Schnee
Es ist Winter und ausnahmsweise hat es geschneit. Die Umgebung ist von einer weißen Schicht bedeckt, die die Sonnenstrahlen, die auf sie treffen, leicht funkelnd reflektieren.
Wieder einmal sitze ich auf meinem Sessel und schaue aus dem Fenster.
Der Wald ruht unter seiner Decke aus Schneeflocken und wartet darauf, im Frühling wieder zu erwachen.
Fast sieht die Umgebung eintönig aus. Die Gärten, die Häuser, die Straßen, egal was, alles ist weiß. Was sonst so bunt ist, ist nun erfüllt von Tristesse und einer einzigen Farbe, die noch nichtmal eine richtige Farbe ist.
Und doch macht es die Welt ein bisschen friedlicher, wenn sie so aussieht.
Aber warum ist das so? Weil das Gehirn sich so nicht auf die vielen verschiedenen Farben konzentrieren muss? Weil die Geräusche gedämpft werden? Weil man Schnee irgendwie immer mit seiner Kindheit in Verbindung bringt und die Kindheit in der Regel friedlicher ist als das wahre Leben? Weil die Schneeflocken in Zeitlupe vom Himmel fallen und alles entschleunigen?
Vielleicht nichts davon, vielleicht alles davon.
Es soll aber auch Leute geben, die den Schnee nicht mögen. Er sei glatt und unnötig, der Winter noch dazu viel zu kalt.
Aber ohne Ruhe geht es nicht. Alles braucht Ruhe, eine Pause zum Durchatmen, um weiterleben zu können. Und kann man so das Schöne im Leben nicht noch mehr genießen?
Denn wenn immer alles Sonnenschein wäre, wäre dieser Sonnenschein irgendwann nichts Besonderes mehr. Er würde sich abnutzen. Ja, ich erlaube mir den Gedanken, vielleicht würde er sogar nerven. Und zwar auch die Leute, die den Sommer nun lieber mögen als den Winter.
Denn ist es nicht gerade die Abwechslung, die alles spannend macht?
Ein weiterer Gedanke setzt sich in meinem Kopf fest, wie eine weitere Schneeflocke, die auf dem Boden aufkommt und sich in die Schneelandschaft einfügt als wäre das schon immer ihr Platz gewesen.
Man könnte die Landschaft, wenn man nicht wüsste, wie sie normalerweise aussieht, unter diesen Umständen wohl schnell als eintönig bezeichnen. Denn es sieht alles recht gleich aus.
Doch wenn der Schnee schmilzt, kommt so viel unter der Oberfläche zum Vorschein.
Sollte uns das nicht zu denken geben? Vielleicht sollte man Menschen nicht nach einer äußeren Schale beurteilen, die vielleicht langweilig aussieht. Vielleicht sollte man nicht so sehr an Vorurteilen festhalten.
Sondern warten bis der Schnee schmilzt, man eine Person wirklich kennt und sich dann ein richtiges Bild von ihr machen.
Denn oft kommt unter dieser Hülle etwas noch Schöneres zum Vorschein.
Nein, komplett frei davon kann man sich nicht machen. Aber man könnte versuchen, zu warten, bis das Eis in einer Interaktion gebrochen ist. Bis es geschmolzen ist und man den wahren Kern sieht.
Denn dann kann man immer noch entscheiden, ob man diesen Kern gut findet oder nicht.
Wer weiß, vielleicht ergänzt er sich perfekt zu der eigenen Landschaft.
Aber vielleicht ist genau diese Hülle, die ein Mensch hat, überlebenswichtig. Was würde passieren, wenn man jeden dahergelaufenen Menschen sofort alles über sich preisgeben würde?
Immerhin verbirgt doch jeder irgendetwas, ob nun vor sich selbst oder vor anderen, oder nicht? Zuerst: Niemand erzählt einem dahergelaufenen Fremden alles über sich. Vielleicht ist diese Vorsicht so wichtig wie das Wasser, aus dem der Schnee besteht: Ohne Wasser kann, zumindest auf der Erde, kein Leben entstehen.
Gibt es nicht einen Teil, von dem man nicht möchte, dass ihn die anderen kennen, ein Teil von sich selbst, den man vielleicht nicht erkennen will? Eine Eigenschaft von sich selbst, die man nicht mag und am liebsten für immer unter dieser Decke begraben lassen würde.
Doch das geht nicht. Man mag sie für eine Weile übertünchen können, doch wenn es Sommer wird und der Schnee schmilzt, kommt sie zum Vorschein. Sie verschwinden nicht einfach, auch wenn wir sie unter noch so einem großen Schneeberg vergraben. Deswegen ist es wichtig, sich auch über diesen Teil des Selbst bewusst zu werden.
Ich stehe auf und mache mir einen warmen Tee.
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