Kapitel 5

Norajas Augen schweiften über die schlecht verputzte Wand der Zelle. Blanke Ziegel starrten sie an, welche durch bröckligen Zement zusammengehalten wurden. Seit Stunden verharrte ihr Blick auf ein und derselben Stelle. Tanzende Schatten zuckten darüber, und selbst in den wenigen Minuten der Dunkelheit auf dem Revier hatte die Notbeleuchtung dafür gesorgt, dass auch in dieser Zeit die Ziegel ihr hämisch entgegenblickten. Ein muffiger Geruch umgab sie und schien sich in jede ihrer Zellen niederzulassen. Schimmel gemischt mit Schweiß. Eine Mischung, die sie so schnell nicht wieder vergessen würde. Das Revier, auf welchem sie gelandet war, hing offensichtlich seit einigen Jahren in der Zeit fest. Renovierungsarbeiten schien es schon ewig nicht mehr gegeben zu haben und der Service ließ deutlich zu wünschen übrig. Nachdem sie sich auch hier vor Ort geweigert hatte, ihre Personalien herauszugeben, war sie ohne Umschweife in dieser Kapsel der 60er-Jahre gelandet. Mehr als eine einfache Metallbank, die kaum breiter als ihr Hintern war, einem Pissoir und einem minimalistischen Blecheimer, gab der Raum nicht her. Nun, abgesehen von den massiven Eisenstäben, die sie von ihrer Freiheit trennten. Nicht, dass Noraja diese nicht hätte überwinden können, aber immerhin war sie mehr oder weniger freiwillig hier. Also ergab sie sich ihrem Schicksal und starrte die ersten Stunden auf den Eimer und philosophierte über dessen Nutzen. Doch egal, wie viele Ansätze der Lösung ihr kamen, keine davon wollte näher beleuchtet werden, und so war sie schließlich an der unverputzten Ziegelwand hängengeblieben, gegen die sie mittlerweile ihre Füße lehnte. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, damit wenigstens irgendwas halbwegs weich lag. Ihre brennende Nackenmuskulatur und das Stechen in ihrem Steiß zeigten ihr aber mehr als deutlich, dass sie zu alt für diesen Scheiß war. Seufzend zog sie ihre Kapuze tiefer ins Gesicht und verbarg ihre müden Augen darunter. Die Hoffnung auf Schlaf hatte sie aufgegeben, als die Nachtschicht ihren Dienst antrat und sich als Fettsack mit Atemproblemen herausstellte. Denn trotz, dass dieser im Nebenraum saß, vernahm sie jeden seiner schniefenden Atemzüge, gefolgt von einem Röcheln und immer wiederkehrenden Hustenanfällen. Es dauerte nicht lange und Noraja betete dafür, dass er an seiner verfetteten Zunge endlich erstickte und Ruhe in die kahlen Wände einzog. Aber auch dieser Wunsch blieb unerfüllt und so war die Nacht des Selbstschutzes zu einer Nacht der Folter geworden. Und langsam fragte sie sich, was sie hier eigentlich tat und was sie sich damit beweisen wollte? Sie hatte diesem Typen die Nase gebrochen. Es war zu erwarten, dass dies Konsequenzen mit sich bringen würde. Sie hätte einfach ihre Personalien herausgeben sollen und die Anzeige wegen Körperverletzung akzeptieren können. Oder sie hätte Tyalors Pub auseinandernehmen und es noch schlimmer machen können. Aber sie mochte Tyalor, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nicht die Energie dafür. Die letzten vier Monate hatten sie geschlaucht, und sie spürte die Dunkelheit in sich. Laut, tosend und unberechenbar. Sie war sich das erste Mal seit vielen Jahren nicht sicher, ob sie wirklich noch die Kontrolle darüber hatte. Das war auch der Grund, warum sie sich hatte wegsperren lassen. Die Gefahr, dass ihr hier jemand zu nahetreten würde, war geringer als irgendwo angetrunken in einer gottverdammten Stadt voller Menschen.Doch sie hatte das röchelnde Walross nicht einberechnet und den Alkohol, der sich schleichend aus ihrem Körper verzog. Noraja konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jede Sekunde eines Katers miterleben musste. Dazu kam, dass sie sich dreckig und durchgefroren fühlte. Mit anderen Worten: Sie hatte es satt und wollte hier raus.Gerade als sie sich erheben und diesem Walross zubrüllen wollte, dass er seine letzten Kräfte sammeln und sie hier herausholen sollte, vernahm sie den verlockenden Geruch von Kaffee. Das Verlangen nach dem schwarzen Glück stieg ins Unermessliche und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Dennoch verharrte sie völlig still und konzentrierte sich auf die sanft quietschenden Schritte, die eindeutig auf sie zukamen. Sie vernahm die Präsenz einer Person, die stumm an die Gitter trat, während der Kaffeeduft stärker wurde. »Gut geschlafen?«, hallte eine, ihr wohlbekannte Stimme durch die Zelle. Der Bulle vom Abend zuvor. Wie hatte Tyalor ihn genannt? Greyson. Noraja zögerte. Räusperte sich aber schließlich. »Hatte schon beschissenere Nächte.«Sie hörte, wie Stoff auf Stoff streifte und leise raschelte. Ein Anzug. Was sonst.»Aber sicher auch bessere. Ich wusste nicht, dass Smith Dienst hat.«Sie stutzte. In seinen Worten hallte eine versteckte Entschuldigung. »Du meinst das schniefende Walross? Ja, der sollte dringend mehr auf Streife, anstatt sich seinen fetten Arsch noch platter zu sitzen.«Auch wenn Greyson es gewollt hätte, konnte er sein Lachen nicht vollständig unterdrücken. »Nun, die Frage ist, ob uns das nicht noch mehr Arbeit machen würde.«Noraja zuckte mit den Schultern. »Die Taschendiebe würde es wahrlich freuen«, murmelte sie, nahm behutsam die Beine von der Wand und fluchte. Trotz ihrer Vorsicht rieselte ein riesiger Schwall Dreck hinterher. »Was für ein Kackschuppen!«Wieder hörte sie ein unterdrücktes Lachen, was sie herumfahren und sich aufsetzen ließ. Ihr Blick traf auf erschöpfte braune Augen. Tiefe Falten umspielten diese und ließen Greyson deutlich älter aussehen, als er es wahrscheinlich war. Seine schwarzen kurzen Haare lagen fest auf seinem Schädel und sein markantes Kinn war mit dunklen Stoppeln übersät. Den Rasierer hatte er wohl am Morgen ignoriert. Doch was Noraja wirklich interessierte, waren die beiden Pappbecher in seinen Händen, aus welchen sanfter Dampf stieg. Sie wollte diesen Kaffee, aber dennoch hatte sie Stolz. Genaugenommen zu viel davon. Stille breitete sich aus und scheinbar wusste keiner der beiden weiter. Greyson seufzte schwer und trat näher an das Gitter.»Kaffee?«Bei den Göttern Noraja hatte schon Angst, er würde nie fragen.»Schwarz?«Greyson nickte. »Natürlich. So wie Noraja ihn liebt.«Diese richtete den Blick wieder zu ihm. »Du kennst also meinen Namen? Wer hat mich verraten? Der Teufel?«Wieder zuckte ein Schmunzeln über Greysons Gesicht. »Nein, den gibt es nicht.«Noraja schauderte kurz und seufzte. »Nein. Den gibt es tatsächlich nicht.«Greyson runzelte die Stirn und beobachtete sie dabei, wie sie aufstand und langsam an ihn herantrat. Sein Blick klebte erneut auf der auffälligen Narbe an ihrem Kinn. Schon am Abend zuvor war sie ihm aufgefallen, ebenso, dass sie sich über ihren Hals erstreckte und unter ihrem Hoodie verschwand. Er fragte sich, was ihr passiert war, und musste sich gleichzeitig eingestehen, dass er mit ziemlicher Sicherheit keine Antwort darauf erhalten würde. Noraja machte nicht den Eindruck, als gehörte sie zu der gesprächigen Sorte von Menschen. Wobei sich dieses Gefühl gerade änderte. Im Gegensatz zu gestern hatte sie heute schon verdammt viele Worte zu ganzen Sätzen geformt. Sie stand nun unmittelbar vor ihm und eine eigenartige Aura drang zu ihm durch. Etwas Seltsames. Dunkles, was ihm eine Gänsehaut verpasste. Ihre eisblauen Augen trugen Schatten in sich, was er im selben Moment der letzten Nacht zuschob, und reichte ihr den Becher durch das Gitter. Erst als sie ihn ergriffen hatte, trat er aus Reflex einen Schritt zurück, was wiederum dafür sorgte, dass Noraja fragend aufsah. »Schlechte Erfahrung?«Greyson kratzte sich am Kinn. »Du wärst nicht die Erste, die mir das Zeug über den Leib kippt.«Unbeeindruckt nahm sie einen Schluck aus dem Becher. »Keine Angst. Kaffee und Whiskey verschwende ich für gewöhnlich nicht.«Sie trat ebenfalls in den Schatten ihrer Zelle zurück und setzte sich wieder auf die kalte Pritsche. Die Wärme des Kaffees kroch durch ihr Inneres und breitete sich langsam aus. Doch anstatt ein wohliges Gefühl zu hinterlassen, spürte Noraja jetzt erst recht, wie abgefuckt ihr Körper war. Es gab kaum einen Zentimeter, der nicht auf irgendeine Art und Weise aufschrie. »Es tut mir leid.«Sie verschluckte sich an ihrem Kaffee und sah Greyson mit geweiteten Augen an. »Was?«, fragte sie, immer noch der Meinung, sich verhört zu haben. Ihm stand die Schuld förmlich ins Gesicht geschrieben, als er ihrem Blick auswich. »Ich hatte gestern einen echt miesen Tag, und die Nachricht, dass meinem Bruder mal wieder die Nase gebrochen wurde, gab mir den Rest. Die letzten Sicherungen und so. Versteh mich nicht falsch. Gewalt ist keine Lösung, aber Dian hat es ab und an ... verdient.«Noraja starrte ihn einfach nur an. Ihre eisigen Finger um den Pappbecher geschlungen, als würde ihr Leben davon abhängen. Greyson hatte den Kopf gesenkt und machte einem Häufchen Elend verdammte Konkurrenz. Sie rollte die Augen. Unglaublich, dass ich das jetzt sage, dachte sie sich.»Genaugenommen hat er den Bruch nicht verdient. Er hat nichts gemacht. Sagen wir einfach, ich hatte auch nicht den besten Tag.«Greyson sah sie dankbar an, winkte dann aber ab. »Glaub mir, auch wenn er es in diesem Moment nicht verdient hatte, er hätte dir schon noch einen Grund gegeben.«Bevor Noraja etwas erwidern konnte, schloss Greyson die Zellentür auf und öffnete diese mit einem leisen Quietschen.Noraja entfuhr ein Lachen. »Ihr solltet renovieren. Dringend.«Greyson hob eine Braue und zeigte ihr an herauszutreten. »Beschwerden darfst du direkt bei dem Walross einreichen.«»Lassen wir das lieber, er frisst diese wahrscheinlich.«»Vermutlich«, raunte Greyson und folgte Noraja, die an zwei weiteren Zellen vorbeilief. Sie traten durch eine Tür und gelangten in einen quadratischen Raum. Der geballte Geruch von abgestandenem Schweiß krachte ihr wie eine Faust entgegen. War also auch der Ursprung dieser Note endlich geklärt. Angewidert sah sie sich um. Mittig im Raum standen einige Schreibtische, an denen reges Treiben herrschte. Auf der linken Seite stand eine kleine Küchenzeile, welche ihre besten Tage auch schon hinter sich hatte. Die Tapete war vergilbt und hing teilweise in Fetzen von den Wänden. Unfassbar. Wo war sie denn hier nur gelandet?»Hier.«Greyson navigierte sie zu einem sehr übersichtlichen Schreibtisch. Abgesehen von einem Bildschirm und einer Tastatur war nichts Persönliches zu finden. »Sehr ... Minimalistisch«, stellte Noraja fest, bevor sie den Karton voller Bilder und Papiere daneben entdeckte. »Oh«, entfuhr es ihr. »Der Tag gestern war wohl mehr als beschissen.«Greyson folgte ihrem Blick, zuckte mit den Schultern und reichte ihr einen Umschlag. »Könnte man so sagen«, antwortete er und zeigte auf den Umschlag. »Deine persönlichen Sachen.«Noraja riss ihn direkt auf, denn mehr als einen Schlüssel und ihr Handy gab es darin nicht zu finden. »Danke«, erwiderte sie und sah sich um. »Ich brauche noch eine Unterschrift.«Noraja ergriff den Stift, unterschrieb den Wisch, ohne ihn zu lesen, und schob diesen zurück zu Greyson.»Das war's?«, fragte sie.»Ja, dein Anwalt hat den Rest schon erledigt«, erwiderte Greyson und zeigte hinter ihr auf die Tür. »Ich bring dich noch raus.«Ihr Anwalt also. Das erklärte dann auch, warum er ihren Namen kannte. Tyalor. Markus. Remi. Ihr Verhalten hatte, wie zu erwarten, eine Kettenreaktion hervorgebracht. Nun, jetzt wusste ihre Familie wenigstens, wo sie steckte. Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus. Etwas nagte an ihrem Gewissen. Lästig, wenn es in solchen Momenten zum Vorschein kam. Dazu gesellte sich der erneute Blick über den leeren Schreibtisch von Greyson.»Ich bin aber nicht der Grund, dass du gehen musst?«Wo kam das denn her? Sie schüttelte über sich selbst erschrocken den Kopf. Was interessierte sie das? »Nein«, sagte Greyson, griff nach der gepackten Kiste und sah sie an. »Du bist der Grund, warum ich meine Sachen heute holen kann und sie nicht mitten in der Nacht rausbringen musste.«Noraja nahm den letzten Schluck ihres Kaffees und stellte den leeren Becher auf den Schreibtisch. »Gern geschehen.«Kopfschüttelnd folgte er ihr, ohne seinen Kollegen, auch nur noch einen Blick zu würdigen. Eine Geste, die Noraja nicht entging. Unwillkürlich kroch die Frage nach dem Warum in ihren Geist. Was hatte er getan, dass er scheinbar seinen Job verloren hatte, und warum schien es niemanden zu interessieren? Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Schädel. Die letzten Züge des Katers schrien endlich nach Ruhe, doch die sollte Noraja noch längst nicht erhalten.

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