Kapitel 35 - Tausend kleine Teile
[GRACE]
Ich bin verrückt. Ich bin verrückt. Ich. Bin. Verrückt!
Die Worte jagten mir ununterbrochen durch den Kopf, während ich meinen Mini an der nächsten Ampel abbremste. Nervös warf ich einen Blick in den Rückspiegel und starrte in mein erhitztes Gesicht.
»Was machst du nur«, murmelte ich meinem Spiegelbild leise zu und zuckte zusammen, als hinter mir jemand hupte. Hastig schaltete ich in den ersten Gang und ließ die grün leuchtende Ampel hinter mir, so, wie es das Navi in meinem Handy verlangte. Das Ziel war die Adresse von Connors Handy. Ich war geradewegs auf dem Weg zu dem Ort, an dem mein Vater sich erhoffte die Dealer und die Guardians zu fassen.
Und wenn du dort bist, was machst du dann?, meldete sich eine leise Stimme in meinem Hinterkopf zu Wort und sorgte dafür, dass mein Herzschlag sich beschleunige. Das war tatsächlich eine berechtigte Frage. Kurz nachdem ich das Telefonat mit Cole beendet hatte, welches mich in vielerlei Hinsicht aufgewühlt hatte, hatte ich den Entschluss gefasst, ebenfalls hinzufahren. Einfach, um dort zu sein, ohne zu wissen, was mein Ziel war. Wollte ich die Polizei daran hindern, dass sie die Guardians schnappten? Die Arbeit meines Vaters stören und womöglich schuld daran sein, dass die Dealer wieder entwischten? Das ganze war eine verdammte Schnappsidee. Und trotzdem drehte ich nicht um.
Das Navi führte mich in die entgegengesetzte Richtung der Stains, an den Rand der Stadt. Ich war noch nie hier gewesen, doch ich wusste, dass die Viertel ärmer waren. Die Dämmerung fiel über die Stadt und tauchte die Häuser langsam in Dunkelheit. Nach und nach ging die Beleuchtung an und erhellten die Straßen, die ich passierte.
Nach einer halbstündigen Fahrt warf ich einen Blick auf die Uhr. Ich war fast da, doch es würde laut der Nachricht noch etwas dauern, bis die Übergabe stattfand. Also lenkte ich mein Auto auf den Parkplatz eines schäbig wirkenden Diners, dessen Reklameschild über dem Eingang unruhig flackerte.
Als ich den Imbiss betrat, schlugen mir warme Luft, Rockmusik und ein fettiger Geruch entgegen. Ich ging an mehreren Truckerfahrern vorbei und ließ mich am Tresen auf einem der abgeranzten Barhockern nieder. Eine schlecht gelaunte Bedienung brachte mir nach mehreren Minuten Wartezeit die bestellte Limo, welche mehr Eiswürfel als Getränk beinhaltete, und knallte mir eine unverschämt hohe Rechnung daneben. Seufzend zog ich mein Handy aus der Tasche und öffnete nach kurzem Zögern die neue Nachricht von Zola.
Zola: Ich koche gerade Chili sin Carne... Wann bist du da? :)
Ich biss mir nervös auf die Unterlippe, während die Bedienung mich ununterbrochen beobachtete. Unauffällig sah ich mich um. An den Wänden hingen alte Nummernschilder, Schallplatten von Rockbands und sogar einige Waffen. Ich passte mit meiner blauen Jeans, dem Top und der schwarzen Kapuzenjacke nicht sonderlich gut hier her. Schnell senkte ich den Blick auf mein Handy.
Grace: Lecker! Ich komme heute leider erst später, du musst nicht auf mich warten.
Grace: Aber guten Appetit! Nächstes Mal bin ich dabei :P
Mit einem schlechten Gewissen ließ ich mein Handy sinken. Ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, Zola zu erzählen, was ich vorhatte, doch ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Und außerdem hatte ich selbst keine Ahnung. Unruhig hob ich die Hand und fasste nach der kleinen Schreibmaschine an der Kette, die um meinen Hals hing. Das Material fühlte sich angenehm kühl zwischen meinen Fingern an, und beruhigte mich. Ich wusste nicht, wieso ich Coles Geschenk mitgenommen hatte, doch jetzt hoffte ich einfach nur, dass es mir Glück brachte.
Ich griff gerade nach meinem Glas, als mein Handydisplay aufleuchtete.
Zola: Danke! Ich stelle dir etwas in den Kühlschrank. Bis später.
Als sich die Eiswürfel in meinem Glas aufgelöst hatten, zahlte ich und verließ das Diner. Inzwischen war es dunkel geworden, und ich fröstelte auf dem Weg zu meinem Auto. Ein wenig unschlüssig fuhr ich vom Parkplatz und warf einen Blick auf das Navi in meinem Handy. Noch fünf Minuten, dann war ich da. Die Adresse gehörte zu keinem Haus, sondern war ein Sportplatz, wie ich der Satellitenkarte entnehmen konnte.
Je weiter ich in das Viertel vordrang, desto weniger Menschen sah ich, und mit einem Mal fühlte ich mich mit meinem Auto zwischen den heruntergekommenen Häuser und ausgestorbenen Straßen sehr auffällig. Kurz bevor ich das Ziel erreicht hatte, parkte ich in einer kleinen Gasse hinter einem Kiosk, dessen Scheiben verdreckt und dessen Innenraum dunkel war. Ich atmete tief durch, dann schnappte ich mir Schlüssel und Handy und stieg aus.
Es war gespenstisch still, und nur wenige Straßenlaternen spendeten Licht. Hoch über meinem Kopf hingen lose Kabel von einem Mast zum anderen, einige Meter entfernt quoll eine Mülltonne über, und ein zusammengeknülltes Papier wehte geräuschvoll über den zerbrochenen Asphalt.
Fehlen nur noch der Nebel und die Mörder, ging es mir durch den Kopf, und augenblicklich lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich machte mir selbst mehr Angst als die gruselige Umgebung, in der ich mich befand.
Ich straffte die Schultern, versuchte meine Panik zu verdrängen und steuerte mit festen Schritten die nächste Gasse an. Meinem klägliche Plan nach zu folge, würde ich mich erst einmal von dem Treffpunkt fernhalten, aber in der Nähe bleiben. Ich wollte nicht riskieren, der Polizei, oder gar meinem Vater, in die Arme zu laufen, aber noch weniger wollte ich den Drogendealern begegnen. Während ich leise durch das Viertel lief, hörte ich hin und wieder fahrende Autos in der Ferne. Zusätzlich ertönten aus jeder Ecke raschelnde, knisternde und knackende Geräusche. Alle paar Schritte sah ich mich um, und ertappte mich jedes Mal, wie mein Herzschlag sich beschleunigte. Die Minuten verstrichen, und nichts geschah. Ich wanderte durch die Straßen und hatte teilweise das Gefühl, in einer Geisterstadt unterwegs zu sein. Dann, plötzlich, hörte ich in einiger Entfernung quietschende Reifen.
Mein Herz stoppte, nur um dann in doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Wie von alleine setzten sich meine Beine in Bewegung. Ich rannte nach links auf das Geräusch zu, spürte, wie der Gegenwind mir den Geruch von faulen Einern entgegenschlug und rutschte beinah auf dem Müll aus, welcher in nahezu jeder Gasse lag.
Nach einer Minute, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte, erblickte ich in etwa hundert Metern Entfernung einige Menschen auf einem Basketballfeld. Stimmen hallten über den Platz, doch ich verstand kein einziges Wort.
Ich muss näher ran, schoss es mir durch den Kopf. Mein Blick fiel auf einen Spielplatz, der sich nahe des Feldes befand. Ich duckte mich und rannte im Schutz der Dunkelheit zu einem Klettergerüst, welches in der Form eines Schiffes gebaut war. Durch eines der Bullaugen hatte ich eine perfekte Sicht auf das Geschehen. Ich holte zittrig Luft, ging in die Hocke und umklammerte die Reling des Schiffes. Das Holz fühlte sich warm unter meinen eiskalten Fingern an und gab mir seltsamerweise Sicherheit.
Ich hob den Kopf und blickte zu dem Basketballfeld. Mitten auf dem Platz erkannte Connor, der mit drei breit gebauten Männern sprach. Das Licht der umliegenden Straßenlaternen fiel sanft auf ihre Gesichter und malte tanzende Schatten auf ihre Haut. Das ließ sie jedoch nicht weniger furchteinflößend aussehen.
Nach einigen endlosen Sekunden zog einer der Männer etwas aus seinem Rucksack und überreichte es Connor. Als dieser das Paket umfasste, passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ein lauter Ruf ertönte, Polizisten stürmten auf den Platz, und grelle Scheinwerfer tauchten das gesamte Feld in gelbliches Licht. Geblendet kniff ich die Augen zusammen und rutschte mit klopfendem Herzen näher an das Bullauge heran. Als ich die Augen öffnete, hatte sich das Bild verändert. Wo eben noch vier Männer gestanden hatten, befanden sich nun über ein Dutzend. Mir lief ein Schauer über denn Rücken, als ich realisierte, dass gerade einmal die Hälfte von ihnen die Schutzkleidung der örtlichen Polizei trug. Die anderen ähnelten vom Körperbau den drei Dealern und richteten in diesem Moment mehrere Waffen auf die Polizisten. Innerhalb von Sekunden hatte sich das einsame Feld gefüllt, und die vorige Stille wurde von lauten Rufen und Schritten gefüllt. Der erste Schuss fiel, und ich rang nach Luft.
»Dad...« Meine Stimme war nur ein Flüstern und ging in dem Trubel unter, doch in meinen Ohren klang das Wort sekundenlang nach. Es fühlte sich an, als würde alles in Zeitlupe geschehen. Ich hatte das Gefühl vor einer Leinwand zu stehen und das Geschehen aus weiter Ferne zu beobachten, so, als würde ich einen spannenden Actionfilm im Kino sehen. Doch mein flacher Atem, der steigende Druck in meinem Kopf und die zittrigen Hände bewiesen mir das Gegenteil. Ich war nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem in diesem Moment zwei Welten aufeinandertrafen.
Die Gruppe umkreiste sich, die Waffen blitzten gefährlich im Licht, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde ich unruhiger. Mein Blick zuckte über das Feld, in die Richtung, aus der die Polizei gekommen war, doch es folgte keine Verstärkung. Einer der Polizisten sprach hektisch in sein Funkgerät, und wurde von wilden Rufen übertönt. Cole hatte recht gehabt. Die Polizei hatte Blade Lane und seine Männer unterschätzt.
Als ich das realisierte, liefen von links vier schwarz gekleidete Gestalten auf das Basketballfeld. Die Guardians. Ich braucht nur wenige Atemzüge, um Cole unter ihnen auszumachen. Jetzt, wo ich wusste, wer hinter dem Hoodie und dem schwarzen Tuch steckte, kam es mir lächerlich vor, dass ich ihn nicht früher erkannt hatte. Er bewegte sich leichtfüßig, wählte jeden Schritt mit Bedacht, und trotz der Entfernung sah ich, wie aufmerksam er seine Umgebung wahrnahm. Ich konnte gar nicht anders, als ihn gebannt zu beobachten. Jetzt, wo ich ihn sah, wurde mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich ihn vermisst hatte.
Er näherte sich einem der Dealer von hinten, drehte ihn um und verpasste dem Mann mehrere Hiebe in den Bauch, sodass dieser stöhnend zu Boden ging. Köpfe fuhren herum, das Bild verrutschte und mit einem Mal kam Bewegung in die gesamte Gruppe.
Es schien, als verginge die Zeit in Zeitlupe, und bei jedem Hieb, jedem Schlag und jedem Stöhnen hoffte ich, dass es nicht die falschen Personen traf. Ich wollte aufspringen, loslaufen, helfen... Doch meine Muskeln streikten. Ich konnte mich nicht bewegen, sah einfach nur zu und versuchte, die Jungs nicht aus den Augen zu verlieren.
Wo ist Dad?
Mit stockendem Atem ließ ich den Blick schwenken, und dann, endlich, erblickte ich ihn. Er hatte seine Waffe erhoben, und zwang einen der Dealer zu Boden. Doch im selben Moment näherte sich ihm ein anderer von hinten. Der Mann hatte dunkelbraune Haare, einen gestutzten Bart und trug eine Lederjacke, unter der er ein Messer hervorzog. Ich erhob mich, wollte schreien, doch meine Kehle war staubtrocken. Dann wurde der Angreifer zurückgerissen. Cole hielt ihn im Würgegriff umfasst, schlug ihm die Beine weg, und die Waffe fiel klappernd zu Boden.
Dad fuhr herum, und ich erstarrte, als er Cole erblickte, der im selben Moment aufsprang und im Trubel verschwand. Eine Sekunde sah Dad ihm hinterher, dann legte er dem Dealer, welcher von einem anderen Polizisten am Boden gehalten wurde, Handschellen an.
Schrille Sirenen hallten durch die Nacht, mehr Polizisten stürmten das Feld, und plötzlich, innerhalb kürzester Zeit, hatte die Polizei die Kontrolle erlangt.
Ich spürte, wie mein Herzschlag sich verdoppelte, als Cole, Luc, Joel und Jacob sich aus der Gruppe lösten. Jetzt mussten sie nur noch abhauen, und dann...
»Stopp!« Die Stimme meines Vaters hallte über den Platz, während er zeitgleich seine Waffe hob. Drei seiner Kollegen zückten ebenfalls ihre Pistolen und richteten sie auf die Jungs. »Hände hoch, alle! Haben wir euch endlich!«
Es war nur eine kleine Bewegung, doch trotzdem konnte ich sehen, wie Cole sich vor die anderen schob. Bilder schossen mir durch den Kopf und vernebelten meinen Blick, während mir die Luft zum Atmen wegblieb. Cole, der angeschossen und blutend in meinen Armen lag. Sein flacher Atem, die flatternden Augenlieder, die Fahrt zur Fabrik. Die schlimmsten Minuten meines Lebens. Die Angst von damals stieg in mir auf, und das Einzige was ich sah, war die Pistole in Dads Hand, welche direkt auf Coles Brust gerichtet war.
Er wird nicht schießen, er wird nicht schießen, er wird nicht schießen, redete ich mir selbst ein.
Doch stimmte das? Mein Dad würde nicht schießen. Aber dort stand ein ausgebildeter Polizist, der die Guardians, der Cole, als Bedrohung ansah.
Zac machte einen kleinen Schritt zurück, und augenblicklich ertönte ein Klicken. Eine Waffe war entsichert worden. »Stopp! Das war's mit euren dreckigen Spielchen. Hände dahin, wo ich sie sehen kann, und auf den Boden! Sofort!«, brüllte mein Vater.
Mir brach der Schweiß aus, und ich umklammerte das Holz des Schiffes fester. Macht was er sagt, flüsterte die eine Stimme in meinem Kopf, während die andere betete, dass Joel seinen Freunden irgendwie half. Doch nichts geschah. In der Ferne verkündeten quietschende Reifen, dass die Drogendealer weggefahren wurden. Währenddessen wurden die drohenden Rufe der Polizisten lauter und hallten über das Basketballfeld. Cole hob beschwichtigend die Hände, machte dabei aber einen kleinen Schritt zurück.
»Auf den Boden hab ich gesagt, verdammt! Noch eine falsche Bewegung, und ich schieße!« Bei Dads Worten gefror mir das Blut in den Adern. Und mit einem Mal reagierte ich, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Ich stieß mich von der Holzwand ab, sprang aus dem Klettergerüst und rannte los.
»Stopp!«
Mein Ruf hallte laut über den Platz. Das Blut kochte in meinen Ohren, meine Schuhe knallten auf den roten Boden, der Gegenwind erschwerte mir das Atmen. Es dauerte endlose Sekunden, bis ich vor Cole zum Stehen kam. Ich stoppte, schnappte nach Luft, und mein Blick klärte sich. Ich starrte direkt in den Lauf einer Pistole. Und gleich dahinter in das aschfahle Gesicht meines Dads. Der Anblick brannte sich in mein Gedächtnis, und ich wusste, dass ich diesen Augenblick nie wieder vergessen würde. Nie. Wieder.
»Waffen runter! Alle! Sofort!«, brüllte Dad, und riss sich seinen Helm vom Kopf. Ich hörte seine Worte nur dumpf, wie durch Watte. Adrenalin kochte in meinen Adern, Blut rauschte in meinen Ohren, und schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.
»Grace! Was machst du hier?« Coles Stimme drang leicht verzögert zu mir hindurch, doch ich schüttelte nur heftig den Kopf, ohne mich umzudrehen. Ich wusste selbst nicht, was zum Teufel ich hier gerade tat, doch wenn sie jetzt nicht abhauten, war alles umsonst.
»Geht!« Meine Stimme ging in dem Trubel vor mir unter, doch so nahe wie ich ihm war, konnte ich mir sicher sein, dass Cole mich gehört hatte.
»Nein.« Plötzlich spürte ich Coles Hand auf meinem Arm. Er wollte mich sanft hinter sich ziehen, doch ich riss mich sofort los und hob die Hände, als mein Vater vor mir in Alarmbereitschaft fiel. Die Polizisten riefen sich etwas zu, Dad brüllte dagegen an, und alle Geräusche schwollen unaufhaltbar zu einem Dröhnen an.
Ich kniff schmerzerfüllt die Augen zusammen, warf einen kurzen Blick über die Schulter, und meine trafen Lucs blaue Augen, als ich mit den Lippen erneut ein Wort formte. »Geht!«
Er erwiderte meinen Blick und nickte mir kaum merklich zu. Dann wurde es dunkel. Alle Straßenlaternen im Umkreis erloschen, genauso wie die Scheinwerferlichter des Basketballfeldes.
Joel, ging es mir durch den Kopf, und ich atmete tief durch. Ein kleiner Teil der Spannung fiel von mir ab, langsam verschwand der Druck von meinen Ohren. Das Letzte, was ich in der Dunkelheit spürte, war eine hauchzarte Berührung auf meiner Wange. Wie von alleine fanden meine Finger den Weg zu der Stelle, die Cole Sekunden zuvor federleicht mit seinen Lippen berührt hatte. Ein Schauer überzog meinen Rücken und ließ mich erzittern.
Dann war der Moment vorbei, und ich wurde von dem grellen Schein mehrer Taschenlampen geblendet. Augenblicklich drehte ich mich um, und erblickte - nichts. Sie waren weg. Der Platz war leer und verlassen. Das Einzige, was zurückgeblieben war, war ein mit einer Schablone auf den roten Boden gesprayter Schriftzug, dessen grüne Farbe noch feucht glänzte. »Guardians«.
»Sie sind weg«, ertönte eine tiefe Stimme, und ich wandte mich wieder nach vorne.
»Sofort ausschwärmen. Findet sie!«, brüllte Dad, woraufhin sich seine Kollegen augenblicklich in Bewegung setzten.
Die Lichtkegel der Taschenlampen wanderten suchend über den Platz und entfernten sich in alle Richtungen. Zurück blieben mein Dad und ich, in der Mitte des Basketballplatzes, vor den Trümmern unserer Beziehung.
Erst, als ich tief Luft holte, wurde mir bewusst, wie angespannt ich war. Ich spürte, dass meine Beine nachzugeben drohten, doch ich zwang mich dazu, stehen zu bleiben. Mit gestrafften Schultern sah ich meinen Vater an, der sich über das Gesicht fuhr und mich dann mit solch einem entgeisterten Blick musterte, dass ich mich plötzlich ganz klein fühlte. »Grace... Ist dir eigentlich in irgendeiner Weise klar, was du da gerade gemacht hast?«
Gute Frage.
»Naja...«
»Warum?« Unterbrach er mich laut, und seine Stimme hallte über den Platz. »Warum würdest du so etwas tun? Mitten in der Nacht unterwegs sein, polizeiliche Arbeit stören, und dann direkt vor meinen Waffe laufen! Verdammt noch mal, Grace! Du spinnst doch!«
Schmerz durchzuckte mich, und ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich selbst zusammenzuhalten. »Vielleicht hättest du deine Waffe gar nicht erst heben sollen.«
Dad machte einen Schritt auf mich zu und starrte mich mit blitzenden Augen an. »Das ist mein Job, verdammt!« Seine Stimme zitterte vor Wut, und ich musste mehrmals blinzeln, um seinem rasenden Blick standzuhalten. »Ein Job, der dich im Übrigen überhaupt nichts angeht! Also noch einmal: Warum bist du hier?«
»Ich konnte es nicht zulassen«, murmelte ich, deutlich leiser als er.
»WAS? Was verdammt konntest du nicht zulassen, hm?«
»Dass du sie verletzt.«
Dad erstarrte, seine Züge wurden hart, und sein Gesicht lief rot an. »Das sind gefährliche Kriminelle, Grace! Bist du betrunken? Bekifft? Auf Drogen? Ansonsten kann ich mir nicht erklären, warum du dich so verhältst!«
Adrenalin durchschoss meinen Körper, und ich riss den Kopf hoch. »Sind sie eben nicht! Anstatt darauf zu schauen, was sie alles Positives getan haben, fokussierst du dich nur auf die Situationen, in denen etwas schief gelaufen ist oder es falsch aussah! Du willst, dass sie Kriminelle sind! Sie haben euch eben geholfen, die Dealer zu fassen! Sie sind die Guten hier, wieso kannst du das nicht sehen?«
Dad schüttelte ungläubig den Kopf, und ich wusste in der Sekunde, dass er mir kein Wort glaubte, mir nicht einmal richtig zuhörte. »Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es wirklich nicht. Was ist das Ziel dieser Aktion? Willst du Aufmerksamkeit? Brauchst du Drama? Reicht es dir nicht, dass du deine Mutter schon gegen dich aufgespielt hast?«
»Dass ich... was?« Ich wollte atmen, doch es ging nicht. Es schien, als wäre der Luft innerhalb von Sekunden jeglicher Sauerstoff entzogen worden. Trotzdem zwang ich die nächsten Worte hervor. »Es geht hier nicht um mich! Es geht um die Tatsache, dass du nicht objektiv auf die Sache blickst! Ich habe es erst auch nicht glauben wollen, aber dann...« Meine Stimme versagte. Ja, was dann?
Dann habe ich einen Jungen getroffen, der mein Leben verändert hat. Dann hat der Typ, in den ich mich verliebt habe, sich als Guardian offenbart. Dann ist mir klar geworden, dass ich von den Guardians am Anfang nur das gesehen habe, was ich sehen wollte. Und zwar das Schlechte. Weil es einfacher war. Doch nichts davon sagte ich. Stattdessen verstummte ich und erwiderte den Blick meines Vaters, der mich mit solch einem befremdlichen Ausdruck im Gesicht ansah, dass es mich innerlich zerriss.
»Ich erkenne dich gerade nicht wieder.« Seine Worte fühlten sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Doch ich bewahrte die Fassung und nickte langsam. Ich konnte nichts tun, um die Situation zu retten. Denn ich war diejenige, die sie zerstört hatte. Ich hatte das Gefühl, dabei zusehen zu können, wie unser gutes Verhältnis zerbrach. Ich hatte es angestoßen, und nun fiel es in sich zusammen, schellte auf den Boden und zerbrach in tausend kleine Teile. Das, vor dem ich am meisten Angst gehabt hatte, war eingetreten. Ich hatte Dad hintergangen. Und ich würde es mir nie verzeihen. Ab jetzt musste ich damit leben, dass er mich von nun an anders ansah. Enttäuscht. Fassungslos. Wie eine fremde Person.
Die Erkenntnis traf mich mit einem weiteren Schlag, und ich taumelte zurück. Ich konnte mich nicht mehr richtig halten, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, und mir wurde eiskalt.
Dads harter Blick bohrte sich in meinen. »Wir unterhalten uns morgen. Ich fahre dich jetzt nach Hause.«
»Nein! Nein, ich habe mein Auto hier«, widersprach ich hastig und deutete wage in die Richtung, wo ich es vermutete. Ich würde keine Minute länger in seiner Gegenwart durchhalten.
Dad nickte knapp, und erneut fühlte es sich an, als triebe er einen Dolch durch mein Herz. Langsam, qualvoll, Stück für Stück, Zentimeter für Zentimeter. Doch ich war diejenige, die seine Hand umfasst hielt und zustieß.
»Du hast recht. Es ist besser, wenn wir erst einmal Abstand voneinander haben. Ich melde mich.«
Mit diesen Worten machte er kehrt, ging davon und stieg in seinen Dienstwagen. Nachdem die Rücklichter in der Ferne verblasst waren, schlang ich die Arme um meinen Körper und setzte wie in Trance einen Fuß vor den anderen. Ich fühlte mich betäubt. Und ich konnte nicht entkommen, denn ich vergiftete mich selbst.
Was hatte ich getan? Was war passiert? Und wieso fühlte ich mich so viel schlechter als zuvor? Es war das richtig gewesen, was ich getan hatte. Oder nicht? Doch, definitiv. Aber für welchen Preis?
Mir wurde übel, und der dunkle Fußweg zu meinen Füßen verschwamm vor meinen Augen, als ich in eine Gasse einbog. Ich bekam keine Luft. Wieso bekomme ich keine Luft? Panik machte sich in mir breit, schnürte meinen Hals zu und übernahm die Kontrolle über meine Gelenke. Ich spürte, dass ich kurz davor war, zu fallen. Und nicht nur auf den dreckigen Asphalt. Es war, als würde sich vor mir ein schwarzes Loch auftun, welches mich in sich aufnehmen, verschlingen und nie wieder rauslassen wollte.
Kurz bevor ich den Boden auf mich zukommen sah, spürte ich zwei starke Arme um meine Taille. Ich wollte schreien, doch ich tat es nicht. Mein Körper, der sonst bei jeder Bedrohung auf Autopilot schaltete, war kaputt. Vielleicht lag es aber auch daran, dass mir einige Sekunden später ein bekannter Geruch entgegenwehte. Ich hatte unterbewusst realisiert, dass ich in Sicherheit war. Ich hörte meinen Namen aus weiter Entfernung, spürte, wie die Berührung an meiner Taille stärker, und die Stimme langsam lauter wurde.
»Atme, Grace!« Ich wurde herum gedreht und hob blinzelnd den Kopf. Mein Blick traf auf tiefbraune Augen. Augen, die mich vollkommen aufgelöst musterten.
Cole.
Ich spürte, wie meine Muskeln nachgaben und sackte nach vorne, direkt ich seine warme Umarmung.
»Du solltest nicht hier sein«, wisperte ich mit rauer Stimme. Meine Atmung ging unregelmäßig, viel zu schnell und flach. Die Angst um Cole, und die Panik, dass sich noch Polizisten in der Nähe befanden, trug nicht sonderlich zur Besserung bei.
»Ich bin hier genau richtig«, erwiderte Cole mit solch einer Zärtlichkeit in der Stimme, dass sich meine Augen schlossen, und ich die Umarmung stumm erwiderte.
»Es tut mir so leid.« Coles Worte hallten mir durch den Kopf, und je häufiger er sie sagte, je öfter er mit der Hand über meinen Rücken strich, desto ruhiger wurde ich. Ich war in Sicherheit. Ich war angekommen. Auch, wenn ich auf dem Weg hierher das wichtigste, was ich besaß, verloren hatte. Die Beziehung zu meinem Dad.
War es das wert, mich selbst aufzugeben, um anderen zu helfen? Ja, tönte mir die Antwort augenblicklich durch den Kopf. Zu wissen, dass die Jungs, dass Cole, nicht auf dem Weg ins Gefängnis waren, erwärmte meinen eiskalten Körper für einige, wenn auch nur wenige, Sekunden.
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Und ACTION! 🎉 😂
Welchen Charakter mochtet ihr in diesem Kapitel am meisten? 🤫
Ich habe dieses Kapitel irgendwie sehr oft überarbeitet, deswegen bin ich froh, dass ich es jetzt poste und nicht mehr weiter etwas daran verändern kann ;P
Ich werde mich jetzt gleich an das Überarbeiten des nächsten Kapitels setzten, denn ich habe vor, die Geschichte bis Ende September hier beendet zu haben! 👀
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