Kapitel 09 - Die harte Realität
Eleah
Seit Tagen hatte ich den Himmel nicht gesehen und kein einziges Schaukeln gespürt. Die Luft in meinem Gefängnis roch modrig, es war stickig und schwül und gleichzeitig war es befremdlich still.
Teilnahmslos lag ich auf meinem Bett aus Stroh und döste vor mich hin. Mein Kopf war so schwer, dass mein geschwächter Körper ihn kaum mehr tragen konnte. Nicht einmal Tränen wollten sich noch bilden. Wahrscheinlich hatte ich meinen gesamten Vorrat bereits verbraucht. Ich war schmutzig, stank nach Schweiß, Dreck und anderen undefinierbaren Gerüchen. Ich hatte gebetet, geflucht und gekämpft. Aber jetzt hatte ich aufgegeben.
Zumindest äußerlich.
Innerlich sparte ich meine letzten Kraftreserven für einen vielleicht letzten Fluchtversuch und dieses Mal würde ich Bel in der Zelle einsperren. Es ärgerte mich, dass ich erst jetzt daran dachte. Wenn ich die Tür bei meinem letzten Fluchtversuch einfach zugezogen hätte, dann hätte ich einen größeren Vorsprung gehabt und wäre ihm vielleicht entkommen. Dieser Fehler würde mir kein zweites Mal passieren.
Ich fuhr auf, als mir jemand einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht kippte. Mit weit aufgerissenen Augen schnappte ich nach Luft.
»Zeit aufzuwachen, Prinzessin.« Bel schnalzte mit der Zunge.
»Elender Mistkerl«, murmelte ich. Der Zeitpunkt war endgültig gekommen, dass Mordgedanken in meinem Kopf herumspukten. Entweder er oder ich.
Eine dunkelhäutige Frau drängelte sich hinter seinem Rücken hervor. Sie strafte Bel mit einer wütenden Miene und riss ihn den Eimer mit einem Ruck aus der Hand.
Mein Blick huschte irritiert zwischen Bel und der kleinen runden Frau hin und her. Was hatte er jetzt wieder vor? Seit unserer letzten Auseinandersetzung hatte er sich nicht mehr blicken lassen. Mir war es mehr als recht gewesen. Doch jetzt stand er mit verschränkten Armen vor der Brust wieder vor mir und schien auf etwas zu warten. Meine Alarmglocken melden sich lautstark zu Wort.
Die Frau hockte sich vor mir und musterte mich neugierig. Ihre Augen waren ungewöhnlich: Das eine dunkelbraun, fast schwarz und das andere genauso dunkel, aber im Innenwinkel rotierte ein kleines Dreieck wie flüssiges Silber. Ich konnte den Blick nicht davon abwenden. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie selbst schien solche Reaktionen gewöhnt zu sein, denn sie rümpfte nur die Nase.
»Sie brauchen dringend ein Bad.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich zu Bel auf. Ha! Keine Ahnung, was hier los war, aber es gefiel mir, eine Verbündete zu haben. Ihm scheinbar weniger, denn er gab nur einen knurrenden Laut von sich.
Lächelnd wandte sich die Frau mir wieder zu. »Mein Name ist Zola. Wie heißt du, mein Kind?«
»Eleah«, sagte ich heiser und begann zu husten.
»Könnten wir für Eleah etwas zu trinken bekommen?«
Bel kniff die Lippen zusammen und sah zur Tür hinaus. Dort stand noch ein weiterer Mann. Seine blonden Haare, die ihm in sanften Wellen auf die Schultern fielen, und die aufgeweckten braunen Augen kamen mir bekannt vor. Asil.
Bel gab ihm mit einer einfachen Handbewegung zu verstehen, dass er Zolas Wunsch Folge leisten sollte. »Können wir dann jetzt anfangen?«
Zola verdrehte die Augen und nahm meine Hand in ihre. Sie warf einen Blick auf meine Handfläche und sog sofort scharf die Luft ein.
"Was ist? Was siehst du?« Bel trat näher.
Ich beobachtete irritiert das Spektakel, das um mich herum geschah. Nachdem ich eine halbe Ewigkeit hier unten gesessen hatte, Hunger und Durst leiden musste, auf dem Stroh schlief, mir alles wehtat und ich ungewollt geküsst wurde – wurde mir jetzt aus der Hand gelesen. Zwar hatte ich den Gedanken, dass es sich hier um einen Traum handeln könnte, schon längst verworfen, aber dennoch kam es mir jetzt wieder wie einer vor. Die ganze Situation in der ich mich eingeschlossen habe, wurde immer grotesker.
Scheinbar hatte sich der erste Schock bei Zola gelegt, denn sie sah von meiner Handfläche auf. »Interessant«, sagte sie zu mir und warf dann Bel einen mir unverständlichen Blick zu, »wirklich sehr interessant.«
Angespannt stapfte Bel im Verlies auf und ab. »Geht es vielleicht etwas genauer? Ich habe dich holen lassen, um Antworten zu bekommen, nicht um weitere Rätsel zu lösen.«
Zola lächelt geheimnisvoll. »Nur Geduld, es wird sich alles aufklären.«
Ich entzog ihr meine Hand, die ihr scheinbar so viel Freude bereite und warf einen verstohlenen Blick in meine Handfläche. Für mich sah sie ganz normal aus - wenn auch etwas dreckig und mit langen, teilweise abgebrochenen Fingernägeln, unter denen sich ebenfalls der Dreck stapelte.
Als Asil mit einem vollen Becher wieder hereinkam und ihn mir reichte, betrachtete ich ihn erst misstrauisch und dann den Becher. Zögerlich roch ich an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, von welchem mir der Geruch beißend in die Nase stieg.
Zola lachte schallend auf. »Keine Sorge. Es ist nicht vergiftet.«
Sie konnten ja nicht wissen, dass es möglich war, dass er auf Rache aus war. Zögerlich nahm ich einen Schluck und erahnte, wie mir der Alkohol in der Kehle brannte. Seine Wärme breitete sich aber beruhigend in meinem Körper aus und half mir, mich etwas zu entspannen.
»Zola«, knurrte Bel ungeduldig.
Sie reckte das Kinn. »Ist ja gut.« Erneut nahm sie meine Hand und fuhr mit ihrem Finger eine meiner Handlinien nach. »Eleah ist gesegnet.«
Als sie sah, wie Bel schluckte, lächelte sie mich zufrieden an, ehe sie ihm die Hand reichte. Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass er ihr aufhelfen sollte.
»Und wenn dich das schon überrascht, dann lass mich dir noch sagen, dass ich eine weitere Überraschung für dich habe und deine Vermutung bestätigen kann. Sie ist im Zeichen der Luft geboren.« Nachdenklich glitt ihr Blick über mich. »Wie auch immer das möglich ist.«
Auf Anhieb wich all die Farbe aus Bels Gesicht. Sein Mund klappte auf und schloss sich wieder. Er ließ seine Maske für einen kleinen Moment fallen und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Unmöglich ...«
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte ich noch immer mit leicht belegter Stimme.
»Sie weiß es wirklich nicht.« Zola klopfte Bel auf die Brust. »Luftelemente war es schon immer möglich, durch Portale in anderen Welten zu reisen. Vermutlich ist sie so hierher gelangt.«
Ich verschluckte mich augenblicklich an dem Teufelszeug, dass man mir zum Trinken gegeben hatte. »Wie bitte?«
Zola seufzte mitleidig. »Wenn dich das so überrascht, kommst du vermutlich aus einer Welt, in der nichts über Portale bekannt ist. Dass es sie aber gibt, steht außer Frage, denn sonst wärst du wohl kaum hier.«
Asil warf Zola einen fragenden Blick zu, während Bel zur Salzsäule erstarrt war. Mich wunderte tatsächlich, dass ihn etwas so aus der Bahn werfen konnte. Diese Tatsache machte mich ebenfalls nervös, sodass ich ahne, wie mich die Panik zu übermannen drohte. Ich leerte meinen Becher mit zitternden Händen in einem Zug und ordnete meine Gedanken. Ich soll durch ein Portal in eine andere Welt gereist sein? War das ihr Ernst?
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich Bel. Seine schwarzen Haare standen wirr von seinem Kopf ab, die Augen waren noch immer weit aufgerissen und die Pupillen so groß, dass sie das Blau eingefügt verdrängten. Er starrte die leere Wand vor sich an und gab keuchende Geräusche von sich.
Vielleicht hatte ich einen Fehler gemacht. Vielleicht hatte ich ihn unterschätzt. Mit Kriminellen hätte ich es eventuell aufnehmen können, aber mit Verrückten? Die waren unberechenbar.
»Ich schätze, für weitere Antworten werde ich zuerst die Knochen befragen müssen. Wenn ich eine Antwort erhalten habe, sollten wir uns alle noch einmal zusammensetzen.« Zola ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. »Natürlich unter anderen Umständen.« Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber auf der Türschwelle noch einmal stehen. »Ach und Bel, da deine Fragen vorerst beantwortet sind, hol Eleah hier raus und gib ihr etwas anständiges zu Essen. Und denk an das Bad.« Und dann verschwand sie so plötzlich, wie sie erschienen war.
Hysterisch brach ich in Gelächter aus. Das Schicksal musste es mit mir natürlich wieder übertreiben. Ich hatte es augenscheinlich nicht nur mit einem Verrückten zu tun, sondern gleich mit einem ganzen Schiff voll. Lange hatte ich nicht mehr, also einen Unsinn gehört wie in den letzten Minuten, nur erschloss sich mir nicht, warum sie mich belügen und für dumm verkaufen wollte.
Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, musterte ich verstohlen die beiden Männer vor mir. Ich konnte schlecht sagen, welcher von beiden den labileren Eindruck hinterließ, denn sie starrten beide einfach nur noch Löcher in die Luft. Doch Asil brachte immerhin noch so viel Selbstbeherrschung auf, dass er langsam den Kopf drehte und nun nicht mehr ins Nichts sah, sondern Bel ins Visier nahm. »Das dürfte äußerst interessant werden ...«, murmelte er.
»Es ...«, Bel hielt inne und blickte zu Asil. Dieser kratzte sich nachdenklich am Kinn und gab einen nicht definierbaren Laut von sich. Noch einmal schüttelte er ungläubig den Kopf, woraufhin Bel sich entschied, nun doch besser zu schweigen und mir stattdessen zögerlich seine Hand reichte.
Aufgrund dieser Geste wäre mir alles aus dem Gesicht gefallen, denn das war das Letzte, mit dem ich gerechnet hatte. Trotzdem ließ ich mich nicht täuschen. Ich wusste nicht, was hinter dieser Tat steckte, doch beim Anblick seiner kalten blauen Augen schüttelte es mich und die letzten Tage – oder waren es inzwischen Wochen? – spielt sich erneut in meinem Gedächtnis ab. Eiskalt. Er war ein eiskalter Killer, der nicht davor zurückschrecken würde, mir die Kehle durchzuschneiden, wenn ihm danach war.
Das einzig Merkwürdige war nur, dass er es bisher nicht getan hatte, und auch jetzt wich er meinem Blick aus und ließ, als ich Anstalten mich auf meine wackeligen Beine zu kämpfen, die Hand einfach sinken ließ.
»Na schön, wie ich sehe, kommt ihr allein zurecht.« Asil hob zum Abschied kurz die Hand und verschwand dann durch die Tür. Ich deutete diese Geste nicht als Verachtung. Vielmehr schien er sich der Verantwortung entziehen zu wollen, ein Zeuge der nächsten Minuten zwischen Bel und mir zu werden.
Bel schnaubte und beinahe hätte ich es ihm gleichgetan, doch die Blöße wollte ich mir nicht geben. Genauso wenig wollte ich auf meinen schwankenden Beinen zusammenbrechen, also mobilisierte ich die letzten Kräfte in meinem Körper und konzentrierte mich darauf, die Schwindelgefühle zu ignorieren.
»Komm!«, sagte er schließlich und trat an die Tür, wo er mir mit einem Handzeichen den Vortritt ließ. Wie ein Spiegel meiner eigenen Emotionen blickte seine Augen mich an. Auch er schien noch immer verwirrt, verstanden geschockt, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit dieser Gefühlsregung anstellen sollte.
Mir war nur eines klar: Ich würde ihm nicht den Rücken zukehren.
Als ich keine Anstalten machte, mich an ihm vorbei zu quetschen, schnaubte er erneut. Dann stieß er sich vom Türrahmen ab und verschwand im Korridor. Wortlos folgte ich ihm, stets darauf bedacht genug Abstand zu wahren. All die Zeit in Gefangenschaft hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als hier entlang zu laufen, meiner Freiheit entgegen. Und nun war es endlich so weit.
Mein Kopf hätte voll mit Fragen sein müssen, doch er war absolut leer. Nach meinem halben Nervenzusammenbruch war ich jetzt erstaunlich ruhig, was gut war, denn Panik konnte ich in meiner momentanen Lage nun wirklich nicht gebrauchen.
Schon auf der Treppe, die zum Deck gefolgt, wehte mir der frische Wind ins Gesicht und ich nahm einen tiefen Atemzug der salzigen Luft, mit dem neues Leben in meinen Körper einkehrte. Eine Möwe flog mit lautem Geschrei über mich hinweg und lenkte meinen Blick über die Reling hinaus in einen Hafen. Dort lagen bereits andere Schiffe vor Anker. Einmaster, Zweimaster, Dreimaster, aber in ihrer Bauart alle gleich. Die Männer, die die Schiffe be- und entluden, trugen alle Hemden und knielange Hosen, während die Frauen in langen Kleidern im Hafen flanierten. Durch eine Straße fuhr eine Kutsche und trotz der langsam einsetzenden Dämmerung konnte ich keinerlei elektrisches Licht ausfindig machen.
Zu meinem Schwindel gesellte sich nun auch noch eine leichte Übelkeit und die Welt um mich herum begann sich zu drehen. Ich klammerte mich an der Reling fest und bohrte meine Fingernägel in das Holz, in der Hoffnung, der Schmerz würde mich daran hindern, ohnmächtig zu werden oder mich zu übergeben. Auch wenn sich mein Verstand noch dagegen sträubte, schien Zola die Wahrheit gesagt zu haben.
Als wäre eine Portalreise nicht schon unglaublich genug, machte es meine Situation nicht gerade angenehmer. Von diesem Schiff zu flüchten war eine Sache, aber in eine ganz andere Welt zurückkehren ... wie sollte ich das nur bewerkstelligen?
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