Kapitel 17 : Newsreel Babies

♪♫♪ The nature of your tragedy is chained around your neck. ♪♫♪ –INXS „The stairs"-

Lichter in Spektralfarben, an einem irisierenden Himmel, hell aufleuchtend wie die berühmten Opale aus Coober Pedy, von denen ich bisher noch keinen einzigen zu Gesicht bekommen habe, und vermutlich auch nicht mehr sehen werde: Unter anderen Umständen hätte ich dieses außergewöhnliche Naturschauspiel sicherlich ausgiebig bewundert, wäre da nicht dieser seltsame Traum – oder das, was ich einen Moment lang dafür gehalten habe.

Dass man sich niemals aussuchen kann, in wen man sich verliebt – geschenkt! Dass dieses Spielchen aber auch in entgegengesetzter Richtung funktionieren kann, hatte irgendwann bei mir dazu geführt, dass ich diese Erfahrung aus meinem Gedächtnis streichen wollte. Mit mäßigem Erfolg, wie sich jetzt gezeigt hat. Denn hätte ich tatsächlich vergessen, dass die erste Stimme, in die ich mich mit gerade mal vierzehn Jahren verliebt hatte, seine gewesen war, dann wäre nicht der Wunsch als Vater meiner Gedanken dazwischen gegrätscht und hätte mir nicht ein um Jahrzehnte verspätetes Nachbild meiner Fantasien von damals beschert.

Ich sehe mich schon im Außenbereich einer Kneipe sitzen und Michael auf mich zukommen, um mit mir zu reden - ganz in Weiß, wie in meinem Traum vor dem Beinahe-Crash mit dem Känguru. Reden... über meine Veränderung, die sich Beth nicht mehr schönreden kann und die bereits auch anderen aufgefallen ist? Oder über das, was wirklich dahinter steckt? Doch wenn ich damit herausrücke, habe ich den Freifahrtschein in die Klapse sicher.

Okay, ich könnte mir auf die Schnelle auch irgendeine obskure Begründung an den Haaren herbei ziehen, indem ich behaupte, durch den Unfall wäre meine Festplatte gelöscht worden und ich hätte sogar verlernt, wie man Gitarre spielt. Leider aber bin ich in der Kunst, das Blaue vom Himmel herunter zu flunkern, genauso bewandert wie darin, über unangenehme Dinge den Mantel des Vergessens zu breiten, wie schon so oft in meiner Vergangenheit. Nämlich gar nicht.

Oder soll ich alles so weiterlaufen lassen wie bisher, auch auf die Gefahr hin, dass ich Beth so erst recht in Michaels Arme treiben und sich Leslies angebliches Seemannsgarn tatsächlich als echt herausstellen würde? Mit Sicherheit gäbe das den totalen Stress. Und wenn's richtig dumm läuft, würde sich deswegen sogar die Band auflösen – meine ganz persönliche Horrorvorstellung. Andererseits aber bliebe vielleicht Michael genau jener Höllentrip erspart, der mit großer Wahrscheinlichkeit zu seinem viel zu frühen Ableben führen wird: Kein lauschig-feuchtfröhlicher Abend in Kopenhagen, aber auch kein Streit mit einem aufgebrachten Taxifahrer, gefolgt von einem in ein Schädel-Hirntrauma mündenden Sturz. Die Liste dessen, was außerdem noch alles nicht geschehen würde, ist nicht gerade kurz, und vermutlich wird auf ihr der Obduktionsbericht genauso wenig auftauchen wie die damit verbundenen Spekulationen wegen des fehlenden Abschiedsbriefs.

Und damit, liebe Freunde, wären wir in das Paralleluniversum eingetreten, das wir nie erschaffen wollten.

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie der Schatten der Araukarie an der Seite des kleinen Biergartens in Bewegung gerät und eine Gestalt in Jeans und Lederjacke preisgibt, die sich in dem Streifen goldenen Lichts, das sich aus der Kneipe ergießt, als Michael entpuppt.

Déjà-vu oder Vision? Am Himmel zeigen sich rötliche und pastellgrüne Lichter. Hinter ihrem wilden Pulsieren verblasst sogar das Licht der Sterne, die das Dunkel nur deshalb wie weitverstreute Diamanten überziehen können, weil die Luft so unglaublich klar und frei von unnötigem Streulicht ist. Das Tor zur Nullarborwüste: Nicht umsonst hat man sich diesen Ort ausgesucht, als es darum ging, einen geeigneten Platz für die gigantischen Satellitenschüsseln zu finden, die ich in der Ferne gerade noch so erkennen kann. Flackernde Lichter? Goldenes Licht in den Fensteröffnungen? Wehe, das wird jetzt so ein Final-Destination-Moment. Fehlt nur noch von Musik begleitetes Gelächter aus der Kneipe...

„Können wir reden?"

Reden, das sagt sich so leicht. Wie denn, würde ich am liebsten zurückgeben, wenn die Stimme versagt und die Knie weich werden, die schweißfeuchten Handflächen noch nicht mit eingerechnet, beim Blick in diese Augen...

Natürlich sind es seine Augen. Aber ist es denn jemals anders gewesen?

Ein französischer Dichter hat einst gesagt, man sähe nur mit dem Herzen gut und das Wesentliche sei für die Augen unsichtbar. Ach, wäre mein Herz doch nur blind – denn was ich vor mir sehe, ist ein völlig anderer Mensch als die Bühnenpersönlichkeit, die ihr Publikum Abend für Abend bis zur letzten Note fest in der Hand hat. Igor, leg den Schalter um!

Wie damals bei Freddy, läuft es mir heiß und kalt gleichzeitig den Rücken hinab, auf der Bühne gibt er die Rampensau, und ist privat doch so ganz anders. Und da begreife ich, was Beth dazu gebracht hat, ihm ihr Herz auszuschütten. Denn wo ich bei anderen so oft das Gefühl habe, sie seien stets auf dem Sprung und voller Angst, eine noch interessantere Begegnung zu verpassen, noch während sie mit dir reden, besitzt Michael die seltene Gabe, sich in einem Gespräch auf sein jeweiliges Gegenüber voll und ganz einzulassen. Fear of missing out? Nicht bei ihm, denn bei ihm hast du das Gefühl, dass du in diesem Moment für ihn der wichtigste Mensch der Welt bist. Und vielleicht auch der einzige. Aber genau das macht mir auch Angst.

Denn wer kommt schon gegen Blicke bis auf den Grund der Seele an? Blicke voller Wärme, Sensibilität und Mitgefühl, doch jetzt lese ich noch etwas anderes darin: Zerbrechlichkeit und Schmerz.

Und diesen Menschen soll ich belügen? Nur weil ich Angst habe, meine wahre Identität zu enthüllen.

Bravo, Nicole – da hast du dich ja in eine schöne Zwickmühle hinein manövriert! Wie willst du da bloß wieder raus kommen?

„Ich dachte, wenn wir beide schon nicht schlafen können, dann...", versucht Michael, das lähmende Schweigen zu durchbrechen, erreicht damit aber nur, dass ich mich jetzt erst recht wie beim Murmeltiertag fühle, den man um Wochen vorgezogen hat. Ich schwöre, wenn jetzt noch die Jukebox zu dudeln anfängt, dann...

I walked along the avenue, I never thought I'd -

Oh no! Als ob ich es geahnt hätte! Es wäre ja auch zu schön gewesen, aber ich wollte es ja nicht wahrhaben. Gleich wird sich mein Traum wiederholen. Oder sollte ich Vorahnung sagen? Uns beide grüßt das Murmeltier? Nicht, wenn ich es verhindern kann.

Können wir reden?

Nein, diesmal ist es kein Traum. Diesmal laufe ich wirklich davon. So weit die Füße tragen und ich mit meinem Handicap komme.

Unheimliche Schattenlichter. Eine Leuchtreklame weckt meine Aufmerksamkeit. Ein Kino? Ich wusste gar nicht, dass es in diesem Kaff so etwas gibt. Aber ich wusste ja so vieles nicht. Hektisch blicke ich mich um. Anscheinend bin ich alleine in dieser Parallelstraße, in der die allgegenwärtigen Araukarien Fehlanzeige sind.

„Unheimliche Schattenlichter – Twilight Zone : The Movie"

Obwohl nach diesem Tag noch mehr Horror nun wirklich nicht mehr geht, beschließe ich, eine Karte zu lösen. So wie meine Reise bisher verlaufen ist, kann mich nun wirklich nichts mehr schocken. Da kommt mir so ein absurdes Mysterienspiel und die damit verbundene Ablenkung von meiner Misere wie das auf den Plakaten angekündigte doch gerade recht. „Time Out, Kick the can, It's a good life, Nightmare at 20,000 Feet" – na, wenn das nichts ist! Außerdem würde mich von den anderen hier niemand vermuten. Steven Spielberg ist einer der Regisseure, und Dan Aykroyd spielt auch mit? Das gibt den Ausschlag, und so finde ich mich keine zehn Minuten später in der hintersten Ecke wieder, um das Spektakel auf mich zukommen zu lassen.

Doch noch ist es nicht soweit. Es folgt als Relikt aus vergangenen Zeiten ein Vorprogramm, von dem ich gedacht hatte, man hätte es längst eingemottet. Leider falsch gedacht, denn anscheinend hat der Betreiber einen Narren an der Wochenschau gefressen. Newsreel Babies: zuerst die weltweiten Neuigkeiten, dann der Rückblick auf Geschehnisse in Australien und Neuseeland und zum Schluss die Lokalnachrichten.

„Perth. Verstärkt häufen sich Berichte über Personen, deren Verschwinden mit den Sichtungen eines rätselhaften Taxis in Verbindung gebracht werden. Da es von dem Fahrzeug, das man im Volksmund auch unter dem Namen ‚Taxi Nummer Fünf' kennt, kein brauchbares Bildmaterial gibt, können wir nur mutmaßen, ob es sich um jenes Taxi handelt, von dem es heißt, es bringe einen nicht dorthin, wohin man will, sondern wohin man muss. Wir raten dringend davon ab, in dieses Fahrzeug, über dessen Farbe sich Augenzeugen uneins sind, einzusteigen."

Der Rest der Vorstellung rauscht ungesehen an mir vorbei. Ein Taxi, das mich von hier fortbringen könnte? Oh, ich weiß genau, wohin ich muss – und rein zufällig möchte ich auch da hin.

Aber werde ich diesem ominösen Taxi jemals begegnen? Und falls ja, wann?

Zitat: 15 Wörter - Text: 1387 Wörter - insgesamt: 1402 Wörter

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top