Lilja und Racon

 Befreiend war es, den Frühling zu spüren, der hier im Norden gerade erst über die Lande zog. Zartgrün das erste Laub der Birken, wogend vor tiefblauem Himmel in den sanften Westwinden, die dieser Tage voll Wärme waren. Die unbändige Kraft des erwachenden Lebens durchfuhr Lilja von Kopf bis Fuß, ließ das Mädchen vor Wonne erschauern.

War sie zuvor noch in wilden Sprüngen den kleinen Pfaden gefolgt, sank sie nun andächtig nieder, hinab in ein duftendes Blütenmeer aus Buschwindröschen. Bedacht, die zarten Pflänzchen nicht zu zerdrücken, fand sie einen Ort im Moos, da sie sich gemütlich betten konnte.

Den Blick hinauf in die schwankenden Kronen gerichtet versank Lilja im Fluss der Energien. Ein endloser Kreislauf, mit dem sie in Vertrautheit verschmolz, bis sie kaum mehr unterscheiden konnte, wo ihr eigener Körper endete und das Leben um sie herum begann.

Erst, als da ein neuer Eindruck in das friedliche Miteinander trat, den sie in keinster Weise zuordnen konnte, kehrte sie zurück.

Zwischen den Birken stand ein junger Jäger, sie aus intensiv strahlenden, hellgrünen Augen musternd. Erschrocken fuhr Lilja auf, worauf sich sein Mundwinkel in einem Ausdruck leiser Belustigung hob.

Von großer Gestalt war er, dabei jedoch sehnig und schlank und von einer Eleganz, wie sie hochgewachsenen Menschen oft fehlte. In einfaches Leder gehüllt, und doch schien er vor Anmut und Stärke zu strahlen. Ungebändigt umfloss langes, rabenschwarzes Haar seine erhabenen Züge, die bereits von der ausdrucksstarken Schärfe eines erwachsenen Mannes waren.

Seine stattliche Erscheinung trug einen Hauch von Unwirklichkeit in sich. Kurz fragte sich Lilja, ob sie wohl unbemerkt dem Schlafe verfallen war, hingestreckt zwischen den Blumen. Voller Staunen starrte sie den jungen Mann an, der sie noch immer leicht amüsiert und auch voller Neugier betrachtete.

Lang war es her, dass sie einen der stolzen Jäger zu Gesicht bekommen hatte. Sie war noch ein Kind gewesen, da sie zuletzt in Skogport geweilt und die Bewohner der wilden Lande ihrer Mutter regelmäßige Besuche abgestattet hatten. Und doch hatte sich festgesetzt, was die Seelenfrau ihrer Tochter stets vorgelebt hatte.

Aufrichtige, ehrbare Menschen waren es, denen Liljas Vater eine Heimat geschenkt hatte und die man weder zu fürchten noch zu verteufeln hatte. So verspürte sie keinerlei Angst, als der Jäger nun geschmeidig durch das Meer aus Buschwindröschen auf sie zukam. Auch ihre Verwirrung ließ langsam nach, machte einer unangenehmen Verlegenheit Platz, da sich sein spöttisches Lächeln vertiefte.

„Das also sind die Seelenfrauen? Sie sitzen im Moos und starren Löcher in die Luft?"

Seine tiefe Stimme war samtig weich, und wie er nun von hoch oben auf sie herabsah, stieg ihr die Hitze in die Wangen. Hastig kam sie auf die Beine, doch immer noch überragte er Lilja um die Länge eines ganzen Kopfes.

„Woher weißt du, dass ich eine Seelenfrau bin?", entfuhr es ihr verblüfft.

Ein weiteres Mal maß er sie mit unverfrorenem Blick von oben bis unten. „Nun, Frau trifft es wohl nicht so recht. Doch die schwarzen Haare sprechen für sich, wie auch dein entrücktes Gebaren."

Mit offenem Mund sah Lilja ihn an. Derart freche Worte war sie nicht gewöhnt, schon gar nicht von einem Fremden. Mit freundlicher Achtung begegnete man ihr stets, schließlich war sie die jüngste Tochter des Königs.

„Nicht mehr lang, dann zähle ich siebzehn Winter und kann mich sehr wohl als Frau bezeichnen", gab sie schließlich beleidigt zurück. Die Arme verschränkt und die Nase erhoben mühte sie sich um Haltung, auf dass er nicht länger merkte, wie wohl ihr sein Anblick war.

„Ein durchaus respektables Alter", lenkte der junge Jäger freundlich ein. „Wie ist dein Name?"

„Lilja", erwiderte sie sogleich, seltsam gebannt von seinem Blick, in dem sich eine unerwartete Wärme fand. Auch der leise Spott wich nun gänzlich von den ansprechenden Zügen, als er ihr ein offenes Lächeln schenkte.

„Racon", stellte er sich knapp vor, musterte sie aus faszinierend grünen Augen weiterhin voller ehrlichem Interesse.

Je länger er sie betrachtete, desto unerträglicher wurde Lilja die Stille, in der ihr hastiger Herzschlag viel zu laut erschien. Nie zuvor hatte es ihr derart die Sprache verschlagen, doch das heillose Durcheinander in ihrem Kopf ließ sich schlichtweg nicht in Worte fassen.

Auch der junge Jäger wirkte, als geriete seine bisherige Sicherheit ein wenig ins Straucheln. Schließlich fuhr er sich mit der Hand durch die langen, tiefschwarzen Haare und räusperte sich.

„Ich sollte wohl aufbrechen."

Damit wandte er sich zum Gehen, doch bevor das Dickicht ihn verschlucken konnte, fand Lilja endlich zu ihrer Stimme zurück.

„Warte", stieß sie erschrocken hervor, nicht Willens, diese wundersame Begegnung derart abrupt enden zu lassen.

Racon verhielt so plötzlich, als habe er geradezu darauf gehofft, aufgehalten zu werden. In seinen strahlenden Augen stand eine stumme Frage, und wieder huschte ein Lächeln über seine vollen Lippen. Lilja musste schlucken, bevor sie fortfahren konnte.

„Wohin gehst du?"

„Zurück in die wilden Lande", erwiderte er und nickte mit dem Kopf in Richtung Norden. „Hier jenseits der Grenze sind die Wälder doch ein wenig zu bevölkert!"

Kurz verspürte Lilja einen Stich, doch als der junge Jäger ob ihrer offensichtlichen Enttäuschung unerwartet ein leises Lachen ausstieß, nahm sie erneut die Wärme wahr, die seinen Zügen entsprang.

„Du könntest mich begleiten", fuhr er fort. „Zwar hat man mich vor den Seelenfrauen gewarnt, doch allzu gefährlich scheinst du nicht zu sein!"

Mit offenem Mund starrte Lilja ihn an. Ihr Herz schien sich überschlagen zu wollen, Racons Blick hielt den ihren gefangen und sie konnte kaum begreifen, was darin geschrieben stand.

Er meinte es ernst. Da war kein Anzeichen mehr von Spott, keine Spur von der Überheblichkeit, mit der er ihr zu Anfang noch begegnet war.

Lang musste Lilja nicht überlegen. „Bist du auch morgen noch hier?", erkundigte sie sich atemlos.

Da nickte er. „Ich werde hier auf dich warten." Damit verschwand er endgültig zwischen den Zweigen der Birken, und kurz war es Lilja, als hätte sie all dies nur geträumt.


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