, der kurz vom erneuten Eintauchen in die Schatten eine Pirouette dreht.

Guns in the sky? Eines fehlte noch: „Never tear us apart" – plötzlich muss ich schwer schlucken, denn mir fällt wieder ein, in welchem Teil von Prag wir das Video dazu gedreht haben. Unter anderem auch auf diesem Friedhof.

Friedhof?

Obwohl es totenstill ist im Zimmer, höre ich plötzlich laut und deutlich dieses ganz spezielle Klicken, wenn sich alles zusammen fügt. Oh ja, der Oktober war für uns der ideale Monat, unsere Alben herauszubringen. Für andere muss dieser Monat mit unsagbar viel Leid und Schmerz verbunden sein. Beides holt nun auch mich ein.

„Sieben Jahre sind's diesen Oktober, ich hab's nachgerechnet. Sieben Jahre ist er jetzt unter der Erde, Nicky."

Und ich wette, sie haben diesen Song bei seiner Beerdigung gespielt. Garantiert haben sie das, denn genau mit ihm kam jene höllisch laute Durchsage im Radio, nach der ich völlig fertig und mit einem Stein im Magen den Rest der Fahrt über mich ergehen ließ.

Hey guys! Nur noch wenige Wochen, dann stehen sie fest, die diesjährigen Kandidaten für die Rock'n'Roll-Hall of Fame.

Getriggert von diesem einem Song?

Kein Wunder, dass Eva denkt, Nicky wäre deswegen immer noch neben der Spur. Wie recht sie doch hat, und doch könnte sie nicht verkehrter liegen mit dem Grund, den sie hinter meinem Ausnahmezustand vermutet. Doch wenn ich damit herausrücke, denkt sie, ihre beste Freundin würde sie verscheißern wollen.

Von wegen Phase eins der Trauer, in der man angeblich mit Schock, Verleugnen, Empfindungslosigkeit oder körperlichen Beschwerden reagiert. Oder mit allem zusammen. Bei Nicky beziehungsweise mir kämen dann auch noch geistige Ausfallerscheinungen zusammen. Jedenfalls aus Evas Sicht.

Denn wo Nicky selbst nach Jahren immer noch mitten drin steckt, sind es bei mir gerade erst ein paar Tage, die sich so unwirklich anfühlen, dass ich froh bin über jede noch so kleine Hintergrundrauschen, das dem absoluten Overkill etwas entgegensetzen könnte. Gerade jetzt wäre ich froh über Eva und ihr Geplapper, doch noch immer bin ich allein, und zwar in einem Zimmer, wo die Stille so laut dröhnt, dass ich sie nicht länger ertragen kann. Die Minibar zu plündern, stellt keine Option dar, denn um mich wegzuschießen, braucht es schon stärkere Geschütze.

Hirnlose TV-Unterhaltung, bis ich so müde bin, dass ich im Stehen einschlafen könnte, als Mittel gegen den Overkill aus Informationen, Stille und Einsamkeit? Mich berieseln und von Stimmen einlullen zu lassen, bis mir die Augen von allein zufallen; oh, wie schön das doch wäre. Was macht es da schon, dass ein Pay-TV-Kanal mit einer unaussprechlichen Buchstaben- und Zahlenkombination eine Sendung im Programm hat, deren Inhalt beinahe noch absurder als dieses blöde Buch ist, das Andy mir zuletzt hinterher geworfen hat. Freaky Friday? Nö, „X-Factor – das Unfassbare", als Jubiläumsausgabe.

Communication. Disinformation. Blood Moneydudelt es aus dem Hintergrund, während ein sichtlich gealterter Jonathan Frakes ankündigt, gleich sechs unglaubliche Geschichten zu präsentieren.

Frakes? Ist das nicht der Typ aus „Fackeln im Sturm", „Twilight Zone" und „Die Zeitreisenden"? Auf einmal bin ich hellwach und ganz Ohr für die unfassbaren Storys, bei denen die Zuschauer raten sollen, was davon echt ist und was gelogen. Unfassbar, dass Fake News anscheinend ein ganz alter Hut sind, schon 1997. Oder war es 1998?

Communication. Disinformation - irgendwie kommt mir die Musik bekannt vor, kann sie aber nicht zuordnen. Viel interessanter sind doch die Kurzgeschichten, die sich unter anderem um ein Pferd mit einem unglaublichen Zahlengedächtnis, einen unheimlichen Rosengarten und um eine Hexe drehen, die durch einen Trick dazu gebracht wird, sich der Weißen anstatt der Schwarzen Magie zu verschreiben. Humbug, geht es mir durch den Kopf, alles Humbug, doch mit einem Vorteil: als Einschlafhilfe sind sie besser geeignet als Baldrian oder jede andere Schlaftablette. Und tatsächlich beginnt sich schon bald eine gewisse Schläfrigkeit einzustellen, meine Augenlider werden schwer, und ich greife nach der Fernbedienung, als Mr. Frakes unter bedeutungsschwangerem Raunen eine Geschichte einleitet, die es so noch nicht gegeben hat.

Taxi Nummer Fünf.

„Jahrelang war es wie vom Erdboden verschluckt, bis es beinahe in Vergessenheit geraten ist. Doch seit letzter Woche ist es wieder da. Schon einmal hat man die Bevölkerung gewarnt, in dieses Fahrzeug einzusteigen, denn es bringt einen nicht dorthin, wohin man will, sondern wohin man muss. Und wohin man muss, ist nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Mal sind es Meetings, die so manche Geschäftsleute verpasst haben, weil sie stattdessen zum Krankenhaus gefahren wurden. Andere entgingen einer Massenkarambolage, weil der Fahrer sie nicht wie gewünscht zum Autorennen brachte. Eine Warnung, die ohne Folgen blieb, denn manche ‚Fahrgäste' hat man nie wieder gesehen..."

Trotz der lauen Luft spüre ich, wie ein Eishauch meinen Nacken entlang streift und sich mir die feinen Härchen im Genick senkrecht aufstellen. Ein Taxi, das mich dorthin bringt, wohin ich muss?

„... auch diesmal kann sich niemand erinnern, welche Farbe dieses Taxi hat und was für ein Kennzeichen es trägt, denn es existieren weder Fotos noch Filmaufnahmen von ihm..."

Oh ja, ich weiß genau, wohin ich muss. Doch nicht ohne gründliche vorherige Recherche.

... und wieder raten wir Ihnen dringend davon ab, in dieses Taxi einzusteigen. Und noch ein Tipp zum Schluss: Auch ein Uber ist keine Lösung. Denken Sie an unsere Worte und sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt."

Ich weiß zwar nicht, was ein Uber ist, aber ich bin fest entschlossen, dieses Taxi zu finden. Hoffentlich gelingt mir das noch vor Perth.

Zitat: 26 Wörter - Text: 1397 Wörter - insgesamt: 1423 Wörter

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