Kapitel 16 : What would you do

... wo zuvor noch die Sonne versunken ist, huschen nun diffuse Lichtreflexe in immer neuen Pastelltönen über den Abendhimmel; Sonnenwinde in Jadegrün, Ultramarinblau und sattem Rosa in einer irrwitzigen Geschwindigkeit...  -Timothy William Farriss (2023)-        *)

„Ceduna. Norfolk-Tannen säumen die Main Street und sind charakteristisch für die malerische Kleinstadt mit knapp 3000 Einwohnern an der Westküste von South Australia."

Während das eingeschaltete Aufnahmegerät läuft, leiere ich wie mechanisch meinen Text herunter. Der besteht zum Teil aus Wissen, das ich mir vor meiner Reise aus Reiseführern und dem Internet angelesen habe und an das ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern kann. Dumm gelaufen: So wie's aussieht, waren meine vielen Stunden auf Wikipedia für die Katz.

Leise seufzend lehne ich mich gegen den Stamm einer dieser Tannen und lasse das Diktaphon sinken, um die letzten Tage Revue passieren zu lassen. Die fächerartigen Äste der anderen Tannen in meinem Sichtfeld erstrecken sich wie fremdartige Scherenschnitte in den von Schwarz und Blau über Weiß und zu einem blassen Apricot irisierenden Abendhimmel. Schwarze Silhouetten, wie alles um mich herum. Die Bäume, die Straßenlaternen, die Häuser mit in blassem Gold leuchtenden Fenstern.

I walked along the avenue, I never thought I'd meet a girl like you...

Der Abend könnte so friedlich sein, wären da nicht das fröhliche Gelächter und die laute Musik, die aus der offenen Kneipentür schräg gegenüber auf mich einströmen und meine Gedanken mit einem absurden, wie aus der Zeit gefallenen Soundtrack untermalen. Umso absurder nehmen sich meine Worte aus, die ich als nächstes auf Band festhalte: „In der Sprache der Aborigines bedeutet der Name des Städtchens so viel wie Ruheplatz. Ein schöner Gedanke und vor allem so passend, wenn man wie wir nach drei Tagen mit erheblicher Verzögerung ankommen, weil unser Fahrer den ausgeklügelten Zeitplan nicht einhalten konnte. So viel zum Thema ‚wir fahren nachts' – ich sag nur eins: Reifenpanne."

Ich erwähne noch kurz das damit verbundene Warten auf das Ersatzfahrzeug, natürlich viel kleiner und ohne Schlafkojen, dann schalte ich das Gerät ab. Wozu mache ich mir die Mühe überhaupt noch? Und außerdem muss von dem, was während jener drei Tage in mir vorgegangen ist, niemand etwas wissen, denn meine persönliche Achterbahn der Gefühle geht niemanden etwas an.

Ob du nicht mit ihm reden kannst? Reden... Gute Idee, aber worüber?

Dabei kann ich Beth nur zu gut verstehen: Zu erleben, wie sich der geliebte, sonst so offene und lebensfrohe Partner immer mehr abkapselt, jegliche über das absolute Minimum hinausgehende Zweisamkeit meidet und alle zaghaften Versuche von Zärtlichkeit an sich abprallen lässt, muss für sie an der Grenze des Erträglichen sein. Jede andere hätte längst Krach geschlagen oder sich in die Arme eines anderen geflüchtet - aber nicht Beth. Hätte sie sich jetzt auf eine Affäre mit dem besten Freund ihres Mannes eingelassen, wäre ich die Letzte, die ihr das übel genommen hätte. Und trotzdem kann ich mir dieses Szenario nicht vorstellen. Hätte sie denn sonst nach dem letzten Strohhalm gegriffen und Michael gebeten, ja geradezu angefleht, mich in einer ruhigen Minute beiseite zu nehmen? Für ein Gespräch über... ach nee, das hatten wir schon. Aber warum sollte ich mir über das Worüber den Kopf zerbrechen, wenn weder das Wie noch das Wo geklärt worden waren? Und da wurde es schwierig.

Im Bus? Unmöglich, wenn wir vermeiden wollten, dass sich andere in das Gespräch hinein tauchsiederten, denn hier hatten die Wände Ohren. Und draußen vor dem Bus? Nur unwesentlich besser, denn da hatten sie Augen. Und Nasen, die das Drama förmlich rochen. Kein Wunder, dass sich die Suche nach der ruhigen Minute schwieriger als gedacht gestaltete. Denn sobald der Fahrer für die ihm vom Gesetz vorgeschriebene Ruhepause am Straßenrand anhielt, war immer irgendetwas anderes los. Und so ging das Spielchen weiter bis nach Ceduna. Denn natürlich hatte ich die Blicke bemerkt, die mir Michael während der Fahrt zuwarf, und zwar immer dann, wenn er sich sicher war, dass weder ich noch jemand von den anderen davon etwas mitbekam.

Das war nicht die Sorte von Blick, die Außenstehende annehmen ließ, unser Sänger würde nur auf die ideale Gelegenheit zum Reden warten und hätte den passenden Augenblick noch nicht gefunden. Was ihm übrigens auch gar nicht ähnlich gesehen hätte. Nein, es war genau die Art von Blick, bei der man sich wieder in die Schulzeit zurückversetzt sieht, wenn man im Unterricht geistig abdriftet und versonnen seinen Schwarm anschmachtet, ohne zu bemerken, dass der Lehrer inzwischen Wind davon bekommen hat. Mit dem Ergebnis, dass es der Rest der Klasse dann auch weiß und man für den Rest des Jahres für sie zum Gespött wird.

Nochmal passiert mir das nicht, hatte ich mir damals geschworen. Und darum murmelte ich auch was von „frische Luft" und „ein Bier brauchen", als der Rest der Truppe unser Gepäck in das kleine Motel brachte, welches von unserem Manager in Windeseile für uns organisiert worden war. Nur mal kurz verschwinden, noch ehe mir andere folgen konnten, muss ich wohl gedacht haben. Nur blöd, dass bei mir bisher überhaupt nichts gelaufen war, wie ich es geplant hatte.

♫ .., meet a girl like you...

Nur mal kurz verschwinden, bevor mir noch jemand folgen kann? Inzwischen sind Stunden vergangen, und mit dem einen Bierchen war es für mich auch nicht getan. Es spielt auch keine Rolle, ob ich bei diesem jemand an einen Bestimmten gedacht habe, denn wenn man vom Teufel spricht...

Aus dem Schatten der Bäume, die den Außenbereich der Kneipe flankieren, löst sich eine Gestalt: Michael. Das wird nicht gut ausgehen, und am liebsten würde ich mich selbst in den Hintern beißen; denn dass er mich früher oder später irgendwo aufstöbern würde, nachdem ich mich so unfein auf Französisch empfohlen hatte, hätte ich mir eigentlich auch denken können.

Wobei mir später lieber gewesen wäre. Oder noch besser: gar nicht.

Also wappne ich mich mental für den kommenden Schlagabtausch, fest damit rechnend, dass er auf mich zustürmt, um mich mit „Wir müssen reden" zu begrüßen. Doch nichts davon geschieht; weder spiegeln sich die von mir erwarteten Vorwürfe auf seinem Gesicht wider, noch verliert er auch nur ein Wort. Statt dessen bewegt er sich quälend langsam auf mich zu, so dass ich mich zusammennehmen muss und ich mich frage, ob seine betonte Gelassenheit Provokation ist oder einfach seine Art. Und während sich mit jedem seiner Schritte eine seltsame Spannung in der Luft zwischen uns aufbaut, verstummt das Gelächter aus der Kneipe so plötzlich, als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt. Dafür dudelt die Jukebox unbeirrt weiter.

... with auburn hair and tawny eyes, the kind of eyes that hypnotize me through,
Hypnotize me through ...

Es sind seine Augen, die Bände sprechen und mir die Sprache verschlagen – Augen, wie flüssiger Bernstein und so dunkel wie Portwein im Glas, funkelnd und verführerisch glänzend. Augen, mit einem Blick bis auf den Grund meiner Seele.

... a beam of light comes shining down on you ...

Dazu diese Lippen, mit einem sinnlichen Schwung, gleich dem eines Engels, begleitet von einem Leuchten, das aus seinem Inneren zu strahlen scheint, so hell wie unzählige Sonnen und dabei so kühl wie das Licht des gerade erst aufgegangenen Mondes, an einem Himmel, über den feurig schimmernde farbige Schatten jagen...

... Aurora borealis comes in view ...

„Findest du auch keinen Schlaf..." entschlüpft ein tonloses Flüstern seinen Lippen - Lippen, die ich am liebsten küssen würde, so nah, wie wir uns jetzt sind, denn nun trennen uns nur noch Millimeter. Nicht mehr lange, und dann kann ich für nichts mehr garantieren. Außer, es kommt noch etwas dazwischen.

„Was denkst du denn", kommt es von mir zurück, „und du weißt sehr gut, dass das nicht an mir, sondern an dir liegt". Mehr muss ich nicht wissen, denn wäre es nicht um mich geschehen, würde ich nicht so einen Schwachsinn verzapfen oder kurz davor stehen, die größte Dummheit meines Lebens zu begehen. Halt! Stop! Bevor du noch wer weiß was anstellst.

Stop. Stop. Stop...

... reached out a hand to touch your face, you're slowly disappearing from my view ...

„STOP!"

Jetzt hört nicht nur Michael das Brüllen, das die Musik aus dem Radio im Bus übertönt, sondern auch ich. Benommen wische ich mir über die Augen und reibe mir die Stirn, nachdem ich wegen der Vollbremsung gegen den Vordersitz gedonnert bin.

„Da haben wir aber nochmal Schwein gehabt", höre ich Garry aufatmen, der sich in die Reihe schräg gegenüber gelümmelt hat. Schwein gehabt? Wenn er nur wüsste, wie sehr ich ihm in diesem Moment beipflichte, denn so einen seltsamen Traum hatte ich schon lange nicht mehr. Michael und ich – schon allein die Vorstellung ist so absurd, dass ich mit dem Kopf schüttle und verstohlen vor mich hin lächele. Doch das Lächeln soll mir gleich vergehen.

„Ein Crash mit einem Känguru, so dicht vor der nächsten Ortschaft?" stimmt ihm jetzt auch Jon zu „Das hätte uns Chris nie geglaubt. Nicht so kurz nach unserer letzten Panne."

Panne? Nächste Ortschaft? Ungläubig starre ich aus dem Fenster und erhasche gerade noch einen Blick auf das vorbeiziehende Ortsschild.

Welcome to Ceduna. Home of the OTC International Satellite Earth Station. Population: 2852 Est.

And I ran, I ran so far away away...

Doch es sind nicht die Umrisse der Araukarien oder der in den Himmel ragenden Satelliten, die mir die Haare zu Berge stehen lassen und elektrisierende Schauer über den Rücken jagen, sondern die seltsamen Lichter in allen nur denkbaren Spektralfarben, die über den vom Sonnenuntergang geröteten Himmel huschen.

♫ I just ran, I ran all night and day. I couldn't get away. ♫

1586 Wörter.

*) PS: Das Zitat am Anfang ist komplett meiner Fantasie entsprungen - im echten Leben sind diese Worte nie gesagt worden. Und mit diesem Kapitel habe ich es geschafft und die 20.000-Wörter-Marke überschritten.





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