Kapitel 18 : Back on line

♪♫♪ Get me to the place I'm standing, there's a reason down below
Maybe there's something in me, trying to take another ride. ♪♫♪
-INXS „Back on line"-

Eintauchen in die grenzenlosen Galaxien des Wissens, und alles was man dazu braucht, ist ein halbwegs stabiles Internet? Im Prinzip eine schöne Idee, wenn es in diesem Internet nicht vor lauter Blödsinn nur so wimmeln würde, wie zum Beispiel, dass Elvis noch lebt.

Kann gar nicht sein, habe ich bei dieser „Nachricht" gedacht, schließlich schlug die Meldung damals an meinem zwanzigsten Geburtstag ein wie eine Bombe, mitten hinein in unseren ersten Auftritt vor einer Handvoll von Partygästen. Zum Feiern hatte danach von uns keiner mehr Lust. Würde er tatsächlich noch irgendwo leben, wäre das eine echte Sensation. Oder das hier, wenn wir schon bei Verschwörungstheorien sind: Vögel gibt es nicht mehr, weil die US-Regierung sie durch Drohnen ersetzt hat, um ihre Bürger zu überwachen, und sie sitzen auf Stromleitungen, um ihre Akkus aufzuladen. Oder der Klassiker, wissenschaftlich bewiesen und von Grey's Anatomy – Evas Lieblingssendung - erfolgreich widerlegt: dass ein Blitz niemals an derselben Stelle ein zweites Mal einschlägt. Aber da bin ich unschlüssig. Was wäre, wenn doch? Aber so oder so - ich wäre ja schon froh, wenn wir überhaupt mal eine vernünftige Verbindung bekämen, denn dann könnte ich mir nämlich selbst mein eigenes Bild davon machen, was Fake News sind und was nicht, und was sie vor allem über das unrühmliche Ende meines besten Freundes verzapfen.

Bisher waren die Informationen dazu recht dürftig und widersprüchlich noch dazu. Während sich die einen an den Obduktionsbericht halten und die Selbstmordtheorie stützen, glauben andere an einen Unfall bei einem aus dem Ruder gelaufenen Experiment. Und ich schwöre, wenn ich tiefer grabe, kommen noch weitere Verschwörungstheorien ans Licht, wie zum Beispiel die von dem Mord, der auf das Konto der sizilianischen Mafia gehen soll. Zu tiefergehenden Recherchen bin ich bisher jedoch noch nicht gekommen.

Aber warum eigentlich?

Ob es etwa daran liegt, dass das Netz bisher in jeder dieser kleinen Siedlungen auf unserem Weg nach Perth alle paar Minuten zusammengebrochen ist? Gina, Wirrida, Malbooma – da war ja mehr Verlass auf das marode Getriebe unseres Geländewagen, der nach unserem letzten Besuch in der Werkstatt endlich wieder läuft wie eine Eins. Ach, wenn doch nur alles so laufen würde. Mir geht nämlich diese verdammte Radiomeldung nicht mehr aus dem Sinn. 75000 Stimmen, damit wir in die Hall of Fame aufgenommen werden können? Leider aber ohne unseren Frontmann, für den sich diese Ernennung wie die Krönung für sein Lebenswerk angefühlt hätte.

Oder liegt es vielmehr daran, dass ich in Wirklichkeit ein erbärmlicher Feigling bin? Die schnöde Wahrheit ist, dass ich mich bisher nicht wirklich dazu durchringen konnte und seit Hunderten von Kilometern um den berühmten rosa Elefanten wie um den heißen Brei herum kreise.

Schließlich haben wir dann doch noch ein Hotel gefunden, das über eine erstaunlich gute Internetverbindung verfügt. „Kein Wunder", sagt die nette Dame an der Rezeption zu mir, „schließlich befindet sich nicht weit von hier die OTC International Satellite Earth Station, da müsste es schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht."

Na, wenn das nichts ist, denke ich mir, frage mich aber gleichzeitig, warum ich nicht auf der Stelle in Jubel ausbreche und worauf ich eigentlich noch warte. Solange Eva duscht, könnte ich die Zeit doch nutzen und mich an den ersten verfügbaren Computer setzen, doch will ich das? Möchte ich nicht viel lieber erst mal alleine losziehen und bei einem Bierchen oder auch zwei meine Gedanken sortieren. Denn noch brennender, was wirklich an jenem 22. November 1997 geschah, interessiert mich, was aus meinen Lieben daheim geworden ist. Beth, Andy, Jon, meine Eltern... Am liebsten würde ich mich ja auf der Stelle nach Perth beamen, vorausgesetzt sie lebten noch dort; vorausgesetzt, ich lebte noch dort.

Oder ich lebe in diesem Jahr überhaupt noch. Ja, vermutlich wird es das sein, was mich bisher von gründlicheren Nachforschungen abgehalten hat: die Möglichkeit, dass es mich wie Michael ebenfalls dahin gerafft haben könnte. Oh Gott, das wäre tatsächlich der große GAU. Denk nach Tim, denk nach, versuche ich diese Horrorvorstellung nicht zu dicht an mich herankommen zu lassen, aber leider ist der Schaden nun schon angerichtet, und ich beschließe, es jetzt erst recht darauf ankommen zu lassen, die erste Flasche zu exen und dann die erstbeste Quelle anzuzapfen, die mir in meinem angeschlagenen Zustand einfällt: Wikipedia. Ein Mausklick, und schon baut sich die gewählte Seite in einem bisher noch nie gekannten Tempo auf, nachdem ich meinen Namen eingegeben habe:

Nicht zu verwechseln mit dem amerikanischen Investor und Lifestyle-Guru Tim Ferriss oder dem wissenschaftlichen Schriftsteller und NASA-Berater Timothy Ferris, geboren 1944."

So sehr mich die Biografie des klugen Kopfs hinter der Voyager Golden Record im Normalfall auch interessieren würde, gebe ich nicht der Versuchung nach, vom eigentlichen Ziel meiner Suche abzuschweifen. Und tatsächlich finde ich schon in der nächsten Zeile die gewünschte Information.

„Timothy William Farriss (* 16 August 1957) ist ein australischer Musiker sowie Gründungsmitglied und Leadgitarrist der Rockband INXS."

„Ist ein australischer Musiker", nicht „war ein australischer Musiker", mehr muss ich nicht wissen, um grenzenlose Erleichterung zu fühlen. Hurra, ich lebe auch in 2023 noch. Alles andere hätte sich wohl ziemlich schräg angefühlt, sowohl für mich als auch meine Familie. Wie gerne wäre ich doch jetzt bei ihnen. Bereits im nächsten Moment aber schiebe ich dieses Verlangen beiseite. Erstens werden weder sie noch mein Ich von heute mich in dieser Gestalt erkennen, doch gerade letzterem darf ich keinesfalls über den Weg laufen. Unter keinen Umständen darf ich meinen eigenen Weg kreuzen, auch wenn das alles andere als einfach wird; spiele ich doch längst mit dem Gedanken, mit Hilfe des Internet alles über sie herauszufinden.

Außerdem wäre da noch unsere Reiseroute. Wenn ich mich recht erinnere und Eva nicht wieder spontan irgendwelche Abstecher unternehmen möchte, kann es nicht mehr lange dauern, bis wir Perth erreichen – und bis dahin möchte ich gewappnet sein.

Mit Evas Smartphone, das ich ihr unter dem Vorwand, mein Akku wäre leer, abgeluchst habe, bin ich vor die Tür gegangen. Aber nicht, um nur mal kurz zu telefonieren. Sondern um im Innenhof unseres Hotels bei einem Drink online weiterzusuchen. Nach Informationen über mich. Doch dann hat mich der sich über unserem Viertel wölbende und mit unzähligen Sternen übersäte Himmel so fasziniert, dass ich plötzlich Lust bekommen habe, die Umgebung zu erkunden. Und ehe ich mich versehe, befinde ich mich auf der von Araukarien gesäumten Hauptstraße von Ceduna.

Mehr durch Zufall entdecke ich in einer Seitenstraße einen Pub mit einem Biergarten im Freien, wo nur vereinzelt Leute sitzen und die Aussicht genießen. Ja, von dieser kleinen Anhöhe aus kann man trotz der späten Stunde die Teleskope in der Ferne gerade noch so mit bloßem Auge sehen, und das auch nur, weil der Horizont hinter ihnen in irisierenden Farben zu pulsieren scheint. Merkwürdig, dass sie trotz der uns trennenden Kluft von vierunddreißig Kilometern zum Greifen nah erscheinen, und mindestens genauso seltsam wie die Tatsache, dass ich dieses Flackern nicht zum ersten Mal sehe. Genaugenommen, verfolgt es uns schon seit Woomera. Normal ist das nicht, und ich klammere mich an den Gedanken, dass es dafür eine logische Erklärung geben muss. Wäre doch gelacht, wenn sich diese nicht finden ließe. Wozu halte ich denn sonst Evas Smartphone in der Hand, wenn nicht dafür?

This place is old, it feels just like a beat up truck, I turn the engine but the engine doesn't turn

Wie zum Hohn schallen die rockigen Klänge einer kalifornischen Rockband aus der offenen Kneipentür quer durch den Biergarten. Wobei wie von einem Truck gestreift, mit einem Piano oben drauf, viel besser passen würde. Denn anstatt mir Seiten anzuzeigen, die plausible Erklärungen für meine Beobachtungen liefern könnten, geht ein neues Fenster auf und zeigt Dutzende von Seiten mit meinem Namen an. Oder besser gesagt, die meiner Namensvetter. Anscheinend bin ich aus Versehen auf den letzten Suchverlauf gekommen, den ich beim Verlassen unseres Zimmers gestartet hatte. Ein Link springt mir dabei ganz besonders ins Auge.

Ex-INXS-Gitarrist auch weiterhin verschwunden. Perth: Rätselraten um den mysteriösen Verbleib von Tim Farriss, den man seit Wochen nicht mehr gesehen hat. Bisher sind sämtliche Versuche, Familie und Management mehr als ein knappes Statement zu entlocken, ins Leere gelaufen. Offiziell heißt es zwar, der ehemalige Leadgitarrist unterziehe sich aufwendigen Reha- und Physiomaßnahmen nach seiner schweren OP an der linken Hand in 2015. Dafür munkeln andere Quellen, seit seinem verlorenen Zivilprozess, der ihn teuer zu stehen kommen wird, traue er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit."

Reha? Physio? Schwere OP an der linken Hand? Ich soll untergetaucht sein wie Agatha Christie vor hundert Jahren? Ich hätte bei Wikipedia bleiben sollen, denn was ich da lese, zieht mir die Schuhe aus:

„Im Januar 2015 verlor Farriss bei einem Bootsunfall mit einer Seilwinde einen Finger, der zwar in einer aufwendigen Operation wieder angenäht werden konnte – trotz intensiver Physiotherapien ist seine Zukunft als Musiker jedoch ungewiss, da er sich nach eigenen Aussagen grifftechnisch nur noch auf Anfängerniveau befindet. Trotz aller Bemühungen und Aufbietung einer Reihe von Zeugen hat am 28. Januar 2022 der Oberste Gerichtshof von New South Wales das 2019 aufgenommene Verfahren beendet, und zwar zu Gunsten der Beklagten, während der Kläger zusätzlich zu dem ihm nicht zugesprochenen Schmerzensgeld nun auch noch die Kosten der Gegenseite tragen muss."

Zitat: 28 Wörter - Text: 1515 Wörter - insgesamt: 1543 Wörter

PS: In der Kapitelüberschrift verbirgt sich kein Schreibfehler - „on line" an Stelle von „online" ist beabsichtigt und hat einen Grund.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top