Kapitel 38 - ... wird Sturm ernten I


Eleah



Schweißgebadet, aber mit einem Plan, hievte ich eine der Schatzkisten, die wir an Bord der Pegasus gefunden hatten, auf das Deck. Ich hatte mich bewusst für eine der kleineren und leichteren entschieden und doch kostete es mich große Mühe, sie überhaupt von einem Ort zum anderen zu bewegen.

Ich fand Colin am Bug des Schiffes in seine Arbeit vertieft - aber wenigstens war er allein -, und knirschte mit den Zähnen, weil noch ein weiter Weg über das stumpfe Holz des Decks vor mir lag.

Die Crewmitglieder, die noch immer mit kleineren Reparaturen beschäftigt waren, warfen mir argwöhnische Blicke zu, als ich die Kiste an ihnen vorbeizog und den Boden mit unschönen Kratzern demolierte. Doch zumindest war seit dem Ende des Sturms die Feindseligkeit endgültig aus ihren Blicken gewichen, was ein Fortschritt war, der mich ihnen im Vorbeigehen ein kurzes Nicken zuwerfen ließ.

Am anderen Ende des Schiffes angekommen, blieb ich mit einem Räuspern vor Colin stehen und stellte mich meinem schlechten Gewissen. »Kannst du mir kurz helfen?«, erwähne ich ein wenig kurzatmig. »Die soll zu den anderen nach unten ins Lager.«

Ohne den Blick von seiner Arbeit zu nehmen, wickelte Colin weiterhin in aller Seelenruhe eines der Hanfseile auf, mit denen wir die Kisten aneinander befestigt hatten. Dass er mich trotz direkter Ansprache noch immer wie Luft behandelte, schürte so langsam mein Unverständnis. Mit den Männern der Crew hatte ich ihn bereits scherzen sehen und selbst mit Bel hatte er schon das ein oder andere Wort gewechselt. Nur mich ignorierte er noch immer rigoros, obwohl ich mich augenscheinlich um ein Gespräch mit ihm bemühte.

Ich ließ den Griff der Kiste los, die mit einem dumpfen Scheppern aufschlug. Erst jetzt hielt Colin mit seiner Arbeit inne und hob den Blick. Seine leuchtend grünen Augen durchbohrten mich. Ich hatte Wut und Zorn erwartet, aber die Verletztheit, die sich darin spiegelte, traf mich noch einmal mit voller Wucht.

»Bitte ...«, versuchte ich es noch einmal mit Höflichkeit und erwiderte eindringlich seinen Blick.

»Wo ist der Captain?«, fragte er meine Bitte angestoßen und ließ seinen Blick über mich hinweggleiten.

»An Land.« Ich atmete vorsichtig aus. Meine Frage ignorierte er zwar, aber dass er mich für würdig empfand, ihm seine zu beantworten, deutete ich für den Anfang als gutes Zeichen. »Wahrscheinlich in irgendwelchen Kneipen, um weitere Männer für das Schiff anzuheuern.«

Colin Nickte, als hätte er meine Antwort kommen sehen. Vermutlich wusste er einfach, dass keine Möglichkeit bestand, die Pegasus ohne weitere Crewmitglieder sicher und beständig zu segeln. Er selbst hatte es bereits mit einer stark dezimierten Mannschaft auf diesem Schiff zu tun gehabt und wo ihn das hingeführt hatte ... Ich schüttelte diese Gedanken hinfort und wartete auf eine Reaktion von ihm.

Ohne ein weiteres Wort konzentrierte er sich wieder auf das Hanfseil in seiner Hand. Er wickelte das letzte Stück auf und verknotete das Ende gewissenhaft, als hätte er alle Zeit der Welt - oder als würde er den Moment brauchen, um sich über seinen nächsten Schritt klar zu werden.

Ich dachte schon, unsere Konversation wäre damit abgehakt und er würde mich weiter ignorieren, aber dann trat er vor und hob die Kiste mit einer Leichtigkeit hoch, die mich an meine eigene körperliche Schwäche erinnerte.

»Ins Lager hast du gesagt?«

Ich widerstand dem Drang, geräuschvoll auszuatmen und nickte lediglich. Der Weg nach unten kam mir länger vor als sonst, obwohl ich dieses Mal kein zusätzliches Gewicht hinter mir her zog. Aber die bedrückende Stille, die mir auf Schritt und Tritt folgte und die nur von Colins Schritten durchbrochen wurde, legte sich wie eine bleierne Decke um mich.

Sein bohrender Blick in meinem Rücken ließ mich unwillkürlich das Kreuz durchdrücken. Ich hielt den dunklen Korridor nicht gerade für einen angesehenen Ort, um ihm unsere Beweggründe für den Verrat zu erklären, also ging ich mit erhobenem Kopf weiter, bis wir unser Ziel erreichten.

Ich verschloss die Lagertür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen, während Colin die Kiste zu den anderen trug und sie ordentlich übereinanderstapelte.

»Weißt du«, begann er schließlich, »du hättest einfach so mit mir reden können.« Er drehte sich zu mir herum und ließ noch einmal seinen Blick durch das Lager gleiten. »Dieser Aufwand mit der Kiste ... Die hatten wir doch schon längst hier hinuntergetragen.«

Eine bessere Idee war mir in meiner Verzweiflung nicht eingefallen. Dass er mich jedoch so schnell durchschaute, ließ mir die Hitze ins Gesicht steigen. Dankbar für die Dunkelheit, die hier unten herrschte und die nur vom Flackern einer Kerze durchbrochen wurde, kümmerte ich mich jedoch nicht weiter darum. »Es tut mir leid«, sprudelte es stattdessen aus mir heraus. »Ich hatte das Gefühl, dass du mir aus dem Weg gehst und sauer auf mich bist, und ich wusste nicht, wie ich anders das Gespräch mit dir hätte beginnen sollen.«

»Ich bin nicht sauer auf dich«, erwiderte er ruhig. »Nur enttäuscht. Ihr habt uns hintergangen, ausgenutzt, den Captain ausgeliefert und die Pegasus gestohlen.«

»Ich weiß«, gestand ich leise und ließ den Kopf hängen. »Es tut mir leid.«

»Von deinen Leuten hatte ich es erwartet, wenn ich ehrlich bin. Das war der Grund, weswegen ich mit den anderen Männern auf der Pegasus geblieben bin, als ihr die Verletzten verladen habt. Aber von dir ... Ich weiß nicht ... Du warst so hilfsbereit und ehrlich, das habe ich nicht kommen sehen, obwohl ich es eigentlich wissen müsste.«

»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal und schluckte gegen die Trockenheit in meinem Mund an. Ich hatte es gewusst. Die Falschheit dessen, was wir getan hatten, war nicht zu leugnen und trotzdem versuchte ich es ein wenig abzumildern. »Wir hatten keine andere Wahl. Wir brauchen dieses Schiff, um gefahrlos über die Meere segeln zu können, damit ich die Aufgabe, die auf mir lastet, erfüllen kann.« Es endlich auszusprechen tat gut. Denn es war eine Last. Lügen, betrügen, stehlen. Ich hatte hier bereits so vieles getan, auf das ich nicht stolz war und doch blieb mir keine andere Wahl, denn die Menschen in meiner Umgebung waren einer Gefahr ausgesetzt, die ich zwar nicht begreifen konnte, aber deren Anzahl nach Bels Rückkehr auf hundertzwanzig ansteigen würde.

Mit verschränkten Armen und Beinen lehnte Colin sich gegen einen Stapel Kisten. »Bist du wirklich eine ... Ich meine, bist du wirklich die Luftgeborene?«

Überrascht geschossen meine Augenbrauen in die Höhe. »Du weißt darüber Bescheid?«

Wenig beeindruckt zuckte er mit den Schultern. »Piraten tratschen genauso viel wie Waschweiber. Vielleicht sogar noch etwas mehr.« Ein amüsiertes Funkeln stach aus seinen Augen heraus und auch ich musste bei diesem Vergleich unwillkürlich lachen. Aber als ich sah, dass Colin noch immer gespannt auf eine Antwort wartete, hielt ich inne.

»Ja, es ist wahr«, gestand ich. »Zumindest wird es behauptet.«

Erneut wartete ich auf eine Reaktion von ihm, auf einen Schockzustand, der ihn vielleicht erst einen Augenblick später ereilte, so wie bei Bel und Asil damals, als sie von Zola erfahren hatten, wer und was ich war. Doch Colin kratzte sich nur nachdenklich am Kinn, musterte mich unverhohlen von oben bis unten und baute den Stapel wieder auseinander.

»Ich hätte gerade etwas Zeit für eine Geschichte«, sagte er und ließ sich auf einer der Holzkisten nieder. »So, wie es aussieht, sitze ich hier unten im Lager erst einmal fest, weil die Tür blockiert ist.«

Mein Mund öffnete sich und begann die Worte wie von selbst zu formulieren. Ich erzählte ihm einfach alles. Wie ich hierher kam, von der Prophezeiung und meiner Aufgabe. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er es wert war und sich meine Ehrlichkeit verdient hatte und dass er mich nicht für verrückt halten würde.

Und irgendwie erleichterte ich auch mein Gewissen. Ich gab ihm mit meiner Geschichte etwas in die Hand, was er gegen mich verwenden konnte, falls ich mich irrte unter er auf Rache aus war. Natürlich war das irgendwie masochistisch, aber es war die schnellere Variante von langsamen Kennenlernen und umeinander herumschleichen. Ich leistete mit der Wahrheit über mein Sein bei ihm Abbitte und das schien auch Colin zu begreifen. Denn als meine Worte endeten, starrte er mich noch einen Moment an, ehe er ein simples »Ha!« hervorstieß.

»Ich weiß, ich weiß«, ich winkte ab, »ich kann es auch kaum glauben.«

»Das ist es nicht«, erwiderte er. »Na ja, also es ist schon überraschend, das muss ich gestehen, denn immerhin gibt es seit zwei Jahrhunderten keine Luftelemente mehr, wie du sicherlich weißt. Aber es klingt auch nach einer spannenden Reise, die du vor dir hast.«

Da Colin nun bereit war, mir zuzuhören und mit mir zu sprechen, trat ich von der Tür weg und ließ mich ebenfalls auf einer der Kisten nieder, die er auf dem Boden abgestellt hatte. »Ich weiß nicht, ob spannend der richtige Begriff dafür ist, aber das alles ist auf jeden Fall ein ziemliches Abenteuer für mich, wenn ich auch auf den ein oder anderen Punkt verzichten könnte.«

Verständnisvoll nickte er, aber als würde ihm plötzlich etwas einfallen, runzelte er beunruhigt die Stirn und stellte fest: »Wenn das wirklich der Wahrheit entspricht, dann bedeutet es, dass Königin Galatea dir vermutlich bereits auf den Fersen ist.«

»Sie sucht bereits nach mir.«

Nachdenklich fuhr er sich durch die braunen Haare, die hier unten im Kerzenschein rotgolden schimmerten. »Findet sie dich, haben wir anderen mit Sicherheit auch nichts zu lachen.«

Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen. Ich war Königin Galatea nie begegnet, aber mein Aufeinandertreffen mit Leutnant Beaufort und der Königlichen Marine hatte mir gereicht, um zu begreifen, dass jeder in unmittelbaren Nähe meiner großen Gefahr ausgesetzt war. Und das war nun wirklich das Letzte, was ich wollte.

»Tut mir leid«, sagte ich, obwohl es nichts entschuldigte. »Ich möchte wirklich niemanden in Gefahr bringen, aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich bin da irgendwie hineingeraten und kann es selbst manchmal noch nicht so richtig glauben.«

»Gefahr?«, schnaubte er. »Seit ich mich bewusst für die Piraterie entschieden habe, ist Gefahr mein ständiger Begleiter. Wenn du wirklich den Frieden bringst, dann ist es das Risiko wert und außerdem ... außerdem scheint der Captain das ganz genauso zu sehen.«

Ich musste an das Gespräch im Wald denken, das ich kurz vor der Hochzeit mit Bel geführt hatte. Tatsächlich hatte er mir bereits zu diesem Zeitpunkt gestanden, dass auch er bereit war, seinen Teil zu leisten und ein Opfer zu bringen. Damals war mir nur nicht bewusst gewesen, was seine Worte bedeuteten. Doch jetzt ...

Ein Opfer.

Das war es für ihn.

Das war ich für ihn.

Und das hatte ich vergessen.

»Dennoch frage ich mich ...«, fuhr Colin fort und legte den Kopf schräg. Sein wachsamer Blick wurde neugieriger, forschender. »Du und Bel, ihr seid euch doch ziemlich nahe. Was wird wohl geschehen, wenn du auf den Feuergeborenen triffst?«

Gleichgültig zuckte ich mit den Achseln und bemühte mich um ein neutrales Gesicht. »Ich weiß nicht, warum das ein Problem sein sollte. Dann ist Bels Aufgabe erledigt und wir gehen wieder getrennte Wege. Das hat er mir mehrfach mehr als deutlich gesagt.« Es war nicht so, dass ich Colin erneut belügen wollte. Auch er musste den leichten Klang der Enttäuschung in meiner Stimme vernommen haben, der mich einen Moment verwirrt innehalten ließ. Unwillkürlich fragte ich mich, wann es angefangen hatte, dass der Gedanke einer Trennung mich tatsächlich insgeheim so sehr störte, dass ich begann, mir selbst etwas vorzumachen?

»Wie bist du zur Piraterie gekommen?« Das war eine Frage, die ich mir seit unserer ersten Begegnung gestellt hatte, da er wie ich nicht so richtig zu diesem Lebensstil passt.

Colin bemerkte meinen abrupten Themenwechsel und die Tatsache, dass ich nicht weiter über Bel reden wollte, dass es da möglicherweise etwas gab, dem ich mich selbst noch nicht stellen wollte und auch noch nicht konnte. Er beließ es dabei und entblößte stattdessen mit einem Lächeln zwischen seinen Schneidezähnen.

»Das ist keine Geschichte, die ich einer Lady erzählen sollte.« Er schlug die Handflächen auf die kräftigen Oberschenkel und stand auf. Mit einem Grinsen trat er vor mich. »Dann sind wir jetzt auch Freunde?«

Auch ich begriff, dass er ein Geheimnis mit sich herumtrug und noch nicht bereit war, es mit jemandem zu teilen. Zumindest nicht mit mir. Aber das war in Ordnung. Ich war schon froh, dass wir miteinander gesprochen hatten und ich mich ihm erklären konnte. Seiner Vergangenheit und meiner Zukunft würden wir uns zu gegebenem Anlass stellen.

»Weißt du, dass du so ziemlich der Erste bist, der mir seine Freundschaft anbietet und mich nicht aufgrund meines Geschlechts direkt über Bord werfen will?«

»Ich hatte da so einen kurzen Moment, da habe ich ebenfalls darüber nachgedacht. Das hatte allerdings weniger etwas mit deinem Geschlecht zu tun«, gestand er mit einem Augenzwinkern. »Aber wir sollten jetzt besser gehen, bevor es noch zu Gerüchten kommt. Ich möchte dem Captain ungern Rede und Antwort stehen, was ich so lange mit seiner Frau hinter verschlossenen Lagertüren getrieben habe.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top