Erstes Kapitel༄
Da sind wir!", ruft meine Mutter mit dem gespielt freudigen Unterton und dem unbeschwerten Lächeln, hinter dem sie sich seit einiger Zeit versteckt.
Im Gegensatz zu mir ist es ihr keineswegs egal, was andere Leute über sie denken. Sie verstellt sich, tut so, als ob sie darüber hinweggekommen wäre, was mich selbst so sehr zurück geworfen hat. Aber wir beide wissen, dass sie in Wirklichkeit genauso traumatisiert ist wie ich.
Wie gesagt, ich versuche nicht, meine Gefühle zu verstecken. Wenn es einmal dazu kommt, was schon sehr selten ist, dass wir uns darüber unterhalten, kommt Mum immer mit denselben Floskeln.
Früher warst du so ein glückliches und wildes Mädchen, bist über Wiesen getanzt und hast dich mit deinen Freunden getroffen, bist im Park auf Bäume geklettert und hast mit den Schmetterlingen herumgetobt. Jetzt sitzt du tagelang alleine in deinem Zimmer und sprichst mit niemandem. Glaubst du wirklich, dass dein Vater das gewollt hätte? Er hat dich geliebt und tut es immer noch da wo auch immer er jetzt ist.
Kann sein, dass sie recht hat. Aber tief in mir weiß ich, dass es für mich schon längst zu spät ist. Ich bin ertrunken in einem Meer aus Traurigkeit, das sich aus meinen unzähligen Tränen gebildet hat.
Stopp- nur nicht zu poetisch werden. Ich steige aus, unter mir knirscht der Kies des Parkplatzes, der sich noch weiter ausbreitet.
Feriencamp und Jugendwohnzentrum Strohmann steht auf einem in die Jahre gekommenen, schiefen Holzschild. Gemeinsam mit meiner Mutter trete ich durch einen steinernen Torbogen. Eine zwei Meter hohe Mauer umgibt das ganze Gestüt. Davon hängen Schlingpflanzen und wilde Rosen, wahrscheinlich um das Gefängnis-feeling zu verringern.
Trotzdem fühle ich mich eingesperrt, als ich auch noch das kunstvoll gearbeitete, schwarze Tor mit dem verschnörkelten Abbild einiger Blumen, die ich auf der Wiese neben dem Weg entdecke.
Der Weg ist mit rostigen Lämpchen gesäumt, die entweder absichtlich als Stilmittel mit Edelrost überzogen sind, oder einfach im Laufe der Zeit zu dem geworden sind, das ich nun zu sehen bekomme.
Er führt zu einem großen Bauernhaus mit einer breiten Steintreppe, die zur Tür heraufführt. Links und rechts der Treppe sind Gemüse- und Kräuterbeete, daneben ein Kanister voll Regenwasser, in dem die Regenrinnen münden, davor ein Sortiment an bunten Gießkannen.
In diesem Moment kommt eine freundlich lächelnde Frau aus dem Haus. Mit einem Bandana hat sie sich ihr kurzes strohblondes Haar mit dem hellbraunen Ansatz zurückgebunden. Sie trägt Skinnyjeans und ein rot-weißes Karoshirt, das vorne mit einem Knoten zusammengehalten wird. Ich schätze sie auf Mitte zwanzig, Anfang dreißig.
„Willkommen auf dem Gestüt! Ich schätze, du bist das Mädchen aus der Großstadt?", begrüßt sie mich und schüttelt meiner Mutter und mir die Hand, wobei ich mir ziemlich ungelenk vorkomme und irgendwie steif.
„Guten Tag, ich bin Charlotte Álvarez, Noelia's Mutter! Wir kommen aus einer Großstadt, das stimmt. Aber ich glaube, ein bisschen Landluft tut ihr gut!", erwidert Mum überschwänglich und lächelt breit zurück.
„Dazu wird sie hier ausreichend Zeit haben, das kann ich versprechen! Aber wollen wir uns nicht dort an einen Tisch setzen und alles Nötige besprechen? Es findet sich bestimmt jemand, der Noelia herumführt!", sagt die Frau begeistert an meine Mutter gewandt und schirmt sich mit ihrer Hand gegen die Sonne ab, nachdem sie sich als Rosalinde Strohmann vorgestellt hat.
Ich bin begeistert. Eine Führung. Ich hasse diesen Bauernhof jetzt schon abgrundtief- und immerhin muss ich hier das gesamte kommende Jahr verbringen.
Es ist Januar, ausnahmsweise heute mal ein beinahe wolkenloser Himmel mit lachender Sonne. Ehrlich gesagt wirkt es aber eher so, als ob die Sonne mich auslachen würde.
Direkt an der kleinen Wiese neben der Mauer ist ein gepolstertes Sofa aus Paletten mit einem Tisch aus demselben Material aufgebaut. Über die kleine Grünfläche verteilt stehen noch weitere Tische und die verschiedensten Sitzgelegenheiten.
Die Wiese ist von einem Abzweig des Kiesweges eingegrenzt, den gerade ein Mädchen entlangläuft, dessen Alter ich schwer einschätzen kann. Entweder sie ist so alt wie ich oder älter- oder doch ein paar Monate jünger? Nein, ich glaube, sie ist höchstens ein halbes Jahr älter.
Sie hat braune Korkenzieherlocken, die bei jedem Schritt auf und ab wippen, sonnengebräunte Haut und trägt ein zu großes gelbweißes T-Shirt mit beigefarbenen Ärmeln, das sie in ihre blauen Shorts gesteckt hat und ausgeleierte Turnschuhe.
Rosalinde ruft sie mit einem Namen wie Anna zu sich und trägt ihr auf, mir das gesamte Gestüt zu zeigen. Sie mustert mich kritisch, nickt dann jedoch und meine Mutter winkt mir nach, als ich dem Mädchen wortlos folge. Ich habe das Gefühl, dass die Frau mich loswerden will, aber das beruht ja auf Gegenseitigkeit.
„Ich bin Annabelle und ich bin jetzt seit einem Jahr hier. Meine Eltern hielten es für eine grandiose Idee, mich hierherzuschicken und glaub mir, ich war am Anfang überhaupt nicht begeistert, hier für zwei Jahre zu wohnen, während die beiden aus geschäftlichen Gründen ins Ausland gereist sind.
Aber dieser Ort ist... magisch, er verändert Leute. Oder, um Rosa zu zitieren, er verändert Leute nicht, sonder bringt lediglich ihre positiven Charaktereigenschaften stärker zum Vorschein denn je.
Und ohne Dir zu nahe treten zu wollen glaube ich, dass auch dir das Camp helfen wird bei was auch immer Dir fehlt. Denn dass du so nicht immer warst erkennt man zwei Meilen gegen den Wind- aber mach dir nichts draus, das ist bei vielen so, die hier herkommen.
Also, hier siehst du das Haupthaus, da schlafen und essen wir drin. Daneben das Gewächshaus, selbsterklärend."
Im ersten Moment bin ich erschlagen von dem Redeschwall und der Masse an Wörtern, die gerade auf mich eingeprasselt sind. Ich kann meine Gedanken und Gefühle zu einzelnen Abschnitten des Textes kaum verarbeiten, als es auch schon weitergeht.
Sie zeigt mir noch eine große Scheune, vor der einige Hühner von einem etwa elfjährigen Mädchen gefüttert werden. Außerdem führt sie mich zu den Ställen der Pferde und denen der Kühe, Schafe und Ziegen und erklärt ausnahmsweise nur knapp, dass sich dahinter Koppeln und Weiden für die Tiere befinden.
Entlang der Mauer erstrecken sich wie gesagt Tische, Bänke, Sofas, Sessel, Stühle und Hocker, vom Stein hängen Traumfänger und Wandschmuck aus Federn und Makramee.
In der Mitte der Wiese und gleichzeitig auch des Hofes ist eine Feuerstelle mit Baumstämmen darum herum aufgebaut und Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie abends irgendwelche Leute dort sitzen und Gitarre spielen und singen.
Wir treffen einige Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters und ein paar wenige Erwachsene. Die meisten sind fröhlich, weshalb ich mich frage, ob sie unter dem Einfluss einer Gehirnwäsche stehen. Die anderen sind einfach nur still und wirken auch so, als wären sie insgeheim ganz zufrieden.
Na ja, um es sachlich auszudrücken, ich bin es nicht. Entgegen des ersten Eindrucks ist Annabelle sehr gesprächig. Von meinem Standpunkt aus betrachtet war das eine zu ihrem Namen passende Horrorpuppen-Eigenschaft.
Die Koppeln zeigt sie mir nicht- warum auch immer, aber mir sollte's recht sein. Ehrlich gesagt bin ich auch nicht allzu scharf darauf.
Am Ende des Rundgangs stehen wir schließlich wieder vor dem großen Haus, Mum hat inzwischen mein Gepäck aus dem Kofferraum geholt und unterhält sich mit Rosaline Strohmann.
Mal ehrlich- Rosalinde Strohmann? Ich meine, ist das euer Ernst? Eine junge Frau mit diesem Namen?
Da reißt sie mich auch schon mit den Worten: „Ich würde sagen, du verabschiedest dich von deiner Mutter und anschließend kommst du mit mir mit und ich zeige dir mein Zimmer!", aus den Gedanken.
Ich mag es nicht, mich vor anderen zu verabschieden. Trotzdem ringe ich mir ein kleines Lächeln ab und umarme meine Mum steif.
„Du rufst mich an, ja?", fragt sie eindringlich, worauf ich mit einem Nicken antworte. „Bis dann.", murmele ich und löse mich aus der Umarmung.
Dann drehe ich mich um und folge der Frau ins Haus. Ich schaue kein einziges Mal zurück, trotzdem spüre ich den besorgten Blick meiner Mum in meinem Rücken.
Kühle Luft empfängt mich, der Geruch von Holz und frisch gebackenem Brot steigt mir in die Nase, das Licht ist schummrig. Alles Eindrücke, die ich so nicht kenne. Ich, als Stadtkind, dazu verdammt, ein ganzes Jahr auf einem einsamen Bauernhof zu verbringen.
Und dann stelle ich mich meinem Schicksal und beschließe, niemals mein Pokerface abzulegen. Ich werde niemanden an mich heranlassen, werde niemals meine Maske verlieren. Ich, verdammt dazu, für immer allein zu sein.
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