2. Warme Decken
Das Zimmer war klein aber saugemütlich. Nachdem Arndt Melinda abgeholt und gemeinsam mit Bea in seine Wohnung und ins Bett getragen hatte, war sie innerhalb weniger Augenblicke in einen tiefen Schlaf versunken, aus dem sie erst nach drei Uhr am zweiten Weihnachtsfeiertag erwachte.
Sie lag auf einem Klappsofa. Um sie herum Kissen in Grün, Braun und Beige, mehrere zerwühlte Decken mit Blumenmustern, ein abgegriffener Teddybär mit kleiner goldener Glocke um den Hals. In Verlängerung ihrer Füße stand ein prallgefülltes Bücherregal an der Wand. Dass sie Lust bekam, die Rückentitel zu studieren und sich eines der Bücher herauszuziehen, wertete sie als Zeichen ihrer beginnenden Gesundung. Die gelben Vorhänge links von ihr waren halb zurückgezogen. Schneewolken trieben über den Himmel, aus denen noch immer dicke Flocken herabsanken. Graues Licht drückte sich zu ihr ins Zimmer. Ein Winter wie man ihn sich wünschte.
Die Wände des Zimmers waren weiß gestrichen und mit zahlreichen Rahmen unterschiedlichster Größe und Form behängt, in denen Melinda Schwarzweißfotos, Zeichnungen und Drucke, hauptsächlich waldreiche Landschaftsmotive erkannte. In der Ecke neben dem Bücherregal streckte eine Goldpalme ihre gefiederten, saftig-grünen Blätter in die Höhe. In diesem Zimmer stimmte eine Menge. Arndt bewies Geschmack. Geschmack und Pflanzenliebe. Vielleicht blieb Melinda doch noch ein paar Tage länger hier.
Die Tür öffnete sich leise und Arndt kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Teekanne, eine Tasse mit Hirschmuster und ein Teller voller Zwieback standen. Arndt setzte sich zu Melinda aufs Bett und stellte das Tablett neben ihr ab.
»Ich hoffe, das Bild stört dich nicht!«
Melinda ließ den Blick erneut über die kleinen und großen Rahmen gleiten. »Ganz und gar nicht. Sie sind hübsch!« Doch sie bemerkte an Arndts Blick, dass er etwas anderes gemeint hatte. Melinda setzte sich auf, drehte den Kopf zur Wand in ihrem Rücken herum und erschrak.
Spontan legte Arndt ihr seine warme Hand auf den Arm. »Soll ich es abhängen?«
»Nein, nein. Schon in Ordnung. Ich dachte bloß ...«
»Auch ich dachte, man könne es nicht von der Wand nehmen, doch wie du siehst, hat unser Höhlenbesuch noch weitere Wunder vollbracht.«
Melinda starrte auf das gigantische Ölgemälde, welches noch vor kurzem scheinbar unverrückbar in Arndts Büro hing und das Hermann Ebert, der ehemalige Präsidiumschef kurz vor seinem Freitod gemalt hatte. Der gezeigte Waldsaum war jetzt in goldenes Sommerlicht getaucht, in dem zwei Rehe standen und dem Betrachter vertrauensvoll entgegenschauten. Rechts war eine Holzbank zu sehen und am linken Bildrand führte ein schmaler Trampelpfad in dunkles Grün. Der Wandersmann allerdings war verschwunden und Melinda bezweifelte, dass er in dieser Szenerie jemals wieder auftauchen würde.
Sie griff nach der Taschentuchpackung, welche sie neben ihrem Kissen fand, zog ein Tempo heraus, faltete es auseinander und schnaubte hinein. »Weshalb hast du es mit nach Hause genommen?«
Arndt zuckte mir den Schultern. »Es gefällt mir. Und ich wollte irgendwie auch ein Kapitel abschließen.«
»Wollte Eberts Frau es nicht haben?«
»Ich habe sie angerufen. Sie wusste nichts von dem Bild und wollte es auch nicht kennenlernen. Ebert hat es wohl in seinem Kellerarchiv gemalt.«
Melinda wischte sich über die Nase. »Oder im Wald.«
»Oder das.« Arndt strich ihr mit der Hand über die Stirn. »Es scheint dir wieder besser zu gehen!«
»Dein Buchregal interessiert mich.«
»Bediene dich!« Er goss ihr dampfenden Tee in die Tasse. Obwohl Melindas Nase noch immer verstopft war, nahm sie das kräftige Aroma von Anis, Fenchel und Blütenhonig wahr. Sie angelte einen Zwieback vom Teller und knabberte daran herum.
»Wo bewahrst du eigentlich deine Skizzenbücher auf?«
Arndt bedachte Melinda mit einem warmen Lächeln.
»Ganz schön neugierig, Frau Sieben!«
Melinda betrachtete den Zwieback in ihrer Hand. »Sind sie hier?«
»Vielleicht!«
»Zeigst du sie mir? Du hast mal gesagt, dass es viele sind ...«
»Es sind 34 Stück.«
Melinda tat, als schnappe sie nach Luft.
»34?«
»Na ja, 34 und ein halbes.«
»Du zeichnest wieder?«
»Ich versuche es. Trink erstmal den Tee, dann zeige ich es dir.«
Melinda nahm Arndts Hand, drehte sie herum und küsste ihm in die Innenfläche. Fehlte bloß noch, dass sie ihm die Finger abschleckte. Wie ein Hund. Melinda erkannte sich selbst nicht wieder. Der Zustand des Krankseins machte einen so verdammt dankbar, dachte sie. Sie schielte nach dem Teddy und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie ihn an sich gerissen und geherzt hätte. Sie trank von dem Tee. Dann sah sie Arndt mit ernstem Blick an.
»Du hast die Malereien an der Höhlenwand gesehen. Du weißt, weshalb du diese Dinge zeichnest! Kannst du das für dich akzeptieren?«
Arndt verzog den Mund. Melinda konnte nicht abschätzen, was er dachte.
»Und du? Kommst du damit klar, dass dein Vater und Zippo sich deiner bemächtigt haben?«
Melinda schluckte. »Sie haben sich meiner nicht bemächtigt. Ich habe ihre Seelen oder was auch immer das war freiwillig hereingelassen!«
»Ist das nicht im Endeffekt dasselbe?«
»Ich denke nicht!«
Arndt stand auf. »Trink den Tee, iss den Zwieback, dann geht es dir bald besser.« Sein Tonfall war unmissverständlich, er verspürte keine Lust, über ihre Erlebnisse in der Heidehöhle zu sprechen. Melinda akzeptierte das. Für den Moment zumindest. Bestimmt ergab sich später noch die Gelegenheit für eine vertiefte Diskussion. Sie rutschte zurück unter die Decke, den Zwieback noch immer in der Hand, in den sie jetzt so fest hineinbiss, dass er in tausend winzige Krümel zerbrach.
Melinda musste erneut eingeschlafen sein, denn als sie die Augen öffnete, war vor ihrem Fenster bereits die Nacht hereingebrochen. Ihre Kopfschmerzen waren verschwunden und sie fühlte sich kräftig genug, um aufzustehen. Sie musste dringend aufs Klo. Vorsichtig richtete sie sich auf und rutschte auf dem Hintern von der niedrigen Matratze. Schön vorsichtig. Nur nichts überstürzen! Als sie schließlich stand, eine Hand am Bücherregal, spürte sie keinen Schwindel. Unter den nackten Füßen spürte sie einen weichen Teppich. Melinda grinste beglückt in die Dunkelheit des Zimmers. Sie tastete sich bis zur Tür, öffnete sie und trat in einen nur durch eine Tischlampe auf dem Telefontischchen erleuchteten Flur. Rechts war die Badezimmertür, links öffnete sich der Gang in eine große Wohnküche, in der sie Arndt mit Bullerjahn am Tisch sitzen sah. Melindas Blase drückte unmenschlich, doch das Gespräch der beiden Männer klang interessant. Also blieb sie auf der Türschwelle ihres Zimmers stehen und lauschte.
»Kerner und Aust waren draußen und haben sich das angesehen, Arndt. Ein verrostetes Fass mit allerlei Gerümpel. Liegt wahrscheinlich schon seit hundert Jahren da oben vergraben. Wenn Christiansen will, dass wir einen Blick darauf werfen, tun wir ihr diesen Gefallen.«
Arndt ließ ein unzufriedenes Brummen hören. »Es ist Weihnachten! Und ich habe Urlaub!« Arndt klag wie ein kleiner Junge. »Und überhaupt, wer läuft bei diesem Wahnsinnsschnee, um diese Uhrzeit auf einer Kriegsgräberstätte herum und wühlt nach alten Fässern?«
Melinda hörte wie der Korken einer Bierflasche abgezogen wurde. Melinda sah, wie Bullerjahn den Stuhl zurückschob und aufstand.
»Städtische Waldarbeiter. Es gab Schneebruch. Zu viel Schnee auf morschen Bäumen und knacks. Du verstehst? Einer der Bäume lag quer auf der Straße.«
»Und beim Abtransport der Bäume haben sie das Fass ...?«
»Exakt. Lag bloß eine Handbreit unter der Erde. Verschiebe dein Bier bitte auf später und lass uns los!«
Jetzt stand auch Arndt auf. Widerwillig, mit grimmigem Gesicht. Bullerjahn und Arndt. Wie ein Vater mit seinem widerborstigem Sohn, dachte Melinda und zog sich leise in ihr Zimmer zurück, als die beiden Männer sich anschickten, die Küche zu verlassen. Sie drückte die Tür ins Schloss und lauschte. Jacken wurden von der Garderobe genommen. Jemand ließ einen Autoschlüssel in der Tasche klimpern. Kurz nachdem die Wohnungstür zugefallen war, hörte Melinda Arndt im Hausflur noch etwas sagen: »Aber nicht länger als 'ne halbe Stunde! Melinda geht's nicht gut.« Schritte auf der Treppe. Die schlagende Haustür. Melinda lag schon wieder unter ihrer warmen Decke, als vor dem Haus nach mehreren Versuchen ein Wagen ansprang und davonfuhr.
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