Kapitel 18 - Licht am Horizont


Eleah



Das knisternde Feuer des Kamins weckte mich aus einem traumlosen Schlaf und wärmte den Raum und meinen geschundenen Körper. Mir tat noch immer alles weh, doch der größte Schmerz lag auf meiner Seele. Ich wünschte mir, dass ich das Bett nie wieder verlassen musste; dass ich nie wieder einem Menschen begegnete. Dann würde ich ganz bestimmt mit der Zeit auch irgendwann meine Gefühle vergessen und könnte heilen.

Dann und wann musste jemand nach mir sehen, vermutlich wenn ich schlief, denn ein Krug mit frischem Wasser stand stets auf meinem Nachttisch, daneben ein Tablett mit kalter Brühe vom Vortag, welche ich nicht angerührt hatte. Das Einzige, um das ich mich regelmäßig kümmerte, war die Versorgung meiner nässenden Brandwunden, die ich mit einer Tinktur, die nach Calendula roch, täglich mehrfach betupfte.

Erst jetzt, wo ich vom Bett aus in das Feuer starrte, wurde mir bewusst, dass ich die letzten Tage nicht hier eingeschlafen war, sondern beim Betrachten des mir noch immer unbekannten Nachthimmels. Und doch wachte ich jeden Morgen hier auf.

Ob ich ein Feuer jemals wieder ohne ein Gefühl der Kälte würde betrachten können?

Erschöpft schlug ich die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett. Ich war so müde, dass ich nicht wusste, wie ich den Tag bis zum Abend überstehen sollte. Mit einem Ruck zog ich den schweren dunklen Samtvorhang vor dem Fenster zur Seite und nahm einen tiefen Atemzug der warmen Brise, die mir entgegenströmte und meine Lungen flutete.

Der dünne Leinenstoff meines Nachthemds scheuerte auf meiner verbrannten Schulter und der wunden Haut an meiner Brust. Die Besitzerin dieses unmodischen Teils schien in etwa meine Größe zu haben, denn es passte mir erstaunlich gut. Aber was verstand ich schon von Mode?

Draußen auf dem Hof steckte ein Pferd gerade den Kopf aus dem Stall. Es war das Tier, auf dem Bel und ich vor ein paar Tagen auf dem Hof eingekehrt waren. Ein Pfad führte durch einen Torbogen aus dem Innenhof hinaus scheinbar ins Nichts, denn ich konnte weit und breit kein weiteres Anzeichen für Zivilisation ausfindig machen. In der Ferne lag nur ein großes Waldgebiet, das uns umgab.

Ich seufzte. Wo war ich hier nur wieder hineingeraten? Und wie sollte ich es von hier aus zurück in meine Welt schaffen?

Ein zögerliches Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Na Prima! Man hatte also beschlossen, dass meine Einsiedlerzeit vorbei war. Bevor ich etwas antworten konnte, wurde die Tür einen Spalt geöffnet und eine junge Frau lugte herein.

»Guten Morgen«, sagte sie vorsichtig. »Lust auf ein Frühstück?« Zur Verdeutlichung ihrer Frage hielt sie ein Tablett in die Höhe. Heißer Brötchenduft stieg mir in die Nase und ließ meinen Magen laut rebellieren. Als hätte sie nur darauf gewartet, stieß sie schmunzelnd mit dem Fuß die Tür auf und meine Schonfrist war endgültig vorbei.

Ihre Haare hatte sie sorgfältig zu einem Dutt hochgesteckt und nur ein paar einzelne dunkle Locken kräuselten sich in ihrem Nacken. In ihren rehbraunen Augen blitzte der Schalk auf, was von der kleinen frechen Stupsnase nur unterstrichen wurde.

»Vielen Dank«, krächzte ich heiser. Die Zeit des Schweigens hatte also auch ihre Spuren hinterlassen.

»Mein Name ist Mary«, sagte sie und schenkte mir ein Lächeln. »Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen, Eleah.«

Obwohl sie meinen Namen augenscheinlich bereits kannte, fragte ich mich dennoch, wie viel sie wirklich wusste. Aber mit ihrer beruhigenden Art wirkte sie auf mich ein und ich hatte das erste Mal seit Tagen das Gefühl, wieder durchatmen zu können.

Mary griff nach dem Tablett vom Vortag, welches unberührt auf dem Nachttisch stand und lächelte mich noch einmal an, ehe sie mit wehenden Röcken wieder durch die Tür verschwand. Kurz darauf kam sie mit einem großen dampfenden Kessel zurück, den sie in die Holzwanne goss, in der ich bereits nach meiner Anreise gebadet hatte.

»Entschuldige, ich habe dich gar nicht gefragt, ob du ein Bad nehmen möchtest«, sagte sie und stütze den schweren Kessel auf dem Rand der Wanne ab. »Also? Möchtest du? Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen.«

Vielleicht lag es daran, dass ich mir von dem heißen Wasser ein wenig Entspannung erhoffte oder aber daran, dass Mary die erste seit geraumer Zeit war, die mich fragte, was ich wollte, jedenfalls erschien mir ein wohltuendes Bad eine willkommene Abwechslung zu sein. Und vielleicht konnte ich danach auch wieder einen klaren Gedanken fassen, wenn meine Glieder endlich aufhören würden zu schmerzen. Auch wenn es mir tatsächlich ein wenig leidtat, aber das Frühstück musste warten.

Minuten später fiel mein Blick auf den Berg von Stoffen, den Mary hineintrug und sorgfältig auf dem Bett ausbreitete.

»Ich habe dir eines meiner Kleider mitgebracht und habe dein kaputtes entsorgt. Hoffentlich war das in deinem Interesse?«

Dankbar nickte ich. Nicht nur für das Vernichten dieses Erinnerungsstücks, sondern auch, dass sie nicht danach fragte, warum es so zugerichtet war. Aber vermutlich konnte sie sowieso eins und eins zusammenzählen.

Mary half mir aus der Wanne und legte ein Handtuch über meine Schultern, bevor sie mir mit dem Ankleiden half. Im Anschluss frisierte sie noch meine Haare, bis sie mich zufrieden angrinste. »Ich wusste doch, dass eine Lady in dir steckt.«

Ehrfürchtig strich ich über den mitternachtsblauen Stoff des Kleides. So würde ich in dieser Welt vermutlich nicht weiter auffallen, wenn ich nach einer Möglichkeit Ausschau hielt, wie ich in meine Welt zurückkehren konnte.

»Mary!«, rief jemand durch das Haus.

»Ich bin hier, Dean!«, rief sie und fügte dann an mich gewandt hinzu: »Mein Mann.«

Dean bedachte mich mit einer kleinen Verbeugung, als er ins Zimmer geplatzt kam. »Schön, dass es dir besser geht.« Dann wandte er sich an seine Frau. »Das Pferd hat deinen Bruder getreten. Sein Kopf sieht ziemlich übel aus.« Atemlos schnappte er nach Luft, machte auf dem Absatz kehrt und rannte wieder hinaus.

Marys fröhlicher Gesichtsausdruck verschwand auf der Stelle. Besorgt raffte sie ihre Röcke, entschuldigte sich bei mir und folgte ihrem Mann.

Blinzelnd sah ich den beiden nach und entschied mich dann, ihnen zu folgen. In der Küche blieb ich wie angewurzelt stehen. Auf einem Küchenstuhl saß Bel, den ich sofort erkannte, auch wenn er sich frisch rasiert hatte. Er hielt sich ein mit Blut durchtränktes Tuch an den Hinterkopf und musterte mich von oben bis unten. Eine Sekunde hatte ich das Gefühl, als würden seine Mundwinkel zucken, aber er hatte seine Mimik erstaunlich schnell wieder unter Kontrolle, denn auf den zweiten Blick sah er genauso mürrisch aus wie immer.

»Er ist dein Bruder?«, fragte ich fassungslos. Unterschiedlicher konnten die beiden von ihrer Art und Weise wohl kaum sein.

Mary nickte kurz und wirbelte dann durch die Küche, um Wasser und Tücher zu holen. Mir fiel ein, dass Bel bei unserer Ankunft erwähnt hatte, dass seine Schwester auf diesem Hof lebte, aber trotzdem konnte ich kaum Ähnlichkeiten an ihnen feststellen.

»Ist wohl mein Glück, dass du dich entschlossen hast, aus deinem Schneckenhaus zu kriechen.« Bel schloss die Augen, atmete aber ruhig und gleichmäßig ein und aus. »Das Kleid steht dir übrigens nicht. Du siehst echt lächerlich aus.«

Meine Hände schlossen sich zu Fäusten, während glühende Hitze meinen Nacken hinaufkroch. »Du ...! Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!« Wütend stapfte ich zu ihm hin und sah mir seinen Kopf an. Die Wunde war nicht besonders groß, aber es hörte einfach nicht auf zu bluten. Also beschloss ich sie mit ein paar Stichen zu nähen.

»Ist dir übel?«

»Nein.«

»Schade. Dann werden Kopfschmerzen wohl deine einzige Strafe werden.«

»Die habe ich nicht erst durch den Tritt des Pferdes«, knurrte er mit verschränkten Armen vor der Brust.

Wir funkelten uns einen Moment an und erst als ich mir der Blicke von Mary und Dean bewusst wurde, räusperte ich mich verlegen und ließ mir von Mary Alkohol und Nähzeug bringen.

Nicht gerade sanft begann ich die Wunde zu betupfen, aber Bel gab keinen Laut von sich und ließ mich gewähren. Mary aber schnappte entrüstet nach Luft und riss mir das Tuch aus der Hand. Ehe ich protestieren konnte, griff Bel nach der Hand seiner Schwester und schüttelte entschieden den Kopf.

»Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Lass sie nur machen.«

Verwirrt betrachtete Mary ihren Bruder, ehe sie sich zu mir drehte und mir zögerlich das Tuch reichte. Bels Körper begann zu zucken und Empörung machte sich in mir breit, als mir bewusst wurde, dass er tatsächlich ein Lachen unterdrückte. Ich klatschte ihm erneut das nasse Tuch auf den Kopf, was ihn unter meinen Händen zusammenzucken ließ. Mit Genugtuung säuberte ich seine Wunde zu Ende, bevor ich den ersten Stich setzte.

»Sie hat zwar ihre eigenen Methoden, aber keine Sorge, sie weiß, was sie tut.« Bel drückte die Hand seiner Schwester. »Auch wenn sie die Zärtlichkeit eines Henkers besitzt«, fügte er trocken hinzu.


***


Ich hatte meine Freiheit zurück. Das erste Mal seit Wochen kam ich mir nicht mehr wie eine Gefangene vor. Meine Tür war nicht verschlossen und es wurden auch keine Wachen davor positioniert. Ich konnte mich völlig frei auf dem Hof bewegen, und obwohl ich von manchen Mitarbeitern immer noch misstrauisch beäugt wurde, lebte ich mich erstaunlich gut ein, wie ich zu meinem Entsetzen feststellte.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz, während ich den Pferdestall ausmistete. Ich hatte mein Ziel völlig aus den Augen verloren, nach einem Rückweg in meine Welt zu suchen. Die Tagen auf dem Hof waren zu Wochen geworden und es musste mittlerweile doch genug Gras über die Sache gewachsen sein, dass ich mich dieser Aufgabe wieder widmen konnte, oder?

Die Gefahren dieser Welt waren mir durchaus noch immer bewusst, aber hierzubleiben und Däumchen zu drehen, war für mich keine Option. Genauso wenig wie Bel um Erlaubnis zu fragen. Deswegen beschloss ich meinen Radius zu erweitern und in den nächsten Tagen den Hafen aufzusuchen, in der Hoffnung, dass das Gefühl der Freiheit mich nicht täuschte. Bis dahin würde ich mich in Geduld üben und weiterhin auf dem Hof mit anpacken, um mir genügend Vertrauen zu erarbeiten. Außerdem half mir die Arbeit dabei, den Kopf frei zu kriegen.

Ich wusste nicht, ob Bel seiner Schwester und ihrem Mann von Beaufort oder meiner Portalreise erzählt hatte, denn sie behandelten mich normal und keiner von ihnen sprach mich darauf an. Das war gut, denn mir stand nicht der Sinn danach, ständig erneut daran erinnert zu werden.

»Du weißt schon, dass das Männerarbeit ist und wir Personal dafür haben?« Das grelle Licht der Sonne beschien Bel von hinten, der soeben im Türrahmen aufgetaucht war, doch der knurrende Unterton seiner Stimme war unverkennbar, obwohl sein Gesicht in Dunkelheit gehüllt war.

»Männerarbeit«, echote ich mit einem Augenrollen und strich mir verärgert eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Was wollte er? Wenn er schlechte Laune verbreiten wollte, konnte er gleich wieder verschwinden.

»Zumindest haben wir für die Pferde die Stallburschen und zu ihrer Arbeit gehört auch das Ausmisten.« Mit verschränkten Armen vor der Brust lehnte er sich gegen den Türrahmen und musterte mich. »Meine Schwester könnte vielleicht etwas Hilfe in der Küche gebrauchen.«

Energisch stach ich die Mistgabel in das Heu. »Ich kann nicht kochen«, sagte ich und zog die Augenbrauen hoch. Seit er mich vor Beaufort gerettet hatte und wir auf dem Hof eingekehrt waren, war er zwar nicht die Freundlichkeit in Person, aber er wirkte auf mich irgendwie verändert. Und das irritierte mich. Die Dunkelheit, die ihn von Beginn an umgeben hatte, konnte ich deutlicher als bisher wahrnehmen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ich besser bewaffnet war als er – wie ich nach einem schnellen Blick an seinen Waffengürtel feststellte –, schürte meinen Mut herauszufinden, wie weit ich gehen konnte.

Natürlich hatte ich nicht vergessen, dass er diesen schwarzen Nebel kontrollieren konnte, wogegen auch die Mistgabel machtlos sein würde, aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass er in das Hauptquartier der Marine eingedrungen war, um mir zu helfen und ich nach einigen Auseinandersetzungen noch immer am Leben war.

»Ich erinnere mich an das, was du über deine Welt erzählt hast«, sagte er, »dass Männer und Frauen dieselben Rechte haben, meine ich. Anscheinend haben sie auch dieselben Pflichten. Wenn du allerdings hier bei uns im Mist wühlst, trägt das nicht unbedingt dazu bei, dass die Leute dich weniger misstrauisch beäugen.« Sein Blick glitt von oben an mir hinab und blieb an meinen Füßen hängen. »Du solltest wirklich dringend daran arbeiten, nicht so extrem aufzufallen.«

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und folgte seinem Blick. Der Mist ging mir bis zu den Knöcheln und mein Rocksaum stand vor Dreck. Ich musste zugeben, seine Argumente waren gut. Frauen, die die Küche verweigerten und stattdessen lieber im Stall halfen, waren in dieser Welt vielleicht tatsächlich ungewöhnlich und würden nicht unbedingt dazu beitragen, eine gute Basis für Vertrauen zu schaffen. Aber dass ich ihm insgeheim zustimmte, musste ich ihm ja nicht direkt auf die Nase binden.

»Ich habe nicht vor, hierzubleiben«, sagte ich und beschloss nicht noch länger zu warten. »Von daher dürfte es da zu keinen weiteren Problemen kommen. Oder bin ich noch immer eine Gefangene?«

»Nein, du bist keine Gefangene«, antwortete er und stieß sich vom Türrahmen ab. Mein Griff um die Mistgabel verstärkte sich, was er mit einem halben Grinsen kommentierte. Dennoch blieb er an Ort und Stelle stehen und widmete seine Aufmerksamkeit seinen Fingernägeln, die ihn schlagartig zu interessieren schienen. »Aber Zola hat mir eine Nachricht zukommen lassen. Sie wird in ein paar Tagen hier eintreffen. Vielleicht möchtest du zumindest so lange bleiben und dir anhören, was sie zu sagen hat?«

»Ich wüsste nicht, was das ändern sollte.«

»Möchtest du keine Antworten?«

Natürlich wollte ich Antworten, aber ich war mir nicht sicher, ob mir auch gefallen würde, was Zola zu berichten hatte. Unwissend zu verschwinden erschien mir durchaus verlockend.

»Ich würde gerne den nächsten Hafen besuchen und mich dort ein bisschen umschauen. Ein bisschen Zeit bis zu Zolas Ankunft bleibt doch noch, oder?«

Seinem skeptischen Blick nach zu urteilen, hielt er das für keine besonders gute Idee. Da er mir aber gerade eben noch versichert hatte, dass ich keine Gefangene war, kratzte er sich lediglich am Kinn und willigte ein.

Ich versuchte meine Freude zu unterdrücken, als ich realisierte, dass das die Gelegenheit für mich war, auf die ich gehofft hatte.

Er griff sich an den Gürtel und warf mir einen Beutel Münzen zu. »Sieh es als Vorschuss auf deinen Lohn.« Dann drehte er sich um und verschwand im Schatten eines kaputten Pferdekarrens.

Zufrieden klopfte ich mir den Dreck von meinem Kleid und beschloss, mich in den nächsten Tagen auf den Weg zu machen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top