5. Liebe wärmt

Bullerjahn erklärte sich freiwillig bereit, den Bericht über ihren nächtlichen Ausflug zum Kriegerdenkmal und dem rostigen Fass ohne Inhalt zu verfassen. Weihnachten war vorüber und es dürstete ihn nach Aktenaroma, Bürokaffee und einem guten Zigarillo am Präsidiumsfenster mit Blick auf den verwaisten Parkplatz, der um diese Zeit eine so entspannte Ruhe ausstrahlte. Die Tage zwischen den Jahren empfand Bullerjahn stets als etwas Besonderes. Es waren Tage des Innehaltens und der Besinnung, an denen das Alte zu Geschichte wurde und das Neue noch nicht greifbar war. Er nannte es die Nichtzeit. Die Büros standen bis auf wenige Ausnahmen leer, die Kantine war geschlossen. Er hatte das Präsidium für sich und fühlte sich bei seinen Spaziergängen durch die Flure wie der letzte Mensch auf Erden. Vielleicht auch wie der erste Mensch auf einem neu entdeckten Planeten. Niemand würde es bemerken, wenn er Petersens Hulk-Figur in der Teeküche versteckte oder Steffens Familienbild auf dem Schreibtisch gegen eines von den Simpsons tauschte. Meistens beließ er es bei diesen Nichtzeit-Phantasien. Und für das eine Mal, damals vor vielen Jahren, als die Pferde mit ihm durchgegangen waren, schämte er sich bis heute. Man versteckte keine angestochene Ravioli-Dose im Büro seines Kollegen und wartete darauf, dass sich der bestialische Gestank nach verrottetem Lebensmittel über alle Flure verteilte. Aber Roddeberg war ein gemeiner Hund gewesen und der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel.

Bullerjahn freute sich auf 2018. Seit Melindas und Arndts Ankunft im Präsidium gehörten Nasebohren und Bleistiftspitzen der Vergangenheit an. Oder wie Bea es nach Abschluss der Stella-Ermittlungen formuliert hatte: »Ich habe die beiden lieb, aber sie scheinen tatsächlich das Böse zurück nach Osterode gebracht zu haben. Worüber wir uns aufrichtig freuen können!« Diese Einschätzung teilte Bullerjahn nur bedingt. Er hielt sie für die Beschreibung einer Schriftstellerinnen-Seele. Doch das sagte er ihr nicht. Bullerjahn wusste, dass Bea an einem neuen Roman arbeitete, in den sie die Ereignisse der letzten Wochen einfließen ließ. Alle paar Tage löcherte sie ihn mit Fragen. Meinst du, das ist zu gewagt? Kann man das so schreiben? Verrate ich an dieser Stelle zu viel? Er half Bea gern. Manchmal fragte er sich jedoch, ob sie ihre Stelle als Verwaltungsfachkraft irgendwann aufgeben und sich ganz der Schriftstellerei widmen würde. Ihre Einnahmen durch Buchverkäufe und Lesungen reichten bereits an die Hälfte ihres regulären Gehalts heran. Was konnte sie erst verdienen, wenn sie einen Verlag fand und ihre Wintergeschichte »Schneegestöber« fürs Fernsehen verfilmt war? Die Veröffentlichung ihrer Bücher als Selfpublisherin verschlang viel Zeit. Um alles musste sie sich selbst kümmern. Lektorat, Umschlaggestaltung, Marketing. Unternehmungen am Wochenende oder gemeinsame Urlaube waren beinahe unmöglich. Es war ihm daher nicht schwergefallen, auf Christiansens Wunsch einzugehen und dem Präsidium wieder ganztags zur Verfügung zu stehen, Altersteilzeit hin oder her. Zumal die Kollegen Petersen und Steffens in letzter Zeit häufig abwesend waren. Petersen aufgrund der anstehenden Scheidung und Steffens wegen seiner nervigen Töchter, die ständig umzogen, einen Hundebetreuer brauchten oder anderweitig gepudert werden wollten.

Der Bericht war schnell geschrieben. Nachdem Bullerjahn ihn im zugehörigen Verzeichnis abgelegt hatte, klickte er sich noch ein wenig durchs World Wide Web. Er fand mehrere Artikel, die sich mit dem verrosteten Fass in der Südheide beschäftigten, von dem man damals angenommen hatte, dass es als illegales Waffen- und Sprengstofflager der Rote-Armee-Fraktion gedient hatte. Gewisse Ähnlichkeiten mit dem Fass am Kriegerdenkmal waren nicht von der Hand zu weisen, doch im Gegensatz zum Heidefass enthielt ihres nur Müll und modrige Waldluft.
Das Handy klingelte. Es war Bea. Sie bat ihn, auf dem Rückweg einen kleinen Einkauf zu erledigen. Brot, Butter, Aufschnitt, Obst und Gemüse, die Tageszeitung und zwei Flaschen Cola. Danach sollte er bei ihrem Haus vorbeifahren und den roten Rollkoffer aus dem Schlafzimmer holen. Bullerjahn holte tief Luft. »Und was ist mit deinem Mann? Ich möchte ihm nur ungern begegnen.«
»Keine Bange. Der tingelt schon seit Tagen wieder durch die Gegend. Nimm die Dienstwaffe mit!« Sie gluckste und Bullerjahn freute sich darauf, bald wieder bei ihr sein zu dürfen. Bea, ihr Göttergatte und das Haus. Das war auch so eine Never-Ending-Story. Gern wechselte ihr Mann unvermittelt die Schlösser aus, ließ irgendwelche zwielichtigen Typen bei sich übernachten, die das ganze Haus verwüsteten. Vor Wochen hatte er beinahe die Küche abgefackelt. Die wichtigsten Dinge hatte Bea bereits herausgeholt und in Bullerjahns Wohnung gebracht, doch das Haus gehörte zur Hälfte ihr. Sie würde nicht tatenlos zusehen, wie ihr unfähiger Mann es in eine Ruine verwandelte.
»Melinda und Arndt fahren zusammen weg. Schön nicht!«
»Wohin?«
»Norderney.«
»Bei dem Mistwetter?« Bullerjahn sah nach draußen, wo der Wind vereinzelte Schneeflocken durch die Luft trieb und ein bleigrauer Himmel über der Stadt lag. Bea seufzte. »Du weißt doch, Liebe wärmt! Und außerdem, so schlecht ist es da im Winter gar nicht! Habe mir mal ein paar Videos auf Youtube angesehen ...«
Bullerjahn schüttelte den Kopf. »Meine Recherche-Göttin. Wie immer bestens informiert!«
Heiligabend, kurz vor Mitternacht, als sie allein vor dem leuchtenden Baum im Wohnzimmer saßen und Punschreste aus großen Weihnachtsbechern schlürften, hatte Bea ihm aus dem Grobskript ihres neuen Romans vorgelesen, einem Krimi, der auf einer Nordseeinsel spielte. Bullerjahn hielt es nicht für abwegig, dass sie Melinda ein paar kleine Arbeitsaufträge in den Reisekoffer legen würde: Augen und Ohren offenhalten, aktuelle Inselgerüchte aufschnappen, Fotos schießen, Leute beobachten und jeden Abend per Telefon Bericht erstatten. Er wollte Bea nicht darauf ansprechen. Weshalb auch? Bullerjahn liebte sie für ihre Eigenwilligkeit und Unrast, durch die sein Leben sich sehr zum Positiven gewendet hatte. Es war nicht zu leugnen. Als lahme Schnecke benötigte man ab und zu einen kräftigen Tritt in den Hintern.

Sollte ihr Mann wider Erwarten doch anwesend sein, wollte Bullerjahn sich nicht lautstark ankündigen. Also ließ er den Wagen an der Hauptstraße stehen und ging die letzten Meter zu Fuß zum Haus. An der Gartenpforte blieb er stehen und sah sich um. Die Garage war verschlossen und die von einer dicken Schneeschicht bedeckte Auffahrt leer. Keine Spuren auf dem Weg zum Haus und der Außentreppe, bis auf winzige Abdrücke, die von einer Katze oder einem Marder stammen konnten. Der Briefkasten am Gartentor quoll über vor Rechnungen und Postwurfsendungen. Bullerjahn nahm davon, was er tragen konnte, zog den Haustürschlüssel aus dem Mantel, betrachtete ihn kurz und hoffte, dass er noch passte, bevor er das Tor aufdrückte und die Stufen zum Eingang hinauf stapfte.
Er hatte Glück. Der Schlüssel passte. Mit einem kräftigen Schulterstoß verschaffte er sich Zugang, wobei ihm ein paar Supermarktprospekte aus der Hand rutschten und sich auf dem Kachelboden verteilten. Er streckte die Nase in die Luft. Ein Geruch nach kaltem Rauch, verbranntem Essen und altem Männerschweiß schlug ihm entgegen. Bullerjahn schmiss den Papierstapel auf die Flurgarderobe, schloss die Tür und stieg sogleich die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Den roten Rollkoffer fand er schnell, auch wenn er sich zuvor einen Weg über Dreckwäsche, umgefallene Bücherstapel und Berge alter Illustrierten bahnen musste. Auf dem Weg zurück nach unten warf er einen Blick ins Badezimmer. Im Waschbecken und der Badewanne leuchteten riesige Dreck- und Kalkflecken. Der Duschvorhang hing nur noch an einem Plastikring. Ausgelaufenes Duschgel auf dem Boden. Schmuddelige Handtücher an den Haken. Schimmel in den Ecken.

In der Küche hatte Beas Mann eine imposante Leergutsammlung angelegt. Bullerjahn schätzte die Zahl der Bier- und Schnapsflaschen auf etwa 250. Sie standen auf, unter und neben dem Tisch, auf der Arbeitsplatte, im Fensterbrett, auf dem Kühlschrank. Aus dem Abwaschbecken und dem offen stehenden Backofen quollen Töpfe mit pelzigen Essensresten in Dunkelrot, Braun und Schwarz. Die rußigen Verfärbungen an der Wand hinter dem Herd, der Ablufthaube, den Wandschränken und der Decke, Zeugen des Küchenbrandes, waren nicht zu übersehen.
Bullerjahn sah aus dem Fenster in den winterlichen Garten. Ein Spatz hüpfte in ein schief stehendes Vogelhaus und suchte vergeblich nach Futter. Eine magere graue Katze schlich sich heran. Bullerjahn klopfte an die Scheibe. Die Katze sah erschrocken auf und lief dann in Richtung des Nachbargrundstücks davon. Weiter hinten im Garten sah er einen kleinen Schuppen, an dessen Tür auffällig viele Schlösser baumelten. Wer viele Schlösser benötigt, hat entweder Angst oder viel zu verbergen, manchmal auch beides, dachte Bullerjahn. Er besah sich seinen Schlüsselbund, doch bis auf die Schlüssel für die Haustür und den Briefkasten hatte Bea ihm keine weiteren gegeben. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich die Nase. Hoffentlich bekam er nicht auch noch eine Erkältung. Er hatte erst einmal genug von den Ruhetagen. Es war auch möglich, dass ihm die Ausdünstungen dieses Hauses zusetzten. Nicht auszudenken, was hier alles durch die Luft flog. Er griff nach dem Rollkoffer, nahm alle Briefe und Rechnungen, welche für Bea wichtig sein konnten, aus der Garderobe und verließ erleichtert das Haus.

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