Kapitel 22 - Prophezeiungen, Wahrheiten und weitere Dilemmas


Eleah



Als ich ein paar Tage später von einem Ausritt zum Fluss wiederkehrte, war Zola bereits auf dem Hof eingetroffen. Sie begrüßte mich freudestrahlend und vergewisserte sich dann mit einem raschen Blick, dass noch alles an mir dran war und ich keinen Dolch irgendwo in den Eingeweiden stecken hatte. Wenn sie sich solche Sorgen um mich machte, dann hätte sie mich besser mit sich nehmen sollen, aber bevor ich ihr das sagen konnte, tätschelte sie zufrieden meine Hand und wandte sich dann Bel zu, mit dem sie ein Gespräch unter vier Augen führen wollte.

Mies gelaunt stand er unter einer großen Eiche im Hof. Wenigstens schien er momentan nüchtern zu sein, denn die letzten Tage war er weniger bei vollem Verstand gewesen.

Als Zola ihn erreichte und ein paar Worte mit ihm wechselte, verschränkte er abwehrend die Hände vor der Brust. Die Mordlust stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und mit jedem Wort, das Zola mehr sprach, zogen sich seine dunklen Augenbrauen immer weiter zusammen, bis sich eine tiefe Furche zwischen ihnen gebildet hatte.

Asil versuchte meinem fragenden Blick auszuweichen, gab sich aber schließlich geschlagen und seufzte: »Es könnte sein, dass mir da eine Bemerkung zu dem, was mit Beaufort geschehen ist, Zola gegenüber herausgerutscht ist.«

Mein Blick glitt zurück zu Zola und Bel, die lautstark angefangen hatten zu streiten, doch leider konnte ich kaum ein Wort verstehen.

»Wird er sie töten?«, fragte ich nachdenklich und machte mir ein bisschen Sorgen um Zola, die gut eineinhalb Köpfe kleiner war, als er und den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihm in das Gesicht blicken zu können.

Asil schnaubte amüsiert. »Warum sind deine Gedanken immer so brutal? Nein, er wird sie nicht töten. Bei ihr bin ich mir da aber nicht so sicher ...«

»Gibt sie ihm die Schuld?«

»Sie hat dich in seiner Verantwortung zurückgelassen.«

»Das ist doch Schwachsinn«, entgegnete ich. »Ich bin freiwillig mit Beaufort mitgegangen.« Nicht mal ich gab Bel die Schuld dafür. Ich hatte eine dumme Entscheidung getroffen und dafür bezahlt. Niemand außer Beaufort musste dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

»So einfach ist es leider nicht, Eleah.« Asil hatte den Blick ebenfalls auf die beiden gerichtet. Ihre Stimmen wurden immer lauter, woraufhin sich auf Asils Stirn nun ebenfalls eine tiefe Furche bildete. »Entschuldige mich bitte, ich gehe wohl doch besser mal dazwischen, bevor die beiden sich an die Gurgel gehen.« Mit großen Schritten stürmte er über den Hof und legte Bel freundschaftlich den Arm um die Schultern. Er wechselte ein paar Wörter mit den beiden Streithähnen, und als die Stimmung sich scheinbar wieder beruhigt hatte, rubbelte er Bel mit der Faust über den Schädel, woraufhin er einen bitterbösen Blick erntete.

Bel löste seinen vernichtenden Blick von Asil und starrte mich über Zolas Schulter hinweg an, was ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen auslöste. Seine dunkle Kleidung schien mit dem Schatten, den der Baum warf, zu verschmelzen und nur das wütende Funkeln seiner Augen machte mich noch einmal auf ihn aufmerksam. Asil sagte etwas, sodass Bel sich schließlich vom Stamm des Baumes abstieß und über den Hof zur Haustür stapfte, gefolgt von einem grinsenden Asil. Ich konnte es wirklich kaum erwarten, endlich zu erfahren, was hier vor sich ging.

Ich folgte den anderen in die Küche, wo wir alle an dem langen Eichenholztisch Platz nahmen, bis auf Bel, der sich merkwürdig verkrampft an eine Wand lehnte und sich von uns distanzierte.

»Ich denke, ich fange am besten ganz von vorne an«, begann Zola schließlich und räusperte sich. »Vor vielen Jahren war diese Welt noch ein Ort voller Magie gewesen, denn jeder Mensch wurde bei seiner Geburt in ein elementares Zeichen geboren. Trotz dieser Mächte herrschte größtenteils Frieden, da jedes Element seine Vor- und Nachteile einem anderen Element gegenüber hatte und niemand es wagte, den Zorn eines stärkeren Elements auf sich zu ziehen.« Sie machte eine theatralische Pause. »Bis vor zweihundert Jahren.«

Ich spürte, dass ich der Wahrheit noch nie so nah gewesen war und konnte es kaum abwarten endlich mehr zu erfahren. Zola aber ließ sich Zeit, nippte an ihrem Wein und sah in die Runde. Als niemand Anstalten machte weiter zu erzählen, fuhr sie schließlich fort. »Damals tauchte eine Frau, eine Hexe, auf. Sie war jung und wunderschön und leider bemerkten die Männer erst zu spät, wie manipulativ sie war. Sie selbst war im Zeichen des Feuers geboren und sie war sehr mächtig. Geschickt wählte sie ihre Liebhaber nach der Macht ihrer Magie und der politischen Stellung, die sie hatten. So kam es schließlich, dass sie zur Königin gekrönt wurde. Keine zwei Wochen später verstarb ihr Mann an einer mysteriösen Krankheit. Sie hätte ihn auch direkt nach der Hochzeit töten können, aber das hätte vermutlich zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Schon bald bemerkte man, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug, was sie aber nicht davon abhielt, mit feuriger Hand über ihr Volk zu herrschen. Nach und nach begann sie alle Menschen am Hof durch Feuergeborene auszutauschen und stärkte so ihre Armeen. Ich war damals eine junge angehende Seherin und habe ihre Taten misstrauisch beäugt. Eines Tages sagten mir meine Knochen voraus, dass ihr Feuer großes Leid über diese Welt bringen wird, aber natürlich glaubte mir niemand.«

»Moment«, unterbrach ich Zola verblüfft, weil ich nicht glauben konnte, was sie mir da gerade erzählte, »willst du damit sagen, dass du über zweihundert Jahre alt bist?«

Zola nickte zur Bestätigung. »Mein Volk wird sehr alt. Wir haben einen Weg gefunden, den Alterungsprozess unseres Körpers hinauszuzögern, sodass nur unser Geist, unsere Seele älter und weiser wird. Es ist nicht besonders erstrebenswert, so zu leben, zu sehen, wie Freunde altern und sterben. Aber als mein Volk auf das Mittel stieß, war ich selbst noch ein Kind und hatte keine Stimme, die ich dagegen erheben konnte. Das ist aber jetzt nicht die Geschichte, die ich dir erzählen will«, sagte sie. »Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, zur Geburt ihres Sohnes prophezeite ich ihr, dass ihr eigenes Feuer sie irgendwann vernichten und dass ein gesegnetes Luftelement ihr Feuer bändigen würde, wenn sie nicht aufhören würde, ihr Volk zu tyrannisieren, denn das hatten mir meine Knochen vorhergesagt. Meine Worte müssen etwas in ihr bewirkt haben, nur leider tat sie nicht das, was ich gehofft hatte. Sie schickte ihre Armeen mit dem Befehl aus, jedes Luftelement zu ihr zu bringen. Vierzehn Jahre dauerte es, bis sie endlich das gesegnete Luftelement gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits fast alle anderen Luftelemente grausam hinrichten lassen. Die Gesegnete war damals ungefähr in deinem Alter, und als ich die Prophezeiung verkündete, muss sie selbst noch ein Kind gewesen sein. Als die Königin ihrem Leben ein Ende setzen wollte, explodierte neben ihr der Kronprinz, der bis zu diesem Zeitpunkt ein sehr unauffälliges magisches Leben geführt hatte. Eine gigantische Feuerwalze jagte durch die gesamte Stadt und kostete damals Hunderten von Menschen das Leben. Männer, Frauen, Kinder – niemand wurde von seiner Macht verschont. Nach diesem erschreckenden Ereignis verschwand der Kronprinz, löste sich einfach in Luft auf und das gesegnete Luftelement fand man auch nicht mehr. Vermutlich verbrannte ihr Körper und wurde dann vom Wind davongetragen. Zu diesem Zeitpunkt erkannte ich, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Die Königin war eine grausame Herrscherin gewesen, aber das Feuer ihres Sohnes war mindestens genauso mächtig und er hatte keine Kontrolle darüber. Die Königin muss ihren Sohn ebenfalls unterschätzt haben, denn nach seinem Verschwinden ließ sie ihn lange suchen. Sie wollte seine Macht unbedingt in ihren eigenen Reihen wissen. Nach allem was geschehen war, begannen die Menschen ihre Magie zu unterdrücken, über Generationen hinweg, aus Angst, dass ihr Zeichen das Nächste auf Galateas Liste war. Das hatte zur Folge, dass die Magie so gut wie ausstarb. Schon jetzt werden immer mehr Menschen vollkommen ohne Segnung geboren.«

»Galatea? Soll das heißen, Königin Galatea ist die Frau von damals?« Nach dieser schrecklichen Geschichte drehte sich in meinem Kopf alles.

»Die Hexe.« Zola nickte. »Es gibt nicht nur die elementaren Zauber.« Sie deutete auf ihr Auge, in dem das kleine Dreieck silbern rotierte. »Ich stamme von einem alten Volk ab, welches hinter dem verbotenen Ozean lebt. Galatea hat damals mit meinem Volk einen Pakt geschlossen. Sie haben ihr das Geheimnis ewiger Jugend verraten und sie hat uns dafür verschont.«

»Das alles klingt wirklich schrecklich«, sagte ich, »aber wie ist es möglich, dass nun ich das gesegnete Luftelement sein soll?«

»Ich habe keine Antwort auf diese Frage von meinen Knochen erhalten. Vielleicht verhindert jemand mit einem Zauber, dass die Wahrheit herauskommt, aber wir sollten es einfach als zweite Chance sehen. Meine Knochen sagen, dass es noch nicht zu spät ist. Ich schätze, du wirst dich auf eine Reise begeben müssen, denn du bist nicht allein Teil der Prophezeiung. Sie besagt außerdem, dass Feuer mit Feuer bekämpft werden muss und nur ihr eigenes Feuer sie vernichten kann. Deine Aufgabe als gesegnetes Luftelement ist es, mit der Unterstützung aller anderen Elemente das auserwählte Feuer zu bändigen und zu nähren, sodass es stark genug ist, Galatea zu vernichten.

»Das ist aber alles sehr kryptisch, was du da sagst. Was genau wird jetzt von mir erwartet?«, fragte ich und war mir gar nicht mehr sicher, ob ich die Antwort auch wirklich hören wollte.

»Nicht wirklich«, entgegnete Asil. »Es bedeutet lediglich, dass es an der Zeit für dich ist, den gesegneten Feuergeboren und die anderen vier Elemente zu suchen, damit ihr uns alle erlösen könnt.«

Ruckartig stand ich auf, sodass der Stuhl umkippte. »Nein!« Alle anwesenden Augen richtete sich auf mich. »Ich bin doch nur ein ganz normaler Mensch. Ich trage keine Magie in mir und ich bin auch nicht auserwählt. Ich kann euch nicht retten.«

Zola lächelte. »Du wirst lernen, die Magie in dir anzunehmen und zu kontrollieren.« Sie warf Bel einen Blick zu, der während des Gesprächs an der hinteren Wand gelehnt und uns still beobachtet hatte. Er stieß sich mit dem Fuß ab und zog den kleinen Dolch aus seinem Stiefel. Widerwillig kam er zu uns an den Tisch, griff nach der Lehne eines Stuhls und drehte ihn herum. Verkehrt herum ließ er sich auf dem weichen Polster nieder und fuhr sich ohne mit der Wimper zu zucken mit der Klinge durch die Handinnenfläche. Das Blut quoll sofort aus der Wunde heraus und tropfte auf den Tisch. Entschieden griff Zola nach seinem Arm und zog seine Hand zu sich herüber. Ein helles weißes Licht leuchtete auf, als sie mit ihren Fingern über die Wunde fuhr, die nichts weiter als makellose Haut hinterließen.

»Erde«, sagte sie schließlich. »Die Magie des Lebens und der Heilung.«

Mit aufgerissenen Augen wirbelte ich zu Asil herum. »Und du?«

»Wasser«, sagte er und formte eine kleine Kugel aus Wasser, mit der er das Blut vom Tisch spülte. »Die Magie der Seemänner und Piraten.«

»Aber ich ...«, stammelte ich, »ich kann nicht die sein, nach der ihr sucht. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Eine Niedere.«

Zola seufzte. »Wir haben nicht nach dir gesucht, Kind. Du hast uns gefunden. Ich habe mich einmal geirrt, aber dieses Mal bin ich mir sicher.«

Um meine trockene Kehle loszuwerden, goss ich mir einen Becher Wein ein und kippte ihn in einem Zug hinunter. Dann stellte ich meinen Stuhl wieder auf und ließ mich darauf fallen. Glaube und Unglaube wechselten sich ab. Das alles war so surreal, aber sie hatten auch keinen Grund, mich zu belügen.

»Für den Fall, dass ich euch glaube und mein Schicksal annehme – was genau würde das für mich bedeuten?«

»Das bedeutet, dass du trainieren wirst, bis du dein Element beherrschst«, antwortete Zola.

»Und dann?«

»Dann wird es Zeit, dass du den anderen Teil der Prophezeiung findest. Den Feuergeborenen. Mit ihm zusammen und den anderen Elementen, die dich finden werden, wirst du die Königin vernichten können.«

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. »Was, wenn ich nicht bleiben und euch helfen will?«

»Ich fürchte, du hast keine andere Wahl. Du bist nicht grundlos hier. Außerdem wird sich das Portal erst wieder öffnen, wenn du die Prophezeiung erfüllt hast.«

Bei ihren Worten sackte mir das Herz in die Knie. Atemlos starrte ich auf die schweißnassen Hände in meinem Schoß. Das, was Zola da sagte, bedeutete, dass ich in dieser Welt gefangen war und ich tatsächlich keine andere Wahl hatte. Ich schmeckte Galle auf meiner Zunge, als ich zu Bel herum fuhr. Ob er das alles gewusst hatte, als er mir versprach, eine Karte dieser Welt zu besorgen?

Ich konnte den Blick, den er mir zuwarf, nicht deuten. War es Mitleid? Oder Sorge? Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

»Es gibt da noch etwas«, fuhr Zola fort und riss mich aus meinen Gedanken. »Das Licht deiner Segnung, dass du in dir trägst, wird sehr schnell die Aufmerksamkeit der Königin auf dich lenken. Wie ich gehört habe, sind sie dir schon dicht auf den Fersen. Solange du nicht trainiert und den Feuergeborenen gefunden hast, ist es sinnvoll, wir hüllen dich in Schatten und Dunkelheit, damit du nicht gefunden werden kannst. Und wer wäre dazu besser geeignet als unser lieber Bel?«

»Zola ...«, knurrte Bel warnend. Es war das Erste, was er zu dieser Unterhaltung beitrug.

Die Seherin warf ihm nur einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an mich. »Eine Hochzeit.«

»Wie bitte?« Ich riss die Augen auf und starrte sie an, weil ich glaubte, Bel würde sie jeden Moment in der Luft zerfetzen, doch er schwieg. Er sagte nichts, starrte einfach auf seine Fäuste, während die kleine Vene an seinem Hals zu explodieren drohte.

Ruckartig stand ich erneut auf und schlug mit den Händen auf den Tisch, bis er mich ansah. »Willst du gar nichts dazu sagen? Findest du das nicht absolut lächerlich?«

»Ich habe es ihm eben bereits mitgeteilt. Er weiß, dass Opfer gebracht werden müssen, um der Tyrannei ein Ende zu setzen. Und wenn es seine Aufgabe ist, das letzte Luftelement zu heiraten, damit seine Dunkelheit ihr Licht dämmen kann, dann wird er es tun. Wir alle müssen Opfer bringen und ich denke, es hätte ihn wahrlich schlimmer treffen können.«

Asil grinste Bel über den Tisch hinweg an. »Genau. Sie ist doch eigentlich ganz hübsch. Ein bisschen vorlaut, aber nett anzusehen.«

Bels Fingerknöchel traten weiß hervor. Er warf erst Asil und dann Zola einen vernichtenden Blick zu, ehe er mit zusammengebissenen Zähnen antwortete: »Einverstanden.«

Zola klatschte begeistert in die Hände und ich saß da und konnte es nicht fassen, dass er zu diesem Albtraum sein Einverständnis gab.

»Habe ich da nicht auch noch ein Wörtchen mitzureden?«, fragte ich, während sich Tränen in meinen Augen sammelten.

»Leider nicht.« Zola sah mich mitleidig an und tätschelte über den Tisch hinweg erneut meine Hand, die ich ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

Asil hatte recht. Meine Gedanken waren neuerdings ziemlich düster, aber diese Welt machte es mir auch nicht leicht. Die Tage der Leichtigkeit waren längst vorbei und hatten einer erdrückenden Wut platz gemacht, die in mir brodelte. Ich mochte Zola. Ihr hatte ich es zu verdanken, dass ich aus dem Verlies des Schiffes entkommen war, und jetzt trieb sie mich auf direktem Weg zurück in die Arme meines Wärters.

»Warum eine Hochzeit?«, fragte ich um Fassung bemüht.

»Durch die Hochzeit binden wir dich an Bel. Dadurch wird es ihm möglich sein, mit seiner Dunkelheit dein Leuchten dauerhaft und kontrolliert zu dimmen.« Zola winkte Mary herbei, die bei der Neuigkeit, dass eine Hochzeit stattfinden würde, ganz aus dem Häuschen geriet. Die beiden Frauen besprachen ein paar Details und man einigte sich auf den schnellstmöglichen Termin in zwei Wochen.

Zwei Wochen.

In zwei Wochen würde ich heiraten. Einen Mann, den ich erst seit wenigen Wochen kannte. Der mich eingesperrt und fast umgebracht hatte. Was würde ich noch alles in dieser Welt ertragen müssen, bis ich wieder nach Hause konnte?

Mein Herz raste in meiner Brust und ich bekam kaum noch Luft. Mit zitternden Händen erhob ich mich von meinem Stuhl. Ich brauchte dringend frische Luft.

Ich rannte hinaus und schlug die Tür hinter mir zu. Mein Entsetzen führte mich auf direktem Weg in das angrenzende kleine Waldstück. Ich lief, so weit mich meine Beine trugen und mir die Luft endgültig wegblieb.

Luft.

Was für eine Ironie.

Unterwegs stolperte ich über eine große Wurzel, knickte um und schlug mir das Knie auf. Ich rappelte mich auf und lief weiter, bis mein Knöchel so sehr schmerzte, dass kein weiterer Schritt mehr möglich war. Unter einer großen Eiche sackte ich weinend zusammen und schlug mit der Faust auf den Baumstamm ein, bis meine Fingerknöchel blutig waren. Ich schrie so laut, dass sich ein Schwarm Vögel aus der Baumkrone eines Baumes gestört von mir laut kreischend davon machte.

Dann war es plötzlich mucksmäuschenstill. Und mit der Stille kam die Erkenntnis, dass es viel schlimmer wohl nicht kommen konnte. Ich hatte die Gefangenschaft und die Begegnung mit Beaufort überstanden und stand immer noch hier mit erhobenem Haupt. Ich war stark. Vielleicht sogar stärker, als ich mir eingestehen wollte.

Ein Knacken im Unterholz ließ mich erschrocken auffahren, bis mich mein schmerzender Knöchel daran erinnerte, dass er das für keine besonders gute Idee hielt. Mit einem Keuchen ließ ich mich wieder am Baumstamm hinab.

Bel lehnte mit der Schulter am Stamm einer weiteren Eiche, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick glitt von meinem verheulten und mit Dreck beschmutzten Gesicht über meine verschrammten Hände und Knie.

»Dass du dich lieber umbringen willst, als mich zu ehelichen, kann ich nicht gerade als Kompliment auffassen.«

Wütend griff ich nach einer Eichel und warf sie auf ihn. »Warum hast du nicht abgelehnt? Wir hatten einen Deal!«

Belustigt sah er der Eichel nach, wie sie an seiner Brust abprallte und auf dem Waldboden landete. »Dafür gibt es mehrere Gründe und ich kann dir momentan noch nicht alle nennen, aber einen davon hat Zola dir doch bereits erläutert. Auch mir liegt viel daran, dass Galateas Tage der Macht gezählt sind. Im Krieg müssen nun mal Opfer erbracht werden«, er zuckte gleichgültig mit den Schultern, »und wenn das mein Opfer sein soll, dann muss ich dich eben noch eine Zeit lang ertragen. Außerdem hat Zola recht. So selten eine Segnung ist, genauso selten ist auch eine Verfluchung. Ich bin also weit und breit der Einzige, der dein penetrantes Leuchten dämmen kann. Und wenn ich dir noch einen guten Rat geben darf: Geh in Zukunft besser keinen Deal mit einem Piraten ein. Da kommt meistens nichts Gutes bei raus.«

»Ach? Aber eine Ehe ist in Ordnung, oder was?« Der Spott in meiner Stimme war kaum zu überhören. »Es waren doch deine Worte, dass ich mich von dir fernhalten soll. Und jetzt nimmst du diese Entscheidung einfach so hin? Außerdem habe ich nicht darum gebeten irgendetwas in mir zu dämmen, was ich selbst nicht einmal wahrnehmen kann.«

Bel schnalzte mit der Zunge. »Weil es noch nicht hell genug ist. Die mickrigen feuergeborenen Soldaten in Eisenstadt konnten wir täuschen, aber Beaufort ist ein anderes Kaliber. Von Galatea ganz zu schweigen. Sie wird dich so schnell umbringen, dass du es nicht mal bemerken wirst.«

»Warum?«

»Weil du ein Teil der Prophezeiung bist, die das Land, die Welt und vielleicht sogar die Magie retten wird.« Er massierte sich die Schläfen. »Sieh es einfach als eine Art Vertrag, aus dem du entbunden wirst, wenn du den zweiten Teil der Prophezeiung gefunden hast und einen Teil deiner Aufgabe erfüllt hast.«

»Den Feuergeborenen?«

Nickend rutschte Bel an der gegenüberliegenden Eiche hinab.

»Was ist, wenn es sich dabei um Leutnant Beaufort handelt? Er ist doch im Zeichen des Feuers geboren?« Meine Stimme klang panisch. »Er meinte doch, dass er das Recht hätte mich zu beanspruchen.« Plötzlich kam mir ein ganz anderer Gedanke. »Du ... Warum hast du mich damals schon als deine Verlobte vorgestellt? Du konntest doch nicht wissen das ... oder doch?«

»Heiliger Klabautermann, beruhige dich, das hält ja kein Mensch aus. Ich denke nicht, dass es sich bei Beaufort um den Feuergeborenen handelt. Und ich habe das nur gesagt, weil es uns etwas Zeit eingebracht hat. Wenn du bereits einem anderen versprochen bist, kann selbst er nichts dagegen ausrichten. Es war eine Kurzschlussreaktion.« Er winkte ab.

Ich atmete tief durch, damit ich mich etwas beruhigte. »Woher werde ich wissen, wer ... der Auserwählte ist?« Irgendwie klang das für mich noch immer unwirklich. Aber ein Zeuge der Magie in dieser Welt war ich mittlerweile mehr als einmal geworden.

»Du wirst ...«, Bel suchte nach einem Wort, »eine positive Verbindung zu ihm spüren. Auch er ist vermutlich schon sein ganzes Leben auf der Suche nach dir und fühlt sich unvollständig.« Er dachte kurz nach. »Wenn man bedenkt, dass es bis vor Kurzem kein Luftelement mehr gab, muss das ein ziemlich beschissenes Leben gewesen sein. Irgendwie bemitleidenswert. Schätze, ihr merkt es einfach, wenn ihr euch trefft. Hattest du so ein Gefühl bei Beaufort?«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«

»Na siehst du. Außerdem kämpft Beaufort auf der falschen Seite und ist Galatea ein treuer Untertan.«

»Gehen wir davon aus, ich finde den Feuergeborenen. Was geschieht dann?«

»Dann lösen wir unsere Verbindung auf und du ziehst mit ihm in den Krieg.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich?« Bel hob die Augenbrauen. »Ich sehe zu, dass ich so schnell wie möglich so viele Seemeilen wie nötig zwischen uns bringe.«

»Na vielen Dank auch.« Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich, die nicht aus dieser Welt kommt, darf dann also allein gegen eine unsterbliche Königin und ihre Armeen in den Krieg ziehen.«

»Falsch!«, warf er ein. »Erstens: Diese Welt ist aktuell deine Gegenwart und wenn du je wieder zurück in deine ursprüngliche Welt möchtest, hast du einfach keine andere Wahl.« Sein Mundwinkel zuckte, als er fortfuhr: »Außerdem bist du nicht allein. Ihr seid doch dann eine nette kleine Gruppe, die sich Galatea entgegenstellen wird.« Er strich sich ein heruntergefallenes Blatt vom Ärmel und stand auf. Nachdenklich betrachtete er mich, dann seufzte er ergeben und legte meinen Arm um seinen Nacken.

»Ähm – was soll das werden?«

»Dein Knöchel«, antwortete er. »Du kannst nicht laufen und wir sollten langsam zurück, bevor die anderen sich Sorgen machen.« Er schob seinen Arm unter meine Knie und hob mich hoch.

Ich wagte es nicht, ihn anzusehen, während er mich ohne ein Wort auf den Lippen an seiner breiten Brust durch den Wald trug. Als wir die Hälfte der Strecke hinter uns gebracht hatten, war er es schließlich selbst, der das Schweigen brach.

»Es tut mir leid. Wie ich dich auf dem Schiff behandelt habe, meine ich.« Er räusperte sich.

Ich schwieg weiterhin. Warum war ich plötzlich so verkrampft? Und warum zur Hölle fragte ich mich, ob er mich auch so über die Schwelle tragen würden?

»Du sollst nur wissen«, fuhr er fort, »dass ich gezwungen war, so zu handeln. Vielleicht wirst du es eines Tages verstehen, was es heißt, in einer Welt zu leben, in der man niemandem trauen kann. Schon gar nicht, wenn man wie ich ein Verfluchter ist.« Starr blickte er geradeaus und trat elegant über die Wurzel, die mich ins Stolpern gebracht hatte. »Und dass dir nichts geschehen wird, solange meine Dunkelheit uns umhüllt.«

Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch.

»Lach nur«, sagte er, »aber ich meine es ernst. Wenn du wirklich die bist, für die Zola dich hält, dann würden viele für dich sterben, damit du die Prophezeiung erfüllen kannst. Schätze, auch ich bin wohl bereit, einen gewissen Beitrag zu leisten.« Sein Blick wurde finster. »Solltest du aber irgendjemandem von diesem Gespräch oder meiner Entschuldigung erzählen, dann bringe ich dich doch noch eigenhändig um.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top