Kapitel 11 : Freedom deep

♪♫♪ Show me the way, give away the truth I'm looking for
I need a new way out of here, the door is opening. Freedom take me deeper
♪♫♪

-INXS „Freedom deep"-

Der Korb, in dem locker sechs Personen Platz finden, steht bereit – doch außer Eva und mir haben sich zur verabredeten Zeit keine weiteren Passagiere eingefunden, und es werden auch keine kommen. Das wird eine Fahrt, exclusiv für uns. Nur Eva, ich und Marshall, unser Pilot: Na, dann kann es ja losgehen. Tja, könnte es – aber wenn ich geglaubt habe, dass es für uns mit Einsteigen, Abheben und Wohlfühlen so einfach getan ist, dann habe ich falsch gedacht. Aber sowas von.

Und trotzdem hat der Veranstalter mit seinem „entschweben Sie Ihren Sorgen und in den Sonnenuntergang" nicht gelogen. Schon unsere Mithilfe bei den Vorbereitungen, die das Ballonteam von uns trotz überall angepriesener Freiwilligkeit zu erwarten scheint, sorgt dafür dass ich tatsächlich auf andere Gedanken komme. Hochkonzentriert breiten wir die gigantische Ballonhülle auf der in der Abendsonne rötlich schimmernden Wiese aus. Was für eine Schlepperei – jetzt zahlt sich meine jahrelangen Erfahrungen im Tragen unserer Instrumente „on the road" aus. So ein ganzes Arsenal an Gitarren wiegt halt nicht gerade wenig, da ist doch das hier geradezu ein Klacks. Irgendwann ist es geschafft, und der Stoffberg in allen Farben des Regenbogens füllt sich mit Luft.

Eva, die sich dieses Vergnügen anscheinend schon öfters gegönnt hat, streicht andächtig über den sich langsam aufblähenden Stoff und nickt anerkennend.

„Ich sehe schon, wir haben uns das richtige Team ausgesucht. Hier sind wir in guten Händen."

Ihr Wort in Gottes Ohr, aber ich trete doch besser noch ein paar Schritte zurück und beobachte mit gemischten Gefühlen aus sicherer Entfernung, wie sich der Ballon nach und nach aufrichtet. Natürlich bekomme ich so von den Schwärmereien über ihre Erlebnisse beim Ballonfahren, bei denen sich Eva und der Pilot gegenseitig überbieten, nicht alles mit. Das wäre auch nicht anders, wenn ich unmittelbar daneben stünde, so aufgeregt bin ich. Das machen auch Worte wie „Alpenüberquerung", „Champagnertaufe" und „Aufnahme in den Hochadel", die abwechselnd von Marshall und Eva kommen, nicht besser.

Entschweben Sie Ihren Sorgen und in den Sonnenuntergang – wir kümmern uns um den Rest.

Ach ja, auch um das grässliche Gefühl, dass mich jedes Mal überkommt, wenn bei Starts die Flugzeugturbinen durchstarten und ich mich panisch an der Armlehne festklammere, während ich im Geiste nach der Spucktüte greife? Fliegen? Muss echt nicht sein. Ich weiß schon, warum ich auf Tourneen unserem Bus den Vorzug gebe. Viel Zeit, mich tiefer in dieses Thema zu verbeißen, bleibt mir jedoch nicht, denn plötzlich geht alles ganz schnell. Der Ventilator bleibt von jetzt auf gleich stehen und der kalte Luftstrom kommt zum Erliegen.

Wie aufs Stichwort setzt Marshall den Brenner in Gang und gibt das Startsignal. Eva muss natürlich noch einen draufsetzen und hievt mich hoch, damit ich über die Brüstung komme, dann schwingt auch sie sich hinterher. Begleitet von dem für Propangas so typischen Geruch und dem Fauchen des Brenners, dicht über unseren Köpfen, setzt sich noch im selben Moment unser Luftschiff in Bewegung und lässt mich für einen Moment wie versteinert innehalten. Ja, wir gewinnen an Höhe, und zwar schneller, als mir lieb ist; denn auch wenn wir innerhalb kürzester Zeit unsere Reisehöhe von dreihundert Metern erreichen, hat dieser Start mit dem verhassten Flug zu unserem Videodreh nach Prag nicht die geringste Ähnlichkeit. Nur das gleichmäßige Röcheln des Propangasbrenners erfüllt die Luft um uns herum und lässt mich die röhrenden Turbinen vergessen, bei denen sich mir stets der Magen umgedreht hat. Da sind nur absolute Ruhe und Windstille, als der Brenner schließlich für lange Zeit schweigt.

Die Luftströmung trägt uns in südwestliche Richtung auf die Küste zu, der sich dem Horizont zustrebenden Sonne entgegen. Alles sieht so friedlich aus, und doch ist die Idylle trügerisch. Wenn wir Pech haben, treibt uns der stetig in dieselbe Richtung wehende Wind direkt auf die von Wolken verhüllten Bergketten mit ihren schroffen Gipfeln zu, die die Seen unter uns umgeben. Vorsichtshalber geht Marshall nach kurzer Ansage auf fünfzehnhundert Meter – um nichts zu riskieren, wie er sagt, denn man kann nie wissen.

Mit jedem Meter, den wir aufsteigen, spüre ich, wie sich mein Puls verlangsamt und mich eine bisher nur selten erlebte Ruhe nach und nach ausfüllt: ein Gefühl, das ich längst vergessen haben muss, ergreift mein Herz mit einer stillen Freude, von der ich dachte, dass ich sie niemals wieder spüren würde. Eins zu sein mit dem Universum und frei von allem Ballast - wann habe ich mich das letzte Mal so frei gefühlt?

Frei, und vor allem glücklich... Wenn's nach mir ginge, könnten wir ewig so weiterschweben, meinetwegen auch aufs offene Meer hinaus. Doch unser Trip kann nicht ewig währen.

„Schade, dass man von hier aus nicht Dimboola sehen kann", höre ich da Eva neben mir seufzen.

Dimboola? Was will sie denn jetzt mit diesem Nest, das viel zu weit von uns entfernt liegt, als dass man es von hier oben aus sehen könnte, selbst aus einer Höhe von knapp tausend Metern nicht. Ich habe keine Ahnung, wie sie jetzt darauf kommt, wo doch von hier aus die Aussicht auf das allmählich in Sicht kommende südliche Kap schon atemberaubend genug ist. Genauso gut könnte ich mir wünschen, bis zu den rostroten Felsen der Bay of Fires im Nordosten oder gar bis nach Neuseeland blicken zu können.

Reicht ihr denn nicht die Schönheit, die uns umgibt? Was ist an diesem Ort so spektakulär, dass sie sich wünscht, ihn von oben sehen zu können? Ich wünsch' mir auch so vieles, und das schon öfters in meinem Leben. Aber bekanntlich reicht ja manchmal schon ein einziges Mal, dass es schiefgeht, und zwar gründlich. Außerdem liegt Dimboola nicht auf unserer Strecke. Es sei denn, Eva hat beschlossen, die Reiseroute bereits jetzt und ohne mein Wissen zu ändern.

Doch falls Eva mit ihrer Freundin vor unserem Freaky-Friday-Tausch über diesen Abstecher gesprochen hat, kann es nicht schaden, wenn ich mich ganz dumm stelle und die Erinnerungslücke auf den Unfall schiebe.

Nachdem sich die unter Ballonfahrern berühmte Champagnertaufe wie Sau in die Länge gezogen hat, haben wir es trotz schnellem Snack unterwegs mit Hängen und Würgen doch tatsächlich noch auf die letzte Fähre zurück aufs Festland geschafft. Gerade habe ich mich in dem winzigen Bad unserer Kabine frisch gemacht, da drückt mir Eva einen Flyer in die Hand, den sie bei der Überfahrt nach Tasmanien auf dem Schiff entdeckt hat.

Bisher bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mich für diesen tollen Tag zu bedanken – so überwältigt bin ich noch immer von diesem Trip, bei dem ich diesen traumhaften Teil Australiens zum ersten Mal bewusst von oben erleben durfte. Doch mit einem „Hier, Nicky, da müssen wir unbedingt hin!" ist sie schneller in dem Kabuff, das sich Bad nennt, verschwunden, als ich Dimboola sagen kann.

Dimboola also. Ein Vierzehnhundert-Seelen-Kaff, durch das wir bestimmt auch schon auf unseren Reisen zu unseren vielen Auftritten gekommen sind; blöd nur, dass ich mich an Details gerade so gar nicht erinnern kann. Überhaupt habe ich bisher unseren Kontinent immer nur im Vorbeifahren aus dem Bus heraus wahrgenommen. Die wenigen Male, die ich von A nach B geflogen bin, zählen nicht, weil ich mich standhaft geweigert habe, bei Starts und Landungen aus dem Fenster zu schauen – und erst einmal oben in der Luft, siehst du außer Wolken nicht viel.

Na, sieh mal einer an, stoße ich einen Pfiff aus. Während hinter der verschlossenen Tür das Wasser rauscht, staune ich dass der uralte Trick immer noch funktioniert. Sich dumm zu stellen, kann fürs weitere Leben unglaublich hilfreich sein – den Tipp habe ich von Jon, doch während mein Brüderchen ihn am liebsten dann durchgezogen hat, wenn er sich auf der High School vor unangenehmen Aufgaben drücken wollte, war ich bisher kein Fan davon. Wie gesagt, bisher. Denn was nicht ist, kann noch werden.

Dank ihm weiß ich jetzt nämlich, wieso Eva ihre Reisepläne so spontan geändert hat. Pink Lake, was zum, ist dann auch mein erster Gedanke, als ich das Faltblatt aufklappe. Was auch sonst, da das Nickys, also meine Lieblingsfarbe ist. Dummerweise gibt es in Südaustralien mehrere Seen, die so aussehen. Aber sie musste sich ausgerechnet jenen einen aussuchen, für den wir einen Umweg fahren müssen. Wie viele Kilometer nochmal?

„Als ich ihn in dieser Fernsehserie gesehen habe, musste ich sofort an dich denken", grinst sie mich auf dem Weg zur Bar an, wo wir einen letzten Absacker nehmen wollen. Als kleines Dankeschön geht der zur Feier des Tages natürlich auf mich.

„Das mit der Ballonfahrt war eine Spitzenidee", rufe ich dann auch voller Freude aus, nachdem der Drink mir die Zunge gelockert hat, „ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß."

Und das meine ich so, wie ich es sage. Ohne jeden Hintergedanken.

Zitat: 32 Wörter - Text: 1425 Wörter - insgesamt: 1457 Wörter

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