1. Einsicht

Die Erkältung, welche Melinda fünf Tage vor Weihnachten aus der Heidehöhle mitgebracht hatte, erwies sich als äußerst hartnäckig, während es Arndt schon früher wieder besser ging. Heiligabend hatte Melinda noch durchgestanden. Bullerjahn servierte ein Festtagsmenü. Gans, Klöße, Rotkohl, Tiramisu. Die Lichter am Baum verströmten Kraft und Lebensenergie, Bea las aus ihrem Roman »Schneegestöber« vor und Arndt stimmte immer wieder unerwartet Weihnachtslieder an, in welche die anderen mal mehr mal weniger textsicher einfielen. Melinda selbst hielt sich zurück. Ihre Stimme klang wie ein rostiges Reibeisen. Da half auch der viele gute Rotwein nichts.
Spät nachts brachte Arndt sie auf eigenen Wunsch nach Hause, zurück in ihre Gartenhütte, feuerte den Ofen an, bereitete ihr das Bett auf der Küchenbank und wiederholte zum Abschied einmal mehr das Angebot, sie bis zu ihrer Gesundung in seinem Gästezimmer übernachten zu lassen. Melinda lehnte auch dieses Mal ab. Sie faselte etwas von selbstgewähltem Schicksal, dem Lauf der Dinge und dem unabwendbaren Gang der Geschichte. Arndt legte ihr die Hand in den Nacken. Sie hatte Fieber. Er wartete bis sie sich hingelegt hatte, zog ihr die Decke bis zum Hals und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Morgen Früh komme ich und gucke nach dir!« Melinda streckte die Hand in die Luft, was so viel heißen konnte wie »Mach's gut«, »Alles prima« oder »Verzieh dich«.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war die Hütte eiskalt. Melindas Atem malte weiße Wölkchen in die Luft. Draußen fiel Schnee. Es war der erste Weihnachtstag, doch Melinda kam es vor, als hätte sie eine Woche lang geschlafen und morgen wäre bereits Silvester. Erst der Blick aufs Handy gab ihr Gewissheit. Hatte sie gestern Abend gedacht, das Schlimmste überstanden zu haben, so bewies ihr der Körper heute Morgen das Gegenteil. Der Kopf schmerzte, alle Glieder taten ihr weh. Die Augen brannten. Das Bettzeug war klitschnass geschwitzt. Sie hatte viel dummes Zeug geträumt. Jan Dressler war darin durch einen Wald mit sehr dunkler, klebriger Erde gestiefelt, Zippo an seiner Seite. Melinda war ihnen gefolgt. Plötzlich brach ihr Vater, der Schamane, aus einem Dickicht hervor, stürzte sich auf Dressler und brüllte dabei unverständliches Zeug. Melinda wollte helfen und sah sich plötzlich in Zippo verwandelt, hechelnd, sabbernd, jaulend. Ihr Vater griff nach ihr und setzte sie sich auf die Schulter, um kurz darauf mit ihr zusammen zurück ins Dickicht zu springen, in dem es ein tiefes Loch gab, in das sie hineinrutschten wie Alice in den Kaninchenbau.

Ihr Fieber war gestiegen, das wusste sie auch ohne Thermometer. Und der Traum hatte noch etwas anderes bewirkt. Nach Tagen der inneren Betäubung, der Ruhe und Seligkeit, waren die Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Wochen mit voller Wucht zu ihr zurückgekehrt. Der Fund der falschen Stella Blume im Osteroder Stadtwald, die Avancen des Försters Jan Dressler, ihre Tablettenlust, der Klinikaufenthalt, das Auseinanderbrechen der Ermittlergruppe, der Verlust des Falles, das Erbe ihres getöteten Lebensgefährten Franky, eine Wohnung in Cuxhaven, ein Haus auf Norderney, die Erkenntnis, dass sie all die Monate den Geist ihres Vaters mit sich herumtrug, dessen Leichnam in einer verborgenen Höhle im Wald auf sie wartete, Zippos Tod und schließlich die Entscheidung, beide in der Heidehöhle zu begraben und ihre Seelen in sich aufzunehmen. War das zu viel für einen einzelnen Menschen? Konnte sie diesen riesigen Berg an Unbegreiflichem allein bewältigen? Es gelang ihr ja nicht einmal, sich ihrer Rauschmittelabhängigkeit zu stellen und einen Therapieplatz zu finden.

Sie schlug die Decke zur Seite, stellte erst das eine, dann das andere Bein auf den knarzenden Dielenboden und zog sich an der Tischkante nach oben. Der Schwindel überkam sie so plötzlich, dass sie keine Gelegenheit mehr fand, sich abzustützen. Sie glitt zur Seite, schlug mit der Stirn gegen die Sitzkante und knallte rücklings zwischen Bank und Tisch auf den Boden. Dort blieb sie liegen, den Mund voller Staub und Hundehaaren, unfähig sich vor oder zurückzubewegen, geschweige denn aufzurichten. Sie spürte die Kälte an ihrem Kopf, welche sich durch die Bretterritzen zu ihr herantastete. Und dann kamen die Tränen. Erst eine, dann zwei und kurz darauf ein ganzer Gebirgsbach, begleitet von einem Schütteln des Körpers, einem Zittern und Sichaufbäumen, das heranwallte wie ein Kältegewitter. Trauer und Verdruss vieler Monate brachen sich Bahn. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug wieder und wieder auf die Dielenbretter neben sich ein. Nein. So sehr die Einsicht auch schmerzte, sie schaffte das nicht allein. Der Mensch war ein soziales Wesen und nicht für das Alleinsein gemacht. Wenn sie sich nicht aufgeben, nicht verlieren wollte, was ihr lieb und teuer war, dann musste sie Arndt um Hilfe bitten. Sie stellte das rechte Bein auf und stieß sich mit dem Körper von der Bank ab, so dass ihre ausgestreckte Hand das Smartphone auf dem Tisch erreichte. Melinda wählte Arndts Nummer. Er nahm sofort ab und versprach, in zehn Minuten bei ihr zu sein.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top