Kapitel 6 - Das letzte Mal




[COLE]

»Die ersten paar Zahlen. Komm schon.«

Ich schnaubte und schubste Zac zurück auf seinen Platz, als dieser erneut versuchte mein Handy zu klauen. Er zeigte mir den Mittelfinger und wandte sich fluchend seinem Mittagessen zu. »Du Arschloch. Ich komme schon noch an Graces Nummer.«

»Aber nicht über Coles Handy«, antwortete Luc und zog skeptisch die Augenbrauen hoch, als Zac ihn empört ansah. »Wetten doch?«

Joel, der gegenüber von Zac an unserem Tisch saß, grinste und schlug ihm auf die Schulter. »Wette gilt.«

Mein amüsierter Blick traf Lucs, der die Augen verdrehte und sich wieder seinem veganen Döner widmete. Wie immer hatte er sich sein Essen in die Uni mitgenommen, da der übersichtliche Speiseplan der Mensa keine veganen Gerichte anbot. Doch mein bester Freund war das gewohnt, und die bescheidene Auswahl störte ihn genauso wenig wie die Tatsache, dass Zac neben mir gerade in eine Hähnchenkeule biss. Ich kannte niemanden, der die Ansichten und Entscheidungen anderer so sehr tolerierte wie er. Wäre das Sprichwort »leben und leben lassen« eine Person, wäre sie Luc.

»Und, wann trefft ihr euch?«

Ich hob den Blick von meinen labbrigen Pommes und sah zu Joel, der mich über den Tisch hinweg erwartungsvoll anschaute. Prüfend ließ ich den Blick durch die Mensa gleiten und lehnte mich auf dem ungemütlichen Plastikstuhl zurück, um einen besseren Überblick zu bekommen. Alle Tische waren belegt, und die Geräuschkulisse war dementsprechend hoch. Die Kommilitonen, mit denen wir an unserem Stammtisch saßen, diskutierten über das nächste Basketballspiel und hörten uns nicht zu. Ich beugte ich vor und senkte die Stimme. »Wir haben noch nichts ausgemacht. Sie war etwas desinteressierter als erwartet.«

Joel schmunzelte und Zac schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass die Gläser klapperten und sich einige fragend zu uns umsahen. Ich verdrehte die Augen, doch Zac ignorierte es und grinste mich breit an. »Sind deine Flirt Kenntnisse etwa eingerostet?«

Ich lachte auf und schüttelte den Kopf.

»Wetten doch?«

»Hör doch mal auf mit deinen blöden Wetten, Zac!«, brummte Luc, während ich grinsend Zacs Blick standhielt.

»Wetten nicht?« Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte mich zurück, was den Blick von der Mädelsgruppe einen Tisch weiter auf mich zog. Mit einem leichten Lächeln entlockte ich den vieren ebenfalls ein Grinsen. Vielsagend sah ich zu Zac, dessen siegessicherer Gesichtsausdruck langsam verschwand. Missmutig griff er nach seiner Colaflasche, während Joel sich vor lachen an seinem Nachtisch verschluckte.

»Okay«, murmelte Zac. »Vielleicht ist Grace auch einfach nur schwer zu beeindrucken.«

Ich musste ebenfalls lachen, während Luc bloß den Kopf schüttelte und demonstrativ den Blick in Richtung der Studentinnen mied. »Oh Gott ist das unangenehm. Ihr seid manchmal solche Arschlöcher!«

Grinsend stieß ich ihn über den Tisch hinweg an. »Aber trotzdem noch irgendwie auszuhalten, oder?« Mein bester Freund bedachte mich mit einem missbilligenden Blick aus seinen blauen Augen, und ich sank schmunzelnd zurück in meinen Stuhl.

Erneut ließ ich meinen Blick durch die Mensa schweifen, die sich jetzt, zur Mittagszeit, zunehmend füllte. Kurz bevor ich mich wieder dem Gespräch der anderen zuwandte, zog ein unscheinbare Tisch am Fenster meine Aufmerksamkeit auf sich. Gerade ließ sich Grace auf einen der zwei Stühle sinken, während der andere von einem süßen Mädchen mit brauner Haut und schwarzen Haaren besetzt wurde. Die beiden stellten ihre Tablette, mit dem selben ungenießbaren Zeug wie wir es aßen, auf der Tischplatte ab, und Grace ließ ihren Rucksack neben sich auf den Boden rutschen. Ungeduldig strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie dem, was ihre Freundin erzählte, aufmerksam lauschte.

Ich nutzte die Chance, um sie näher zu betrachten. Sie hatte einen trainierten Körper, ein warmes Lächeln und ihre Körpersprache war unbeschwert und offen. Als ich sie vor wenigen Stunden angesprochen hatte, war sie zwar höflich gewesen, doch jetzt, zusammen mit ihrer Freundin, wirkte sie deutlich entspannter. Nach ihrer anfänglichen Zurückhaltung hatte es mich überrascht, dass sie dem Vorschlag mit dem gemeinsamen Projekt einfach so zugestimmt hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ihr plötzlicher Sinneswandel an meiner Überzeugungskraft lag. Doch egal wieso, ich war einen Schritt weiter gekommen. Und das war alles, was momentan für mich zählte.

Erst als Grace lachte wurde mir bewusst, dass ich sie auffällig lange beobachtet hatte. Ich ließ den Blick weiter durch die Mensa wandern, während meine Gedanken bei ihr blieben. Sie war hübsch und sympathisch, was es nicht gerade einfacher machte, sie so auszunutzen.

Ich spürte Lucs durchdringenden Blick auf mir liegen, doch ich ignorierte ihn und wandte mich an Joel. »Kannst du mit ihrer Nummer etwas anfangen wenn ich sie dir gebe?«, fragte ich ihn und legte mein Besteck auf den Teller. Diese Pommes konnte ich definitiv nicht weiter essen. Zac hob fragend die Augenbrauen, und ich schob ihm mein restliches Essen hinüber.

Joel runzelte die Stirn. »Klar. Dauert vielleicht ein bisschen, aber ich kann ihre Daten einsehen.«

Luc schnaubte und ließ seinen Döner sinken. »Du meinst, du kannst ihr Handy hacken wie ein Stalker.«

Seine Worte trafen mich härter als gedacht. Vielleicht war dieser Weg, um an die Fotos zu gelangen, wirklich eine Nummer zu krass. Andererseits ging es um die Sicherheit unserer geheimen Identität. Ich fuhr mir durch die Haare und unterdrückte ein Seufzen, als die große Uhr über der Essensausgabe 15:00 Uhr schlug.

»Ich versuche erst einmal selbst an ihr Handy zu kommen. Vielleicht finde ich ja auch irgendwie anders heraus, ob ihr Vater etwas weiß.« Ich verpasste Zac einen Schlag, als dieser versuchte, sich mein Handy zu greifen. Er jaulte auf und fluchte, während ich mich wieder Joel zuwandte. »Wenn nicht sage ich dir Bescheid.«

Joel nickte und salutierte grinsend. »Aye aye Chef, wir bleiben in Kontakt. Ach ja, und Zac, den Wetteinsatz besprechen wir noch!«

Zac hob geschlagen die Hände und starrte mich strafend an. »So unfair. Joel gibst du ihre Nummer, aber mir natürlich wieder nicht...«

Luc brachte Zac mit einem Fluch zum Schweigen, während ich mich grinsend erhob und mein leeres Tablett umfasste. »Ich muss los.«

»Bis später«, erwiderte Luc. Joel winkte mir zum Abschied zu, während Zac mit einem vielsagenden Blick in meine Richtung eine Pommes mit seiner Gabel zerquetschte. Ich nickte ihm zu. »Wir finden schon noch die Passende für dich, ohne dass du mein Handy klauen musst. Wohlgemerkt um an die Nummer der Tochter eines Polizisten zu kommen.«

»Was dir sowieso nie gelingen wird«, grinste Joel, und ich entfernte mich schnell in Richtung Geschirrrückgabe, bevor die beiden in eine Diskussion verfielen.

Zwei Stunden später saß ich in meinem Hauptfach »Stadtplanung« und speicherte die Notizen, bevor ich mit wenigen Klicks meinen Laptop ausschaltete. Das heutige Gesprächsthema war wieder einmal sehr aufschlussreich gewesen. Für mich waren Städte nicht einfach nur Gebäude, Straßen und Geschäfte. Sie waren für mich Kunst, Orte, die vielen Menschen einen sicheren Platz zum Leben ermöglichten - wenn sie richtig geplant wurden, und das Entstehen von Vierteln wie den Stains verhindert werden konnte. Wie immer, wenn ich an jenen Ort dachte, drängten sich Erinnerungen in mein Blickfeld, welche ich nicht sehen wollte, aber auch nicht loswerden konnte. Ich spürte, wie die Wut, welche tagtäglich unter der Oberfläche in mir brodelte, aufzusteigen drohte und atmete tief durch.

Wie die restlichen Studenten packte ich meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von Winn, den ich in diesem Kurs kennengelernt hatte, und verließ mit einem Blick auf die Uhr über der Tür den Raum. Wenn ich direkt zum Krankenhaus fuhr konnte ich es noch zur Besucherzeit schaffen. Ich schluckte das Gemisch aus Gefühlen, bestehend aus Schuld, Wut und Mitleid, herunter und startete einige Minuten später auf dem Uniparkplatz meinen Wagen. Ich besaß den Jeep seit ich meinen Führerschein gemacht hatte und nutzte ihn täglich. Trotzdem war mir mein Motorrad lieber. Doch das fuhr ich nicht als Cole MCGray.

Während ich mich in den Abendverkehr ordnete, erfüllten die Klänge meines Lieblingskünstlers SAM LEX das Auto. Ich klopfte im Takt auf das Lenkrad und versuchte, die aufkommende Spannung zu unterdrücken.

Nur noch einmal... schwor ich mir selber. Heute werde ich sie das letzte Mal besuchen.

Ich atmete tief durch und hielt an der nächsten Ampel. Bald war die Besucherzeit sowieso vorbei, also konnte ich nicht lange bleiben. Nur kurz, um zu hören, wie es ihr ging, um zu sehen, ob sie noch da war...

Mir wurde übel und meine Finger verkrampften sich um das Lenkrad. Ich durfte nicht zulassen, dass mich meine Gedanken so sehr kontrollierten. Denn davon hing nicht nur mein Leben, sondern bei unseren nächtlichen Aktionen auch das Leben anderer ab.

Die restlichen Minuten verflogen, und schon bog ich auf den Parkplatz des städtischen Hospitals. Nachdem ich mein Auto geparkt und die Rezeption des Krankenhauses passiert hatte, fuhr ich mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage. Von allen Seiten blickte mir mein Spiegelbild entgegen. Ich sah einen jungen Mann, der die Hände in den Taschen seiner Jeans versenkt hatte und entspannt an die Wand gelehnt dastand. In meinem Inneren allerdings musste ich mich zusammenreißen, um nicht augenblicklich wieder zurück ins Erdgeschoss zu fahren.

Als ich die richtige Etage erreicht hatte stieg ich aus und wandte mich zielstrebig nach links. Kurz vor dem Zimmer mit der Nummer 213 traf ich auf eine Krankenschwester, die mich bereits kannte und mir freundlich entgegenblickte.

Ich erwiderte ihre Begrüßung und deutete auf die weiße Tür. »Gibt es irgendeine Änderung an ihrem Zustand?«

Bevor die Schwester etwas sagte, konnte ich die Antwort bereits auf ihrem Gesicht lesen. Mitleidig sah sie mich an. »Tut mir leid, leider nein. Aber wir geben nicht auf, und keine Veränderung ist immer noch besser, als eine Verschlechterung. Sie ist eine Kämpferin, ihre Freundin.«

Ich nickte knapp, zwang mich zu einem Lächeln und verabschiedete mich. Mit einem kurzen Blick in beide Richtungen sicherte ich mich ab. Ich wusste wann ihre Angehörigen sie besuchten, doch trotzdem war ich jedes Mal vorsichtig. Was ich hier machte war lebensmüde, doch ich konnte nicht anders. Luc war der einzige, der wusste wo ich alle paar Wochen hinging, und auch, wenn er es vielleicht nicht verstand, respektierte er es.

Weil er meine Vergangenheit kannte.

Weil er wusste, was ich bereits verloren hatte.

Wen ich bereits verloren hatte.

Wie ich jemanden verloren hatte.

Heute ist das letzte Mal, sagte ich mir erneut mein Mantra auf, während ich den Raum betrat und mich mit jedem weiteren Schritt dazu zwang, nicht auf der Stelle wieder umzukehren. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und es wurde ruhig.

Geräuschvoll holte ich Luft. Dort lag sie, in dem Krankenhausbett, die Augen geschlossen, und das blonde Haar ausgebreitet auf dem weißen Kissen. Sie sah genauso aus wie damals, nur, dass sie in diesem Moment friedlich wirkte und nicht zu Tode verängstigt.

April Williams, 21 Jahre und Opfer unseres allerersten Einsatzes als Guardians. Wir waren unerfahren und zu spät gewesen. Ich war zu spät gekommen.

Die junge Frau musste darunter leiden, dass wir in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember die vier Männer in der Wills Street nicht daran hatten hindern können, sie zu belästigen und ins Koma zu befördern. Wir hatten gerade erst begonnen und schon versagt.


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Hattet ihr euch schon gedacht, dass er April im Krankenhaus besucht, oder war es für euch eine Überraschung?

(Für die, die es nicht mehr wissen, April Williams wird in dem Zeitungsartikel erwähnt, den Grace am Ende des ersten Kapitels liest )

Ich hoffe das Kapitel hat euch gefallen!

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