Kapitel 2
Melina hatte Jason das Büro gezeigt und er war wirklich beeindruckt. Schon bei seiner Ankunft war ihm die schwarze Backsteinfassade ins Auge gesprungen und hatte ihn neugierig auf mehr gemacht. Die Eingangstür erreichte man über eine, aus Naturstein, gebaute Treppe. Die Tür selbst sah aus, als wäre sie aus einem einzigen Baumstamm gefertigt und verlieh dem Ganzen dadurch einen rustikalen Charakter, der gleichzeitig, einen massiven Kontrast, zu der modernen Fassade bildete. Über der Eingangstür hing eine große, abgerundete Holzscheibe mit unterschiedlichen Runen darauf. Jason wusste zwar, dass es sich um Runen handelte, kannte jedoch ihre Bedeutung nicht. Er selbst kannte einige nordische Geschichten, hatte sich aber nie direkt mit dieser Glaubensrichtung auseinandergesetzt.
Das Gebäude erstreckte sich über zwei Etagen, mit großen lichtdurchfluteten Zimmern. Das untere Stockwerk hatte eine Zimmerhöhe von knapp vier Metern, welche durch riesige, bodentiefe Fenster betont, worden. Der Boden bestand aus dunklen Holzdielen, die sich durch das gesamte Gebäude zogen. Die Wände waren mit grauen Natursteinen verziert, die denen der Eingangstreppe ähnelten. Schon beim Betreten des Büros hatte sich in Jason eine Art Zufriedenheit und Ruhe ausgebreitet, welche er so noch nie erlebt hatte.
Auf der linken Seite der Etage befanden sich fünf abgetrennte Räume, die alle mit Schreibtischen aus Holz und der neusten Technik eingerichtet waren. Jedes Zimmer wirkte individuell eingerichtet, sei es durch Bilder, Plakate an den Wänden oder spezielle Dekoartikel. Man sah, dass sich die Mitarbeiter hier verwirklichen und wohlfühlen konnten, auf ihre eigene Art und Weise. Auf der rechten Seite erstreckte sich über die komplette Länge eine hochmoderne Küche. Ebenfalls rustikal und aus Holz, aber mit jedem modernen Scheiß, den man sich nur vorstellen konnte. Am hinteren Ende der Küche befand sich eine weitere Tür, die zu einem separaten Raum führte. Hier stand ein großer, runder Tisch und Jason konnte sich kaum einen besseren Ort für Teammeetings vorstellen.
Die hintere Hausfassade bestand vollständig aus Glas, durch die man einen einzigartigen Blick auf die riesige Terrasse und dem dahinter liegenden Meer hatte.
Jason fühlte sich, als hätte er eine fremde Welt betreten. Nichts hier, außer der vielen Technik, machte den Anschein, dass es sich um ein Büro handelte. Auch die zweite Etage faszinierte ihn. Diese bestand aus einem einzigen großen Raum, welcher genauso hoch war, wie die untere Etage, aber spitz zulief. Eigentlich vermittelte der Raum eher den Eindruck eines riesigen Wohnzimmers und fühlte sich nicht wie ein Büro an. Nur die zwei Schreibtische und großen Regale voller Ordner wiesen darauf hin, dass hier auch gearbeitet wurde. Ansonsten gab es eine Couch, einen TV an der Wand, Teppiche und Kissen aus Fell. Regale voller Bücher und ein Sessel, der direkt zum Lesen einlud. Überall standen Kerzen und es gab einen Kamin gegenüber von dem Bücherregal.
„Gemütlich" war das Einzige, was er über die Lippen brachte. Melina sah ihn an und lächelte.
„Ja. Wir wollen uns hier wohlfühlen. Immerhin verbringen wir den Großteil unserer Zeit hier."
Jason wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war zu schön, um wahr zu sein, und der krönende Abschluss kam erst noch. Der Balkon. Dieser erstreckte sich einmal um das gesamte Gebäude, wodurch man zum einen den Anblick des Meeres genießen konnte, zum anderen die Aussicht auf das Landesinnere. Jason schweifte mit dem Blick über die Umgebung, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und wollte Melina gerade fragen, ob man hier rauchen durfte, als sie ihm zuvorkam.
„Falls du rauchst, nur zu", sagte sie.
Jason sah sie irritiert an.
„Kannst du Gedanken lesen?"
Sie lachte auf.
„Nein, ich habe deine Zigaretten in der Arschtasche gesehen. Aschenbecher steht da drüben", sagte sie und setzte sich auf eine der Sonnenliegen.
Jason schmunzelte, zündete sich eine Zigarette an und stellte sich ein Stück abseits von Melina, denn natürlich war ihm ihr Babybauch aufgefallen.
„Wie lange hast du noch?", fragte er.
Melina stöhnte auf.
„Noch zu lange. Vier Monate und ich habe es echt satt. Mir tut alles weh, meine Klamotten passen nicht mehr und ich muss ständig pinkeln."
Jason musste sich sein Lachen unterdrücken. Mit dem du war tatsächlich sämtliche Förmlichkeit verschwunden, aber es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, er hatte das Gefühl endlich mal normale Menschen, um sich herum zu haben.
„Sorry noch mal, dass Noraja sich so viel Zeit lässt. Ich würde ja gern behaupten, dass es eine Ausnahme ist bei ihr, aber das wäre gelogen und genau an solche Sachen wirst du dich wohl gewöhnen müssen. Na ja, falls das mit dem Job klappen sollte."
Jason lächelte Melina nur an, richtete seinen Blick wieder in die Ferne und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Diese fingen an zu kreisen und er fragte sich, wie Noraja wohl wirklich war. Melina hatte ihm erzählt, dass er schon der fünfzigste Bewerber war. Also selbst wenn einige einfach nicht qualifiziert genug gewesen waren, blieben doch jede Menge übrig, die sich so einen Arbeitsplatz nicht entgehen lassen konnten. Also kam er zu dem Entschluss, dass es nur mit Noraja zu tun haben konnte.
Er atmete tief ein und hoffte, dass er genau das war, was hier gesucht wurde, auch wenn er eigentlich keine Ahnung von der Eventbranche hatte. Denn er war Anwaltsassistent und er hatte seinen Job und seinen Chef mehr als nur satt. Er fragte sich ständig, warum er überhaupt in so einer scheiß Bude gelandet war. Das Büro lag mitten in der Stadt ohne einen eigenen Parkplatz, was dazu führte, dass Jason bereits vor Arbeitsbeginn völlig angepisst war, weil er ewig nach einem Parkplatz suchen musste. Er machte wöchentlich mindestens fünfzehn unbezahlte Überstunden und ständig nahm er Arbeit mit nach Hause. Die Bezahlung war eher mittelmäßig und wirklich zu schätzen, was er für diese Firma tat, wusste auch keiner. Sein Chef war ein Kotzbrocken, den Jason lieber von hinten, als von vorn sah und trotzdem hatte er sich bis heute nicht dazu durchringen können, nach etwas anderem zu suchen. Seine Gedanken wanderten weiter zu seiner Freundin.
Sie liebte es, dass er in dieser Kanzlei arbeitete, denn da es eine recht große und Angesehene war, brachte es einiges an Vorteilen und Ansehen ein, wenn die Menschen erfuhren, wo er angestellt war. Seiner Freundin würde es nicht gefallen, dass er vorhatte zu kündigen und er wusste jetzt schon, dass dies ein sehr unangenehmes Gespräch werden würde. Jason war gerade dabei, sich das Gesicht von ihr vorzustellen, wie es sich vor Wut, dunkelrot einfärbte, als Melina ihn aus seinen Gedanken riss.
„Na Glückwunsch! Sehr freundlich, dass du deinen Arsch endlich in Bewegung gesetzt hast. Ich hatte schon Angst, dass ich hier entbinden muss", schrie Melina, über das Balkongeländer gebeugt, nach unten.
Jason brauchte einige Sekunden, bis er verstand, dass nicht er gemeint war, sondern die Person, die auf das Haus zugelaufen kam. Er ging automatisch einen Schritt zurück und hörte den beiden nur zu. „Ja, ja. Du hast doch noch vier Monate und wenn der Kleine mitbekommt, was auf ihn zukommt, bleibt er sicher noch zwei Monate länger drin", rief Noraja zurück, grinste frech und sah nach oben.
Melina schüttelte den Kopf.
„Oder er kommt zwei Monate eher, um mich von dir zu erlösen."
„Witzig. Lass mich lieber rein", raunte Noraja.
„Schlüssel vergessen?", fragte Melina spöttisch.
„Kennst mich doch", erwiderte Noraja. Melina lachte.
„Ja, deswegen ist die Tür offen!"
Noraja murmelte noch etwas, da sie aber bereits im Haus war, konnten die beiden den Rest nicht mehr verstehen.
Melina drehte sich zu Jason, der sie leicht entsetzt ansah und grinste ihn wissend an. „Darf ich vorstellen: Noraja live und in Farbe."
Jason setzte ein Lächeln auf, nickte nur und langsam fing er an, zu verstehen, dass das hier kein normales Vorstellungsgespräch werden würde.
Noraja machte einen Zwischenstopp in der Küche und ließ sich schnell einen weiteren Kaffee raus, bevor sie die Treppen nach oben stieg.
„Ich frag mich jedes Mal wieder, warum dieser idiotische Bauplaner keinen Fahrstuhl hat einbauen lassen", pustete Noraja.
„Tja Süße, die Frage kannst wohl nur du beantworten, aber deine damaligen Worte waren glaube: Es wird ja keiner an ein paar Stufen sterben", sagte Melina mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
„Und ich habe euch damals schon gesagt, ihr sollt nicht immer auf mich hören, schon gar nicht nach einer Tequila Nacht", gab Noraja zurück.
„Es war nicht nach einer Tequila Nacht, du hattest gerade eine deiner: Ich lebe jetzt gesund Macken", sagte Melina und zeichnete dabei Anführungszeichen in die Luft.
„Ich sag ja, es war nach einer Tequila Nacht", erwiderte Noraja.
Diese hatte es endlich die Treppen nach oben geschafft und lief gerade auf den Balkon zu, auf dem Melina und Jason warteten.
„Scheiße, wie siehst du denn aus? Schon mal was von Überschminken gehört? Und für eine Jeans hat es wohl auch nicht mehr gereicht?", fragte Melina geschockt und starrte auf das immer blauer werdende Auge von Noraja.
Diese stöhnte genervt auf und warf das Kühlbag auf den Tisch.
„Du wolltest doch nicht hier entbinden, entscheide dich mal. Außerdem ist es nur ein blaues Auge. Hab zu sehr mit den Hunden gerauft und ja, wer hätte gedacht, dass ein Hundeknie so einen Schaden anrichten kann und nein, Jeans waren aus", sagte Noraja und schloss das Thema damit ab.
Melinas Blick genügte, um zu wissen, dass sie ihr kein Wort glaubte, und um dieser Diskussion zu umgehen, drehte sie sich zu Jason, den sie bis dahin ignoriert hatte, und ihre Blicke trafen sich das erste Mal. Noraja zögerte kurz, denn seine stahlblauen Augen hatten sie fixiert und etwas daran fühlte sich seltsam an, streckte ihm dann aber doch die Hand entgegen.
„Hy. Ich bin Noraja."
Jason tat es ihr gleich.
„Jason. Schön dich kennenzulernen."
Noraja schmunzelte.
„Das wird sich noch zeigen", erwiderte sie und sah ihn an.
Und plötzlich schien die Zeit still zu stehen. Noraja ließ den Blick über sein markantes Gesicht schweifen. Er trug einen blonden Dreitagebart, welcher seinem kantigen Kinn schmeichelte. Seine kurzen, blonden Haare leuchteten im Sonnenlicht, doch was sie wirklich in den Bann zog, waren seine blauen Augen, die ihr direkt in die Seele zu starren schienen. Sie schluckte und zwang sich, den Blick zu lösen, und schnell huschte dieser über den Rest von seinem Körper. Er hatte breite Schultern, welche er unter einem dunklen Sportjackett versteckte. Was für eine Schande, dachte sie sich und musterte sein helles Hemd, die viel zu engen Jeans und als sie seine schwarzen Halbschuhe sah, seufzte sie auf. Enttäuscht ließ sie seine Hand los und als ihr bewusst wurde, was sie da gerade empfand, schüttelte sie den Kopf, als würde sie damit ihre Gedanken loswerden. Wir suchen einen Mitarbeiter und nichts zum Vögeln, rief sie sich in Erinnerung und sah zu Melina, die sie dämlich angrinste.
„Was?", fauchte Noraja ihr entgegen.
Melina sah sie wissend an und schüttelte grinsend den Kopf.
„Nichts. Nichts", erwiderte sie und setzte sich langsam wieder.
Noraja warf ihr einen giftigen Blick zu und wandte sich dann zurück zu Jason.
„Gut, sollen wir anfangen?", fragte sie ihn, doch er reagierte nicht.
Noraja musterte ihn und sah dann erneut zu Melina.
„Hast du ihn kaputt gemacht?"
Melina schnaubte und fuhr sie mit Absicht übertrieben an.
„Nein, bis eben war noch alles okay, aber vielleicht schockiert es ihn zu sehr, dass die Chefin der Firma aussieht, wie aus einer Mülltonne entstiegen."
Noraja stöhnte und warf ihr einen Leck-mich-doch-Blick zu.
„Was denn? Wäre eine Jeans zu viel verlangt gewesen?", fragte Melina und zog dabei an Norajas Jogginghose.
Diese schlug ihre Hand weg und zog sich die Hose wieder gerade.
„Ja, verflucht, weil es ja wohl egal ist, was ich anhabe", fauchte Noraja zurück.
„Nein, nicht wenn man einen neuen Mitarbeiter sucht", schnaubte Melina. Eigentlich hatte sie aufgegeben Noraja ändern zu wollen, denn sie stieß auf nichts außer taube Ohren, aber es gab Momente, an denen auch Melina nicht aus ihrer Haut konnte. Und während die beiden weiter Norajas-Kleidungsstil auseinandernahmen, stand Jason regungslos vor ihnen. Diese kleine Geste der Berührung, als sie ihm die Hand gab, hatte eingeschlagen, wie ein Blitz. Sein ganzer Körper wurde von einem Kribbeln überzogen und er konnte den Blick nicht von Noraja nehmen. Sie wirkte im ersten Augenblick so niedlich. Sie konnte nicht viel größer als 1,65m sein. Ihre langen, weißblonden Haare hatte sie völlig chaotisch auf ihrem Kopf zu einem Dutt zusammengeknotet. Einige Strähnen hatte sie nicht erwischt, welche ihr nun locker über die Schultern fielen. Sie hatte ein eher rundliches Gesicht, tiefblaue Augen, scheinbar endlos lange Wimpern und eine kleine Narbe über der rechten Augenbraue. Sein Blick wanderte tiefer und sofort sprang ihm die Narbe an ihrem Kinn ins Auge. Als er dieser folgte, sah er, dass ihr Hals vollständig tätowiert war und sich zwischen den Motiven die Narbe entlang schlängelte, um anschließend unter ihrem Hoodie zu verschwinden.
Was war ihr passiert?, war das Erste, was ihm durch den Kopf schoss und ohne es zu wollen breitete sich Mitleid in ihm aus. Plötzlich zog sie ihre Hand zurück und ein letzter Blick darauf offenbarte auch hier jede Menge Tattoos. Mit ihrer Hand verschwand auch dieses eigenartige Gefühl in seinem Körper und er musterte den Rest von ihrem. Sie wirkte schlank, auch wenn ihre Klamotten nichts über ihren Körperbau preisgaben. Tja und da stand sie nun, vor ihm, und war so ziemlich alles, was er nicht erwartet hatte.
„Jason?", vernahm er schlagartig.
Er hob den Blick und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sie die ganze Zeit angestarrt hatte. Sofort spürte er, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und er ahnte bereits, dass er gerade knallrot anlief.
„Ja, sorry ... ich", stotterte er, ohne eigentlich zu wissen, was er sagen wollte, und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Setz dich", sagte Melina und zeigte auf einen der Sessel hinter ihm.
Dankbar ließ er sich fallen, doch als er sah, wie Noraja ihn grinsend anstarrte, spürte er die nächste Welle der Röte schon aufsteigen. Fuck, was tat er hier?, fragte er sich und rieb sich nervös die Hände.
„Alles okay?", fragte Melina besorgt.
Er nickte.
„Ja, alles gut. Also wo waren wir?", fragte er, in der Hoffnung, dass sein eigenartiges Verhalten nicht zum Thema gemacht wurde. Tja, aber er kannte halt Noraja nicht, denn die hatte Blut geleckt.
„Ach, ich habe gerade überlegt, ob du einen Eimer brauchst? Oder ob ein Tuch reicht für den Sabberfaden", sagte sie und kassierte dafür direkt einen Ellenbogenschlag von Melina, inklusive Todesblick.
„Au", raunte sie und rieb sich über die geschlagene Stelle.
„Hör auf mit der Scheiße", fauchte Melina sie an.
Noraja holte bereits Luft, aber Melinas Blick sagte mehr als tausend Worte und so stöhnte sie auf, rollte mit den Augen und sah dann zu Jason zurück.
„Okay, sorry dafür und für meine Verspätung, aber ich denke, Melina wird dir schon erklärt haben, dass ich es nicht so mit dem Aufstehen und der Pünktlichkeit habe. Wie schon gesagt... Ich bin Noraja und die Chefin von dem Irrenhaus hier."
Jason nickte immer noch völlig verwirrt. „Kein Thema, ich wurde vorgewarnt und bestens betreut. Ich bin Jason und ich freue mich Sie ... äh ... dich kennenzulernen und bin echt dankbar, dass ich heute hier sein darf", sagte er und fragte sich im selben Augenblick, was zur Hölle er gerade tat?
Es war, als wäre sein Hirn leer geblasen. Ihm fielen nur noch die einfachsten Worte ein und dieser Blick von Noraja, der unentwegt auf ihm lag, steigerte seine Nervosität ins Unermessliche. Jason wurde schlagartig übel und er spürte, wie sein Puls in die Höhe schoss. Er wusste nicht, wann ihm dies das letzte Mal passiert war. Andererseits wunderte es ihn aber auch nicht, denn die letzten Jahre hatte er seine Zeit mit Menschen verbracht, die immer eine strikte Etikette bewahrten und es für alles Vorgaben gab. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so lockere Menschen, wie Melina und Noraja getroffen hatte. Selbst in seiner Freizeit traf er sich nur mit Menschen, die immer auf ihre Wortwahl bedacht waren und niemals in einer Jogginghose das Haus verlassen würden. Die meisten davon besaßen sicherlich nicht mal eine.
Shit, wann bin ich denn zu so einem Spießer mutiert, schoss ihm durch den Kopf und im selben Augenblick, brachen die Selbstzweifel über ihn herein. Seine Nackenmuskulatur spannte sich an, seine Hände wurden feucht und die Übelkeit wuchs heran zu einem ausgewachsenen Unwohlsein. Nervös rieb er sich die Handflächen über seine Jeans und versuchte, der anschleichenden Panik Einhalt zu gebieten.
Noraja vernahm die Veränderung in seiner Haltung und sie wusste, dass ihre nächsten Worte entscheiden würden, wie das Ganze hier endete. Melina seufzte, denn sie kannte Noraja und ahnte, was jetzt passieren würde. Gedanklich schrieb sie schon die neue Stellenanzeige, als Noraja sie überraschte oder besser gesagt völlig schockierte.
„Hy, entspann dich. Wir beißen nicht und du kannst eigentlich nichts falsch machen. Du kannst den Stock, den dein Chef dir über die Jahre, in den Arsch geschoben hat, gern rausziehen. Also falls dir das noch möglich ist. Sei einfach du selbst und dann passt das schon", sagte Noraja, lächelte und suchte den Blickkontakt zu Jason.
Er starrte sie völlig überrumpelt an und Noraja war sich nicht ganz sicher, ob sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie wollte ihm eigentlich die Nervosität nehmen, aber jetzt sah er eher aus, als würde er gleich schreiend davonrennen. Was sie wiederum zum Schmunzeln brachte, denn normalerweise tat das sie.
Melina runzelte die Stirn und sah Noraja aus dem Augenwinkel heraus an. Sie kannte ihre Chefin und es sah ihr überhaupt nicht ähnlich, jemanden Fremden zu schonen oder ihn aus einer unangenehmen Situation retten zu wollen. Üblicherweise machte sie sich einen Spaß daraus, mit solchen Menschen zu spielen und sie auflaufen zu lassen.Was zum Teufel war hier los? Jason sah die beiden mit großen Augen an.
„Lass uns doch noch in Ruhe eine rauchen und dann machen wir weiter", sagte sie. Noraja hatte Jasons Zigaretten gesehen und die Gunst genutzt, ihr eigenes Verlangen zu stillen. Und so konnte sie ihm noch etwas Zeit zum Ankommen und Umdenken geben. Sie wusste, dass man mit ihrer Art erst einmal zurechtkommen musste.
„Gern", sagte er, denn mehr brachte er nicht über die Lippen.
Er war dankbar für die Zigarette und die paar Minuten gewonnene Zeit. Sein Blick wanderte zu Noraja, die ihr Handy in der Hand hatte und ihn gar nicht weiter beachtete. Sie war so anders. Alles hier war anders und es schien, als würden sie ihn wirklich kennenlernen wollen. Jetzt lag es nur an ihm und daran, wie gut er sich verkaufen konnte.
Noraja machte ihre Zigarette aus, steckte ihr Handy ein und sah zu Jason.
„Bereit?", fragte sie.
„Ich hoffe", sagte er und folgte Noraja und Melina, die sich auf den Weg ins Büro gemacht hatten.
Die beiden setzten sich und Melina zeigte auf die Couch gegenüber von ihnen.
„Setz dich und dann erzähl mal was von dir. Wer bist du? Was machst du? Warum willst du hier arbeiten?", fragte Melina, denn sie hatte das Wort übernommen.
Sie war darin einfach besser und stellte die richtigen Fragen. Noraja saß neben ihr, hatte sich entspannt zurückgelehnt und wartete auf die typisch, einstudierten Antworten und hoffte insgeheim, dass sie genau diese nicht zu hören bekommen würde. Sie mochte Jason, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Jason nahm Platz, atmete ein letztes Mal tief durch und räusperte sich.
„Ich bin Jason Field, bin 35 Jahre alt. Ich habe Jura studiert, musste das Studium aber abbrechen. Ich bin aktuell als Anwaltsassistent angestellt. Ich bin online auf euer Stellenangebot gestoßen. Ich lebe in der Innenstadt zusammen mit meiner Freundin."
Jason spulte mechanisch die Standardantworten herunter und als ihm dies bewusst wurde, stockte er. Er sah zu Melina und Noraja und ihre Blicke sagten ihm, dass er sie damit nicht beeindrucken konnte. Was mache ich hier überhaupt?, fragte er sich.Er hatte sich auf eine Stelle beworben, von der er nicht mal wusste, was sie beinhaltete. Er hatte in seinem Leben noch nicht mal eine Geburtstagsfeier organisiert. Tja, und die Bewerbung hatte er aus einer Laune heraus abgeschickt, weil er mal wieder so eine Phase in seinem Leben hatte, in der ihm alles ankotzte. Doch bestimmt war diese Phase bald wieder vorbei und dann würde er einfach über das hier lachen. Aber konnte er das? Er fühlte sich hier wohl. Er sah sich um und konnte sich schon vorstellen, wie er an diesem Tisch dort drüben sitzen und arbeiten würde. Aber er hatte doch keine Ahnung von Events, Konzerten oder irgendwelchen Festivals. Er hatte schon seit Jahren nicht mal mehr, an einen dieser Events teilgenommen, geschweige denn über deren Planung und Organisation nachgedacht.Wie zur Hölle kam er nur auf die Idee, dass er geeignet für diesen Job war? In Jason setzte ein Gedankenstrudel ein und langsam verlor er sich darin.
„Jason? Alles gut?", fragte Melina und sah ihn besorgt an, während Noraja sich genervt den Nacken massierte.
Sein Gedankenkarussell stoppte und als er in die erwartungsvollen Gesichter der beiden sah, blieb ihm nur noch die Wahrheit.
„Na ja, ja alles gut, aber ich glaube, ich bin hier falsch. Ich hatte noch nie etwas mit dem Eventservice zu tun. Um ehrlich zu sein, ich habe noch nicht mal eine einfache Geburtstagsfeier organisiert und habe auch keine Ahnung, was ihr hier eigentlich macht. Es tut mir leid, dass ich eure Zeit verschwendet habe", flüsterte er.
Jason senkte seinen Kopf, denn er wollte die Enttäuschung der beiden nicht sehen. Er fühlte sich unwohl und wollte diese Situation nur noch hinter sich bringen. Doch so einfach würde es Noraja ihm nicht machen.
„Du wusstest aber schon, wofür du dich hier beworben hast, oder?", fragte Noraja, während sie sich nach vorn lehnte.
Widerwillig blieb Jason sitzen und sah sie an. Ihr Blick war fordernd und fest auf ihn fixiert.
„Ja schon, aber ...", stotterte er.
„Dann erklär mir, warum du es getan hast? Ich meine, beim Bewerben war dir ja klar, dass du keine Ahnung von dem Job hast, und trotzdem hast du es getan oder bist du von einer plötzlichen Erleuchtung ausgegangen? Du hast den Termin auch nicht abgesagt. Du bist über eine Stunde hierhergefahren, um jetzt einfach zu gehen?", fragte Noraja rotzig.
Melina beobachtete Noraja und verstand die Welt nicht mehr. Spätestens jetzt hatte sie mit einem „Tschüss" und blöden Spruch seitens Noraja gerechnet, aber sicher nicht damit, dass diese etwas hinterfragen würde. Noraja fixierte Jason immer noch und wartete auf eine Reaktion. Er sah sich nervös um, trippelte mit dem Fuß auf dem Boden und suchte verzweifelt nach Antworten.
„Ich weiß auch nicht, Dummheit, Langeweile ... Verä ... egal, ich denke, ich sollte gehen."
Jason wollte gerade aufstehen und gehen, denn dieses Gespräch konnte keine positive Wendung mehr nehmen, doch Noraja war noch nicht fertig mit ihm.
„Ich denke, du hast Angst!", warf sie ihm an den Kopf.
Jason hielt inne und schluckte.
„Angst?", wiederholte er.
Sie nickte und sprach, ohne ihn dabei anzusehen.
„Ja. Angst vor Veränderung. Du bist angepisst von deinem Leben, von deinem Job, wahrscheinlich selbst von deinen Freunden und hast gedacht, dass dies hier ein neuer Weg werden könnte. Jetzt, wo du hier bist, weißt du nicht mehr, ob du das wirklich willst. Vielleicht willst du es auch so sehr, dass du jetzt Angst hast, es zu versauen. So oder so ... Du hast Angst!", sagte Noraja in ihrem besten Klugscheißerton, den sie zu bieten hatte.
Jason schnaubte und langsam verschwand das ungute Gefühl in ihm und ersetzte sich durch Wut.
Angst? Was bildete sie sich eigentlich ein. Er hatte sicher vieles, aber keine Angst. Doch hatte er, aber dass konnte und wollte er sich wohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingestehen.
Tja, und so ließ er sich von seiner Wut leiten, sprang auf und stürmte in Richtung der Treppe. Er sparte sich jegliche Antwort, denn er hatte bereits verstanden, dass Noraja darauf keinen Wert mehr legen würde.
„Dein Leben wird sich nicht von allein ändern. Es wird immer beschissen bleiben und nicht das Leben sein, was du wirklich willst. Und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, weißt du das auch, sonst wärst du heute nicht hier. Warte nicht zu lange, denn irgendwann wird es zu spät sein", hörte er es plötzlich hinter sich, aber auch diese Worte ignorierte er und stieg hastig die Stufen nach unten.
„Zicke", murmelte er vor sich hin, doch auch wenn er es nicht wollte, ihre Worte hallten ihm nach.
Sie fraßen sich in seine Gedanken und als er an seinem Auto ankam, hatten sie ihn in Besitz genommen. Sie hat recht, schoss es ihm durch den Kopf. Sie hat verdammt nochmal den Nagel auf den Kopf getroffen und anstatt es sich einzugestehen, lief er davon. Die Wut in ihm schlug um und wurde zu Selbsthass, welcher sich mit einem lauten Schlag mit der flachen Hand auf seinem Autodach entlud.
„Was sollte das alles?", fragte Melina und sah Noraja ernst an.
„Was?", fragte diese, während sie sich einen neuen Kaffee nahm.
„Verarsch mich nicht, Noraja", zischte Melina.
Noraja seufzte, schüttelte mit dem Kopf und sah sie an.
„Du hast doch gesagt, dass ich aufhören soll mit der Scheiße. Auch wieder nicht richtig?"
Melina lachte sarkastisch auf.
„Du hörst nie auf mich."
Noraja zuckte mit den Schultern und grinste sie plötzlich hinterhältig an.
„Jeden Tag was Neues, nicht?", sagte sie und trat nach draußen auf den Balkon, in genau der Sekunde, als Jason auf sein Auto einschlug.
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