Kapitel 30 - Ich bin schuld
[COLE]
Als ich mir einen Weg durch den von Tageslicht erleuchteten Gang bahnte, spürte ich ein unangenehmes Stechen an meinem Bauch. Wie von alleine wanderte meine Hand hinunter und berührte den dunkelgrünen Hoodie an der Stelle, unter der immer noch ein Verband über meiner Wunde prangte. Inzwischen war es zur Gewohnheit geworden, dass ich die teilweise auftretenden Schmerzen mit einer Berührung zu unterdrücken versuchte. Was natürlich vollkommener Schwachsinn war, weswegen ich die Hand schnell wieder sinken ließ und stattdessen nach meinem Handy griff. Während ich mir einen Weg durch die vollen Gänge der Uni bahnte, warf ich einen kurzen Blick auf das Display. Immer noch keine Nachricht von Grace.
Das ganze Wochenende über hatte ich auf ein Lebenszeichen von ihr gewartet, doch sie hatte mir weder geschrieben noch meine Anrufe angenommen. Lediglich Zola war mit Luc in Kontakt getreten und hatte ihm versichert, dass es ihnen gut ging. Grace brauche nur Zeit, hatte sie gesagt. Zeit, um zu realisieren, was für ein Arschloch ich war oder um zu entscheiden, ob sie uns doch an ihren Vater verraten wollte, wusste ich nicht. Bis jetzt war noch keiner von uns verhaftet worden, doch ich musste mit Grace reden, um zum Schutz meiner Freunde zu erfahren, ob das auch so bleiben würde, und um für mich herauszufinden, ob die Chance bestand, dass sie mir jemals wieder verzieh. Alles war so verdammt verzwickt.
Seufzend steckte ich mein Handy zurück in die Hosentasche und schlängelte mich durch eine Gruppe Studenten zu dem Raum, in welchem mein Soziologieunterricht stattfand. Ich hoffte inständig, dass Grace heute da war.
Entschlossen drückte ich die Tür auf und betrat den dahinterliegenden Hörsaal. Links von mir waren die Sitzreihen tribünenartig angeordnet, während der leitende Professor zu meiner Rechten am Schreibtisch stand und etwas in seinen Computer tippte. Hinter ihm leuchtete eine Folie auf der großen Leinwand.
Ich ließ den Blick durch den Saal schweifen und atmete erleichtert auf, als ich Grace in der letzten Reihe entdeckte. Sie saß auf ihrem üblichen Platz und starrte auf den Bildschirm ihres Laptops. Obwohl ich sie nur ein paar Tage nicht gesehen hatte, raubte mir ihr Anblick den Atem. Ihre roten Haare hingen ihr offen über die Schultern, und sie schien vollkommen in Gedanken versunken zu sein. Für einen kurzen Moment wollte ich dem plötzlichen Drang, die Distanz zwischen uns zu überbrücken und mich neben sie zu setzen, nachgeben, doch dann entschied ich mich dagegen und ging zu meinem üblichen Platz, wo meine Kommilitonen Matt, Brian und Alec, mich per Handschlag begrüßten.
Ich wollte Grace nicht in die Enge treiben, doch sobald ich saß konnte ich mich nicht davon abhalten, mich zu ihr umzudrehen. Mir stockte der Atem, als unsere Blick sich automatisch trafen, doch eine Sekunde später hatte sie bereits den Kopf gedreht und den Blickkontakt unterbrochen.
Ich seufzte leise und wandte mich wieder nach vorne. Ich hatte keine Ahnung, wie Grace jetzt zu mir stand, doch dass sie überhaupt zu Soziologie erschienen war, war ein kleiner Hoffnungsschimmer. Vielleicht will sie auch einfach nicht ihren Kurs schwänzen, machte sich eine Stimme in meinem Inneren bemerkbar, die ich geflissentlich ignorierte.
Die zwei Stunden Soziologie zogen sich hin wie Kaugummi. Ich musste mich mehrmals zusammenreißen, um mich nicht wieder zu Grace umzudrehen, und als der Kurs endlich vorbei war, konnte ich meine Sachen gar nicht schnell einpacken. Meine hastigen Bewegungen lösten einen stechenden Schmerz in meinem Bauch aus, und ich verzog das Gesicht. Für einen Moment hielt ich inne, dann klang das Stechen ab, und ich erhob mich, dieses Mal bedachter.
Mein Blick zuckte durch den Hörsaal, doch Graces Sitzreihe war leer. Fluchend drehte ich mich um und sah gerade noch, wie sie aus der Tür schlüpfte. Eilig verabschiedete ich mich von meinen Kommilitonen und joggte ihr hinterher. Ich warf auf dem Gang einen kurzen Blick in beide Richtungen, bis ich schließlich ihre roten Haare in der Menge entdeckte. Mit leichtem Druck zwängte ich mich an zwei Typen vorbei und schob mich nach rechts, durch den Strom an Studenten.
»Grace, warte mal!«, rief ich halblaut, woraufhin sich mehrere Leute zu mir umdrehten. Ich ignorierte ihre Blicke und atmete erst auf, als das Mädchen, welches meine ganze Aufmerksamkeit hatte, innehielt. Als unsere Blicke sich trafen, verflog meine Hoffnung jedoch. Graces Gesichtsausdruck war wie versteinert. Sie zeigte keinerlei Emotionen, als ich auf sie zu ging, und auch nicht, als ich vor ihr zum Stehen kam. Einzig ihre Finger, die an den Trägern ihres Rucksacks spielten, verrieten, wie nervös sie war.
Erst als ein Student Grace anrempelte, löste ich mich aus meiner Starre und machte unterbewusst einen Schritt auf sie zu. Wie auf Kommando wich sie vor mir zurück. Ihre Bewegung fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengegend. Doch was hatte ich erwartet? Dass Grace mich freudig umarmte und fragte, wie es mir nach unserem tollen Abenteuer so ging? Sicher nicht.
»Können wir kurz reden?«, fragte ich leise, und suchte ihren Blick, als sie nicht sofort antwortete. »Bitte, es ist wichtig.«
Ich konnte in ihren Augen sehen, wie sie mit sich haderte, doch schließlich nickte sie knapp. Dabei entging mir nicht der befremdliche Ausdruck in ihrem Gesicht. Ich fühlte mich wie ein Unbekannter. Und vielleicht war ich das jetzt auch für sie. Doch am schlimmsten war, dass ich es ihr nicht einmal verübeln konnte. All das war meine Schuld.
Ich riss mich zusammen und deutete fragend auf eine Tür, die zur Feuertreppe führte. Einige Studenten nutzten den Ausgang, um in den Pausen zu rauchen oder frische Luft zu schnappen. Grace folgte meinem Blick und nickte erneut. Mit einem letzten Blick in ihr Gesicht, auf der vergeblichen Suche nach irgendeiner Regung, ging ich voran und drückte die Klinke herunter.
Wir traten nach draußen, die Tür fiel hinter uns ins Schloss, und das Stimmengewirr wurde von leisem Vogelgezwitscher und entferntem Stadtverkehr abgelöst. Grace lehnte sich dicht neben den Ausgang an die Hauswand und sah mich fragend an. Sie wirkte müde, unter ihren grünen Augen lagen dunkle Ringe und ihre Haare waren zerzaust. Die Tatsache, dass wahrscheinlich ich der Grund für ihren Zustand war, traf mich mit voller Wucht. Ich. Bin. Schuld. Ich wandte den Blick ab und atmete tief durch, um mich zu beruhigen.
Das Mädchen, welches mir mehr bedeutete, als jemals geplant, welches ich belogen und enttäuscht hatte, stand mir gegenüber. Und ich? Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte, wusste nicht, wo ich anfangen sollte und wie ich das Geschehene jemals wieder gut machen konnte. Alles, was ich in diesem Moment sehen wollte, war der fröhliche Ausdruck auf Graces Gesicht, das Leuchten in ihren grünen Augen, die unbeschwerte Seite an ihr. Doch so würde sie in naher Zukunft garantiert nicht mehr aussehen. Nicht in meiner Gegenwart.
»Wie geht es dir?« Graces leise Stimme sorgte dafür, dass ich überrascht den Kopf hob und und mein Herzschlag sich beschleunigte. Ich räusperte mich und senkte die Hand, die wie von allein auf meinem Bauch gelandet war. »Gut. Naja. Auf jeden Fall besser als Donnerstag.«
Grace nickte langsam, ohne den Blickkontakt zu lösen. »Gut.«
Ich versuchte krampfhaft die folgende Stille zu füllen, doch ich fand keine Worte, um auszudrücken, was ich fühlte. Erst als ich sah, wie Graces Finger nach dem Türgriff fassten, richtete ich mich alarmiert auf, und plötzlich brachen alle meine Gedanken aus mir heraus. »Fuck, Grace... es tut mir so verdammt leid. Ich hätte dich niemals mit in die ganze Sache reinziehen dürfen. Ich habe nicht nachgedacht, ich war egoistisch und mir ging es nur darum, die Guardians zu schützen. Ich kann nicht zulassen, dass die Jungs wegen mir ins Gefängnis kommen. Die Guardians waren meine Idee gewesen. Die anderen haben sich mir freiwillig angeschlossen, aber trotzdem fühle ich mich für sie verantwortlich. Das wird auch immer so bleiben.« Ich seufzte und suchte ihren Blick, bevor ich weitersprach.
»Damals, als du uns fotografiert hast und wir herausgefunden haben, dass dein Vater Polizist ist, musste ich etwas unternehmen. Und ja, es stimmt. Das Uni Projekt habe ich nur mit dir begonnen, damit ich an die Bilder und Informationen über deinen Vater komme. Ich hatte niemals im Sinn, dass mehr daraus werden könnte. Anfangs warst du für mich nur die Tochter irgendeines Polizisten. Aber irgendwann... wurdest du mehr als das. Viel mehr. Unsere Gespräche, die Ausflüge, der Abend in deiner Wohnung... Plötzlich ist viel mehr daraus geworden, und ich konnte es nicht kontrollieren. Du musst mir nicht verzeihen, das kann ich nicht von dir erwarten. Aber ich möchte, dass du weißt, was du mir inzwischen bedeutest. Nämlich unglaublich viel. Und ich hasse mich dafür, dass ich alles zerstört habe.«
Ich holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Ich hatte nichts mehr zu sagen, und ich wusste insgeheim, dass meine Worte nicht reichen würden. Sie konnten meine vergangenen Taten nicht ungeschehen machen. Doch ich hoffte inständig, dass Grace die Wahrheit aus meinen Worten herausgehört hatte, dass sie mir glaubte. Nur dieses eine Mal.
Grace schwieg unendlich lange Sekunden, in denen ich vergeblich versuchte, etwas aus ihrem Gesicht zu lesen. Dann sank ihre Hand von der Klinke und mein Herz gleich mit, als sie tonlos antwortete: »War es das, was du mir so Wichtiges erzählen wolltest?«
Der kleine Hoffnungsschimmer in mir verblasste, entfernte sich und verschwand schließlich in der Dunkelheit. Mein Kopf war wie leer gefegt. Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Grace umgehen sollte. Sonst war sie es gewesen, die jedes Gespräch so einfach gemacht hatte. Sie war auf meine Scherze eingegangen und hatte fast immer gelächelt oder gelacht. Doch jetzt schien es, als wäre ihr alles egal. Ich hatte keine Möglichkeit zu ihr durchzudringen. Und würde es vielleicht nie wieder haben. Ich hatte es verbockt, und ich konnte von Glück reden, dass sie überhaupt mit mir sprach.
Und auch, wenn es das war, was ich mir in diesem Moment am meisten wünschte, wusste ich, dass ich sie nicht dazu bringen konnte, mir wieder zu vertrauen. Jetzt war es an ihr, sich zu entscheiden.
____________________
Huhuuu, wie geht's wie steht's? 🌞
Der Cut ist irgendwie ein wenig mies (weil es im nächsten Kapitel direkt anschließend weiter geht), deswegen überarbeite ich gerade schon Kapitel 31, damit dieses Mal hoffentlich nicht wieder so ein großer zeitlicher Abstand bei Posten liegt 👀
Was sagt ihr zu Grace und Cole in diesem Kapitel? 🖤
Ich wünsche euch noch eine/n schöne/n Tag/Nacht! ❤️
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top