Regen
Als ich mit einer Tasse Tee auf meinem Lieblingssessel sitze, blicke ich hinaus aus dem Fenster. Noch spüre ich die Tasse mit ihrem dampfenden Inhalt warm in der Hand.
Doch während ich so durch die Scheibe blicke, wird dieser warme Halt immer unwichtiger und ich tauche in die Welt, die vor mir liegt. Die so nah ist, und doch bin ich durch das Glas von ihr getrennt.
Ich sehe unseren Garten. Dort befindet sich ein Teich, in dem ein paar Goldfische ihre Kreise ziehen. Die ich von hier zwar nicht erkennen kann, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht da sind.
Ich sehe einen Weg aus Steinplatten, aber auch kurz gemähten Rasen.
Und in der Mitte, auf eben jenem Rasen, steht ein Kirschbaum. Jetzt trägt er Blätter, die vielleicht langweilig wirken. Doch bei näherer Betrachtung sind sie gar nicht langweilig. Denn sie sorgen dafür, dass der Baum überlebt. Dass die Welt mit Sauerstoff versorgt wird. Jedes einzelne von ihnen hat eine einzigartige Maserung an sich.
Hinter einem dunklen Zaun beginnt der Wald. Hier vorne sind es vor allem niedrige Sträucher. Doch schon ein paar Meter weiter beginnen die großen Bäume.
Da es schon seit längerer Zeit regnet, ist der Himmel trüb. Trotzdem ist die Sonne da, auch wenn man sie nicht sieht. Trotzdem sorgt sie dafür, dass es hell ist. Wie dunkel wäre es ohne dieses Licht am Horizont? Ich will gar nicht darüber nachdenken.
Die Tropfen treffen auf die Wasseroberfläche des Teiches und malen für eine kurze Zeit ein Muster hinein, bevor sie untergehen.
Ich schaue in den Himmel, zu den dunkelgrauen Wolken. Sie türmen sich übereinander, eine graue Masse vor dem sonst so blauen Himmel.
Ich schaue den Tropfen zu, wie sie sich ihren Weg vom Himmel auf den Boden suchen. Denke darüber nach, wie sie entstanden sind.
Sie entstehen in einer Wolke. Aber stimmt das? Oder entstehen sie auf der Erde, steigen als Wasserdampf in den Himmel, nur um wieder als Wasser den Weg zurück zu finden? Gibt es überhaupt einen Anfang oder ist alles ein ewiger Kreis, der weder ein Anfang, noch ein Ende hat?
So wie die Gedanken in meinem Kopf sich zu drehen begonnen haben, seitdem ich hier sitze. Und das tun sie immernoch. Immer schneller und schneller. Am Anfang war es ein langsames Kinderkarussel, jetzt gleicht es eher einer Achterbahn.
Gibt es im Leben überhaupt ein Anfang und ein Ende? Also, was das Leben an sich angeht. Nicht ein Menschenleben. Das beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Oder nicht? Vielleicht ist auch das nur der Teil eines Kreises und wir können einfach nicht den ganzen Kreis sehen. Sondern nur einen kleinen Teil des Ganzen.
Doch das Leben, das ich hier nicht nur auf Mensch oder Tier beschränken will, was ist mit dem? Gibt es dort einen Anfang? Bestimmt. Aber wer sagt denn, dass das Leben nicht schon immer da war? Wie soll so etwas komplexes aus dem Nichts entstanden sein? Und wer ist der Mensch, um zu behaupten, er wisse, wie es funktioniert?
Ich würge den Gedanken ab. Er würde sich nur unendlich weiterdrehen. Tut es vermutlich immer noch, aber nicht mehr so, dass ich es bemerke. So, wie wir so vieles nicht bemerken.
Ich konzentriere mich auf die Regentropfen. Schaue zu, wie sie fallen.
Wer bestimmt wie sie das tun?
Ist es das Schicksal, das entscheidet, ob sie auf ihrem Weg nach unten gerade hinabsturzen oder ob sie von Wind erfasst und schrägt geweht werden? Kann ein Mensch wirklich über seinen Weg bestimmen, oder laufen wir nur einen festgelegten Pfad entlang?
Kann man sein Schicksal selbst bestimmen, oder fällt man auf die Erde und der Zufall bestimmt, ob man in einem Becken bedeutungslos untergeht, zwischen einer Masse aus Wasser, so viel Wasser. Oder ob man auf Asphalt trifft und sich mit anderen sammelt, und doch nichts erreicht. Oder ob man in der fruchtbaren Erde versinkt und dafür sorgt, dass etwas neues entsteht, das Blüten trägt.
Steter Tropfen höhlt den Stein, so sagt man. Ein Mensch allein kann also vielleicht nicht viel bewirken. Aber wenn sie sich zusammenschließen und am selben Ziel arbeiten, kann es passieren, dass sie das scheinbar unmögliche schaffen.
So, wie die Tropfen, die so fragil sind. Die gemeinsam so etwas festes wie einen Stein formen können.
Und so formen Menschen ihre Umgebung. Ein einzelner kann in der allgemeinen Masse nicht viel ausrichten, aber wenn alle immer dasselbe machen, kann das viel bewirken. Ob im positiven oder negativen Sinne.
Und doch formt jeder Mensch seine direkte Umgebung. Etwa auf dieselbe Art, wie ein Tropfen dafür sorgen kann, dass ein heißer Stein erkaltet. Ein letzter Tropfen kann dafür sorgen, dass eine Blume wächst. Dass ein Bach überläuft.
So kann Regen ebenfalls erschaffen oder zerstören. Er kann dafür sorgen, dass Flüsse ausreichend Wasser führen, die Quelle allen Lebens.
Doch wenn es zu viel gibt, tritt der Fluss irgendwann über die Ufer und begräbt alles unter sich. Reißt alles mit sich, ohne Rücksicht auf Verluste.
Es ist die Menge von etwas, die darüber entscheidet.
Hoffentlich sind wir nicht zu viele.
All diese Gedanken kommen mir, als ich den Tropfen beim Fallen zusehe.
Ich nehme einen Schluck von meinem Tee, der mir Geborgenheit verschafft. Der mich so schön von Innen wärmt, während es draußen in der Welt regnet.
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