7. Gewinnspiel
»Was guckst du dir da an?«, fragte Arndt während er den Blinker setzte und auf das Gelände der Raststätte Goldbach Nord abbog. Er musste pinkeln, hatte trotz der frostigen Temperaturen Appetit auf ein Eis und musste sich darüber hinaus dringend die Beine vertreten.
Unverhofft schob Melinda ihm das Handy vors Gesicht. Arndt stieg in die Eisen. Ihre Körper flogen in die Gurte und das Handy verschwand irgendwo im Fußraum. Arndt schnaubte. Sein Herz tanzte Tango.
»Bist du lebensmüde?«. Er starrte Melinda entgeistert an. Hinter ihnen hupte eine Fahrerin in einem roten Beetle, dessen Scheinwerfer bedrohlich nah an ihrer Kofferraumklappe aufleuchteten. Mit aufheulendem Motor und an die Schläfe gelegtem Mittelfinger zog sie an ihnen vorbei in Richtung Tankstelle.
Arndt fuhr wieder an und steuerte den Wagen auf einen der Parkplätze unmittelbar vor dem weiß gestrichenen Raststättengebäude, über dessen Eingang unübersehbar das Serways-Logo prangte. Ein Vater mit Baby vor dem Bauch kam gerade heraus, eine ältere Frau in wattierter Jacke hielt ihm die Tür. Links parkte ein verbeulter gelber Wagen, aus dem drei verschlafen aussehende, junge Leute kletterten. Ihr Kennzeichen verriet, dass sie aus München kamen. Weiter hinten parkten noch drei oder vier Autos, ansonsten wirkte das Gelände verlassen. Die Woche zwischen Weihnachten und Neujahr schien für die meisten Menschen keine Zeit für eine Autoreise in den Norden zu sein.
Melinda schnallte sich ab und beugte sich über Arndts Schoß. Seine Stimme klang gereizter, als er es beabsichtigt hatte: »Was hast du vor?« Hastig presste er die Beine zusammen.
»Mein Handy. Keine Angst, ich beiße dir schon nichts ab!«
Arndt wollte nicht warten, bis sie sich durch seinen Schoß gewühlt hatte und angelte das Handy mit spitzen Fingern aus dem Fußraum. Er wischte es an seiner Hose sauber und betrachtete es eingehend.
»Bis auf ein gesplittertes Display scheint alles in Ordnung zu sein ...«
Melinda riss die Augen auf. »Was? Zeig her!«
Arndt fing an zu grinsen. »Spaß!«
Sie buffte ihm in die Seite, schlug ihm auf die Schulter, verwuschelte sein Haar und küsste ihm aufs Auge während sie ihm das Handy aus der Hand zog.
»Und, was wolltest du mir zeigen?«, fragte Arndt mit Blick auf das Telefon.
Melinda stellte das Display heller und den Ton lauter.
»Ich habe mir in der Mediathek den Tagesthemen-Bericht von gestern Abend zuende angesehen. Wollte wissen wie der Typ ...«
»Der Schatzsucher?«
»Genau. Ole Mackensen heißt er. Hat sich ganz schön aufgespielt, weil er schon am zweiten Tag seines Urlaubs diesen Wahnsinnsfund gemacht hat.«
»Ein Profi?«
»Eher nicht, schätze ich. Vielleicht hatte er das Ding ja schon in der Tasche, als er auf die Fähre ging. Solche Broschen kann man überall bestellen. Hier ...« Sie hielt ihm das Handy hin. »Wolfland.com« bot über 100 Broschen und Spangen in den verschiedensten Formen und vielfältigsten Mustern an. Viele davon enthielten stilisierte Hakenkreuze, die Swastika, das uralte Symbol für Sonnenkraft und Fruchtbarkeit.
Arndt schnallte sich ab, streckte sich zum Rückspiegel und überprüfte den Sitz seiner Frisur. »Und was interessiert dich so an diesem Wikingergedöns?«
Melinda ließ das Handy in der Manteltasche verschwinden, schloss den Mantel, richtete eine hellblaue Haarklemme und drehte sich zu ihm. »Sagen wir es so. Ich finde den Umstand äußerst spannend, dass gerade jetzt, wo wir uns auf dem Weg nach Norderney befinden, dort ein solcher Fund gemacht wird.«
Arndt zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, vielleicht finden die da oben ja alle Nase so ein Zeug im Sand!«
Melinda fettete sich die Lippen mit einem Bienenwachsstift ein und schmatzte ausgiebig. Ihr Mund glänzte, als sei er aus Eis.
»Außerdem hat Franky so alten Kram gesammelt. Er wollte immer ein echtes Mittelalterschwert haben. War ihm aber zu teuer. Selbst die nachgemachten kosten noch mehrere Tausend Euro.«
Arndt biss die Zähne aufeinander. Nur ganz leicht, so dass Melinda es nicht mitbekam. Also daher wehte der Wind. Dies war kein gemeinsamer Urlaub, dies war eine Franky-Gedenktour.
Franky. Immer wieder dieser Franky. Franky war tot verdammt nochmal.
Im nächsten Augenblick wollte er sich für seine Gedanken am liebsten ohrfeigen. Schließlich hatte er Franky sein Leben zu verdanken. Er war es gewesen, der seinen Entführer Freisler abgelenkt und ihm so die Flucht aus der Waldhütte ermöglicht hatte. Außerdem, wie wäre es ihm selbst ergangen, wenn er einen geliebten Menschen verloren hätte? Hätte er ihn nach wenigen Monaten vergessen? Wohl kaum. Es war gut und richtig, dass es Melinda gelungen war, ihn zu überreden und sie nicht direkt zur Insel, sondern einen Schlenker über Cuxhaven fuhren. Sie wollte einen Blumenstrauß auf das Grab ihres verstorbenen Freundes legen und anschließend seine Wohnung in der Südersteinstraße aufsuchen, die nun ihr gehörte. Sie befand sich direkt über einem sehr guten italienischen Restaurant, wie Melinda nicht aufhörte zu schwärmen. Arndt erwog, auf das geplante Raststätten-Schnitzel mit Pommes zu verzichten und stattdessen später am Tag mit Melinda Pasta und Pizza zu speisen. Das würde er hungertechnisch schon aushalten. Wollten sie anschließend tatsächlich noch wie geplant Frankys Mutter besuchen wollen, dann mussten sie sich jedoch beeilen. Von Cuxhaven bis Norddeich Mole benötigten sie laut Navigator etwas über zwei Stunden. Die letzte Fähre nach Norderney legte um 18:30 Uhr ab. Jetzt war es kurz vor elf. Arndts Blase drückte schmerzhaft. Und es war Zeit für ein Eis.
Arndt war schon dabei, die Glastür aufzuziehen und ins Gebäude zu gehen, als er bemerkte, dass Melinda nicht nachkam. Sie stand noch immer am Parkstreifen, wenige Meter von seinem Wagen entfernt und starrte auf ein Schild. Ihren empörten Blick und die gerunzelte Stirn erkannte er auf hundert Meter. Immer wieder schüttelte sie den Kopf während sie sich Mantel und Schal enger um den Körper zog. Dann löste sie sich aus ihrer Erstarrung, immer noch kopfschüttelnd, und kam zu ihm.
»Unglaublich! Hast du das gesehen? Das steht doch tatsächlich ›Frauenparkplatz‹! Warum nicht gleich den Behinderten-Parkplatz oder den Hundeparkplatz daneben bauen? Glauben die etwa, Frauen sind unfähig, eine längere Strecke über eine Raststätte zu laufen, ohne vergewaltigt zu werden?«
Arndt suchte nach passenden Worten, weil er glaubte, die Zusammenhänge seien eigentlich ganz andere. Er wollte Melinda beruhigen, kam aber zu dem Schluss, dass sie recht hatte. Zumindest was die Person Melinda Sieben betraf. Auch er selbst konnte sich mit etwas Mühe diskriminiert fühlen. War es verboten, als Mann auf einem Frauenparkplatz zu halten? Und weshalb gab es keine Männnerparkplätze? Er wischte den Gedanken zur Seite und folgte Melinda, die inzwischen im Restaurant verschwunden war.
Melinda kaute an einem Salat, der ihr nicht zu schmecken schien.
»Wie Knüppel auf den Kopf! Da fehlt das Dressing!« Sie stand auf und kam mit einem Kännchen zurück, das sie Arndt voller Stolz präsentierte. »Siehst du, man braucht bloß freundlich nachfragen ...!«
War sie noch immer sauer auf das Parkplatzschild? Arndt sprach es lieber nicht mehr an. Im Wechsel knabberte an seiner Nusseistüte und schlürfte seinen Milchkaffee. Draußen war das Wetter aufgeklart. Die schwere Wolkendecke hatte sich verzogen. Sonnenstrahlen tauchten die Raststätte in ein warmes Licht. Zwei Krähen hockten auf einem Mülleimer und machten sich über eine Burger-Verpackung her. Melinda pickte mit den Fingern nach einem Karottenstück, das ihr von der Gabel gefallen war.
»Je weiter wir nach Norden kommen, desto wärmer soll es werden.«
Arndt verzog das Gesicht. Ein abgebissenes Eisstück hatte seinen empfindlichen Eckzahn verkühlt.
»Das heißt, es gibt keinen Schnee auf der Insel?«
»Sieht ganz danach aus ...« Melinda schob ihm das Handy hinüber, auf dem ein wackeliges Youtube-Video lief. Arndt sah Dünen, blauen Himmel, vom Wind gebogene Kiefern. Dann rutschte ein bekanntes Gesicht ins Bild.
»Das ging aber fix!«
»Er hat einen eigenen Kanal. Sechs Videos, 73 Abonnenten. Selbstbewusstsein kann man ihm wirklich nicht absprechen.«
Ole Mackensen filmte sich selbst, während er über die Insel ging und in geschwollenen Worten über seinen Broschenfund referierte. Länger als dreißig Sekunden hielt Arndt das nicht aus. Er widmete sich wieder seinem Eis, das er nun in den Kaffee tunkte und anschließend genüsslich ableckte.
»Noch so ein Typ, dem die mediale Aufmerksamkeit nicht bekommt.«
»Schön gesagt!«
»Danke sehr!«
Melinda schüttelte den letzten Tropfen Dressing über ihre Salatreste.
Der Teller war leer, die Tasse ausgetrunken und das Eis aufgegessen. Melinda blätterte in einem Kundenmagazin, wobei sie sich immer wieder umblickte und das Abgedruckte mit der Wirklichkeit verglich.
»Nach diesem Werbeblatt müsste das hier ein 3-Sterne-Tempel sein! Wer fällt auf sowas rein? Lauter schöne Menschen, glückliche Kinder, das beste Essen der Welt und immer gutes Wetter ...«
Sie sprach lauter als notwendig. Trotz ihrer Empörung las sie weiter. Zwischendurch informierte Arndt sie über seinen Zeitplan. Melinda nickte geistesabwesend. Kurz vor ihrem Halt hatte sie sich wieder mehrere Tabletten in den Mund geschoben. Die schienen jetzt ihre Wirkung zu entfalten. Melinda wurde mürrisch und bekam diesen glasigen Blick, den er an ihr kannte. Gleichzeitig wurde sie von einer grenzenlosen Unrast erfasst.
»Oh, ein Kreuzworträtsel!«, rief sie. »Hast du einen Kuli für mich?«
Ohne Arndts Antwort abzuwarten, sprang sie auf und lief hinüber zu den Zeitschriften, um kurz darauf mit einem Stift zurückzukommen.
Nach wenigen Minuten hatte sie das Rätsel gelöst.
»Das Lösungswort lautet: Autoreise. War ja puppig! Man kann auch was gewinnen. Einen Serways-Gutschein über 250 Euro. Da machen wir doch mit!«
Sie griff nach dem Handy, schrieb eine SMS und schickte sie ab. Damit war das Thema für sie erledigt und sie schielte hinaus zum Parkplatz, wo sich jetzt drei Krähen um Essensreste stritten. Eine zerfetzte braune Papiertüte flog durch die Luft. Verdrehte Pommes fielen heraus. Die jungen Leute lehnten an ihrem Wagen und tranken Cola aus Dosen. Ein älterer Mann verstaute einen Rollator im Kofferraum. Als ein Bully rückwärts einparkte und der Fahrer, ein rotbärtiger Typ mit Glatze und Lederklamotten die Heckklappe öffnete, sagte Arndt: »Mackensen scheint nicht der einzige zu sein, der sich fürs Schatzsuchen interessiert!«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top