|Casti| Hoffnung


Pov Heiko

Meine Mom hatte immer gesagt, dass am Ende alles gut wird.

Aber ich hatte ihr nie geglaubt.

Warum auch? Nie in meinem Leben hatte es so ausgesehen, als würde sich jemals irgendetwas zum Guten wenden.

Irgendwann war man müde vom Hoffnung haben. Denn das war etwas, was einem den kompletten Tag zerstören konnte. Auf etwas zu hoffen, das nie passieren würde.

Zum Beispiel, dass Dad wieder zurückkommen würde. Dass die Schulzeit bald erträglicher wurde. Dass ich die Pausen nicht mehr alleine eingeschlossen auf dem Klo verbringen musste. Dass ich Freunde hatte, die mich mochten. Dass ich einfach verdammt noch mal normal und langweilig war. Letzteres wünschte ich mir bis heute.

Meine Kindheit hatte ich gehasst. Okay, also an die Kindergartenzeit und die Grundschule konnte ich mich nur dunkel erinnern, aber der Rest der Zeit war stuck in meinem Gehirn und bewegte sich dort in Form eines schwarzen Monsters hin und her, welches mir bis heute zuflüsterte, wie weinig ich eigentlich wert war. Es hielt mir immer wieder meine Schulzeit vor Augen. Vor allem die ersten fünf-sechs Jahre am Gymnasium, wo ich niemanden kannte und meine "Freunde" sich eh nach paar Wochen von mir abwandten und mir dann die nächsten Jahre zum Alptraum machten.

Dazu verdammt, keine Freunde zu haben, musste ich jeden Tag alleine ertragen. Aber das war nicht das Problem. Ich war es einfach nicht anders gewohnt.

Ich konnte mich noch genau an den Geschmack meines Pausenbrotes erinnern, welches ich jeden Tag in einer kleinen silbernen Blechbrotdose mitgenommen hatte. Selten hatte ich es komplett aufgegessen. In der engen Toilettenkabine roch es halt echt nicht nice, weswegen ich es oftmals nach dem ersten Bissen direkt weggelegt hatte, zu ekelhaft war das da. Oder es wurde achtlos in der Dose gelassen, weil ich manchmal nicht mal Kraft zum Essen gehabt hatte, sondern an diesen Tagen nur noch auf dem Klodeckel saß, meine Beine umklammerte und leise weinte.

Einen Platz, der sicherer war als die Toiletten, gab es nicht. Überall wären sie mir hin gefolgt, laut lachend und Witze reißend. Dann wären sie irgendwann körperlich geworden.

Hier, auf dem Klodeckel, belästigen mich nur die Fäuste, die gegen die Tür hämmerten und ihre Worte.

Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass mir ihre Beleidigungen und Kommentare nach so vielen Jahren nichts mehr ausmachten. Noch heute dachte ich oft darüber nach, ob sie vielleicht Recht hatten.

Eine so lange Zeit war das täglicher Shit gewesen. Doch ich hatte es trotzdem geschafft, in die Schule zu gehen, obwohl ich wusste, was dort mit mir passierte.

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Am Anfang des elften Schuljahres ließen sie glücklicherweise größtenteils von mir ab, vermutlich war ihr nächstes Opfer einer der anderen jüngeren Kinder. Oder sie checkten irgendwann, dass ich schon genug zerstört war und ihre Stimmen weitere zehn Jahre, und wahrscheinlich länger, in meinem Kopf blieben.

Die letzten paar Jahre überstand ich dann zwar alleine, aber wenigstens in der Bibliothek und nicht auf den Toiletten.

Jede einzelne Nacht, in der ich mich zu grausamen Uhrzeiten herumgewälzt und mich endlos lange in den Schlaf geweint hatte, jeder einzelne Alptraum, aus dem ich mit wild klopfendem Herzen aufschreckte und jedes Gespräch darüber mit meiner Mom. All diese Erinnerungen vereinten sich zu diesem Monster, welches sich einfach nicht vertreiben ließ. Es krallte sich in meinem Kopf fest und dachte nicht mal daran, seinen Griff irgendwann demnächst zu lockern.

Meine Mom war meine einzige Unterstützung und Beschützerin. Sie war immer für mich da gewesen und ich war ihr unglaublich dankbar dafür, dass sie niemals die Hoffnung aufgegeben hatte, die bei mir schon längst von dem Monster verschlungen worden war.

Nur dank ihrer Hilfe schaffte ich es, jeden Tag durch das Schultor zu treten und ihre Worte machten die Tage etwas erträglicher.

Sie war es, die mich zum Zeichnen führte, einem Hobby, was ich bis heute ausführte und so sehr liebte. Es half mir, Dinge zu verarbeiten.

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Eine unendliche Last fiel mir von den Schultern, als ich das aller letzte Mal die Schule verließ. Es war vorbei. Endlich.

Naja, zumindest dachte ich, es würde deutlich besser werden. Doch mein Selbstwertgefühl und mein Selbstbewusstsein waren verschwunden. Größtenteils hockte ich in meinem Bett und mied den Spiegel.

Nicht, dass ich hässlich war. Ich ertrug es nur nicht, mich so zu sehen. Das letzte richtige Lächeln, welches nicht meine Mom verursacht hatte, lag wahrscheinlich schon Jahre zurück.

Was hatten diese Arschlöcher bloß mit mir gemacht?

Sie hatten eine erdrückende Leere in mir hinterlassen, die sich durch nichts füllen zu lassen schien.

Kein Mensch trat in mein Leben, der das Loch stopfen konnte. Und dadurch wurde es gefühlt noch größer. Auch in diesem Punkt war alle Hoffnung schon längst verloren.

Niemand würde mich je so lieben, wie ich war. Da würde einfach niemand kommen. Genauso, wie mein Lächeln nicht wiederkommen würde.

Fuuckk, ich zerstörte mich selbst nur noch mehr.

Aber so sahen meine Gedanken meistens aus. Kurz löschen konnte ich sie nur, wenn ich zeichnete. Der selbe Zeichenblock, den Mom mir zum 18. Geburtstag geschenkt hatte, begleitete mich nun seit fünf Jahren überall hin. Wenn ich mich danach fühlte, packte ich ihn aus und begann zu zeichnen.

Mit jedem Strich den ich zog, konnte ich das Monster ein kleines Stückchen zurückdrängen. Der Stift glitt über das leicht gelbliche Papier. Geschwungene Linien hier, ein paar gerade dort. Alles fügte sich zu einem fantastischen Gesamtbild zusammen, fast der ganze Block war voll.

Mom musste mir den Block sogar hintergetragen, sonst hätte ich ihn vergessen, als ich ungefähr vor einem Jahr erst ausgezogen war. Sie wusste wie sehr er half und wie sehr ich an ihm hing. Es war mir schwer gefallen, mich von Mom zu trennen, doch ich wusste, dass ich auch alleine klarkommen musste. Und irgendwie mochte ich das Leben allein sogar.

Mein Zustand hatte sich schon gebessert, doch in manchen Momenten wurde mir dann doch alles zu viel und ich tauchte in meine gezeichneten Welten ab. Denn dort fühlte ich mich sicher.

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In der realen Welt war es Dezember, als es passierte. In diesem Monat sollte ich auch hier endlich sicher sein.

Langsam rieselten die dicken Flocken, die eh nicht liegen bleiben würden, vom grauen Himmel.

Ich liebte den Winter. Wenn die Bäume kahl wurden und sich dünne Schichten Schnee auf den dürren Ästen ablagerten, es draußen so eisig war, dass die Pfützen und Seen gefroren und Kinder Steinchen über das Eis schlittern ließen, sodass man quasi hören konnte, wie tief der See war und kleine Eiszapfen unter den Autos und an Regenrinnen zu finden waren. Alles daran war so schön.

Oft machte ich Spaziergänge durch die Stadt und den nahegelegenen Park, bis es mir dann doch zu kalt wurde und ich mein Lieblingscafé aufsuchen musste.

Es war ungefähr halb vier, als ich mit eisig kalter Nase und in einen dicken Mantel gehüllt in das warme Café um die Ecke trat. Es war einigermaßen voll, doch mein Stammplatz vorne am Fenster an dem Zweiertisch mit einem zu kurzen Tischbein war noch frei.

Sofort hängte ich meine Jacke über die Stuhllehne, reservierte meinen Tisch. Dann ging ich zum Tresen und kam mit einer heißen Schokolade zurück.

Als ich wieder saß, legte ich meinen Block auf den Tisch. Mein mattschwarzer Bleistift fand den Weg in meine Hand und ich wollt schon anfangen zu zeichnen, um die Zeit, in der mein Getränk ein bisschen abkühlte, zu überbrücken.

Doch ich brauchte ein Motiv. Suchend huschte mein Blick umher und blieb schließlich an einem jungen Mann, etwa in mein Alter, am Tisch gegenüber hängen. Er trug einen dunkelgrünen Sweater über einem schwarzen Hemd, dessen Kragen ordentlich über den Pullover gelegt war, und stütze sich mit seinen Ellbogen auf dem Tisch ab, da er gerade eine Tasse an seine Lippen führte. Dabei hingen ihm Strähnen seiner dunklen Haare in die Stirn. Während er einen Schluck nahm, schloss er seine Augen genießerisch.

Er sah wirklich gut aus. Also wirklich wirklich gut. Ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von ihm abwenden und nahm rein gar nichts anderes mehr wahr.

Als ich mich aus der Starre riss, blickten mich plötzlich zwei blaue Augen durch hinunter hängende Haare direkt an.

Wie hübsch wollte er noch werden?!

Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen und er setzte die Tasse wieder ab. Dann griff er nach der Zeitung zu seiner Rechten und schlug sie, noch immer lächelnd, auf.

Kurz zuckte ich zusammen und senkte schnell meinen Blick auf das leere Papier auf meinem Tisch. Meine Wangen waren heiß und ich schaute lieber nicht nochmal nach oben. Warum war ich so??

Um mich davon abzulenken, begann ich lieber mit Zeichnen.

Zuerst seine Umrisse, die Umgebung, die Tasse, und dann sein Gesicht. Ich bekam es nicht annähernd so hypnotisierend hin, wie er in Wirklichkeit war.

Der Stift flog wie von selbst über das Papier, ich musste nicht viel darüber nachdenken. Ein weiterer Part, den ich daran liebte.

Ab und zu war ich ja gezwungen einen Blick auf ihn zu werfen, besonders als ich sein Gesicht zu Papier brachte. Zugegeben, ich hatte ihn ziemlich gut getroffen.

Darüber, dass ich die fesselnde Farbe seiner Augen nicht einbringen konnte, war ich etwas traurig, aber erstens malte ich nun mal nicht farbig und zweitens hätte ich das auch sowieso nicht geschafft.

Das Bild war vollendet und ich legte den Block zufrieden hin. Den Stift warf ich achtlos obendrauf und griff nach meiner ehemals heißen, jetzt eher kühlen, Schokolade.

Die Tasse war groß genug, um meine Augen zum Großteil zu bedecken, also hörte ich nur das Klappern von meinem Stift, als er zu Boden viel. Er war langsam vom Tisch gerollt, da der ja durch das kürzere Tischbein etwas schief stand. Die Miene war sicherlich schon wieder zerbrochen.

Augenrollend stellte ich die Tasse ab, bückte mich und streckte meine Hand aus.

Doch in meinem Blickfeld tauchte schnell eine andere Hand auf. Sie umschlang den Stift und als ich meinen Kopf anhob, schaute ich in blaue Augen.

Die Augen, die ich nicht malen konnte, die mich vorhin so erschreckt hatten, die sich mit dem himmlischen Lächeln ein Gesicht teilten.

Dieses tauchte nun auch wieder auf seinen Lippen auf und er hielt mir die Hand mit meinem Bleistift hin.

"Ich glaube, jemand sollte das Tischbein mal fixen", meinte der dunkelhaarige grinsend.

Mit einem gestotterten "D-Danke" nahm ich den Stift an mich. Dabei streiften sich unsere Hände ganz kurz, doch das reichte, um mir ne verdammte Gänsehaut überall zu verpassen. Ihm schien diese Berührung überhaupt nichts auszumachen. Er kicherte nur.

Wir beide erhoben uns und lächelten uns noch einmal in der peinlichen Stille an. Allerdings sah ich vermutlich mehr überfordert als nett aus.

Dann fiel sein Blick auf meine Zeichnung.

"Wow, das sieht richtig gut aus! Soll ich das sein?"

Sofort wurde ich wieder rot. "Äh, also... ich ähh... Ja?"

Manchmal wollte ich mich wirklich selber schlagen.

Mein Gegenüber lachte nur. Seine Hand strich sich ein paar Haare aus dem Gesicht und sein Lachen verwandelte sich in ein schiefes Grinsen.

"Na dann, ich fühle mich geschmeichelt, dass jemand mit solch einem Talent ausgerechnet mich als Inspiration nimmt. Ich bin übrigens Basti."

"Heiko", stellte ich mich auch mit einem seltsamen Lachen vor.

Stille.

Was war das hier? Ich war einfach nur verwirrt. Sollten wir uns jetzt die Hand geben?

"Ähm... könnte ich vielleicht deine Nummer bekommen? Also natürlich nur wenn du möchtest?", war das Erste was mein Gegenüber wieder heraus bekam.

Mein Mund klappte auf. Als ob er Interesse an jemanden wie mir hatte.

Schließlich lächelte ich. Ich lächelte mein wirkliches, richtiges, echtes Lächeln.

Ich riss ein Stück Papier ab, kritzelte meine Nummer darauf und reichte es ihm.

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Diese Begegnung veränderte mein Leben. Menschen zu vertrauen fand ich ziemlich schwer, ich hatte Angst, er würde mich anlügen und hintergehen, so wie es alle bisher getan hatten. Doch das tat er nicht. Das tat er nie.

Er war die Person, die ich gebraucht hatte. Die mir zeigte, dass nicht alle Menschen so drauf waren, wie meine damaligen Mitschüler. Die mich liebte, wie ich war und die mich unterstützte, wie meine Mom es tat. Er schaffte es, dieses Monster in mir zu schrumpfen.

Natürlich funktionierte ich noch nicht richtig in solch einer Beziehung. Natürlich hinterfragte ich jedes "Ich liebe dich". Es gab Momente, in denen das Monster doch wieder Oberhand gewann und ich Basti von mir stieß. Aber immer kam er zurück, und immer wieder nahm er mich auf. Er gab mir einen Grund, weiterzumachen. Und er glaubte an mich.

Noch nie hatte mir ein Mensch so viel bedeutet.

Wie hatte ich es je geschafft ein Leben ohne ihn zu führen? Er ermöglichte mir Dinge, von denen ich vor ein paar Jahren nicht mal hatte träumen können.

Durch ihn begann ich, wieder zu glauben - an die Liebe, an das Leben und daran, dass ich es verdient hatte, geliebt zu werden. Ich gewann endlich wieder die Hoffnung, die mir vor so langer Zeit genommen wurde.

Denn, so wie meine Mom, hatte Basti immer gesagt, dass am Ende alles gut wird.

Und diesmal glaubte ich diesen Worten auch.


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joa, war bissi dumm und bin beim letzten kapi aus versehen nochmal auf publish gekommen? also nicht wundern, dann könnte maybe öfter passieren haha

und ich sollte echt mal besser zeit planen, hab schon wieder heute morgen erst ne richtige idee gehabt T-T

(btw wollt ihr iwie wortanzahl unten? braucht man dies?)

bye bye, adios 🐭

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