Kapitel 27 - Er ist ein Guardian


[GRACE]

»So eine Scheiße!« Frustriert schlug ich auf das Lenkrad und warf einen kurzen Blick zu meinem Handy in Zolas Hand, die mich mitleidig ansah. »Naja, meinte dein Vater nicht, dass der Peilsender kaputt ist?«

Ich seufzte genervt auf. »Es hätte wenigstens noch ein paar Minuten durchhalten können, dieses Scheißding. Jetzt sind wir irgendwo im Nirgendwo.«

Ich beugte mich vor und warf einen Blick durch die Windschutzscheibe nach draußen. Heruntergekommene Häuser reihten sich aneinander, und jede Straße sah aus wie die vorige. Bis vor wenigen paar Minuten hatten wir dem Signal des Peilsenders an Connors Fahrrad folgen können, dann war eine Fehlermeldung auf dem Display erschienen, und nun war der rote Punkt von der Karte verschwunden. Es war kurz nach zehn, Connor konnte also nicht weit entfernt sein, wenn er pünktlich zu dem mysteriösen Treffen erscheinen wollte.

»Warst du hier schonmal?«, fragte Zola und warf beunruhigt einen Blick aus dem Fenster. Ich musste ebenfalls zugeben, dass es in diesen verlassenen Gassen ein wenig ungemütlich war.

»Ich glaube nicht.« Seufzend lenkte ich meinen Mini an der nächsten Abzweigung wahllos nach links. Nach einigen Metern entdeckte ich vor mir das schiefe, grellgelbe Haus, welches mir vorhin schon aufgefallen war. Ungehalten trat ich auf die Kupplung und bremste den Wagen am Straßenrand ab.

»Ähm, was wird das jetzt?« Zola betrachtete mich alarmiert, als würde sie erwarten, ich könnte jede Sekunde das Auto verlassen und zu Fuß weiter nach Connor suchen. Ich nahm ihr kommentarlos mein Handy aus der Hand und starrte auf den Bildschirm, welcher die unzähligen, in Schachbrettmuster angeordneten Straßen der Umgebung zeigte.

Konzentriert suchte ich auf der Karte nach einem Anhaltspunkt, irgendetwas auffälligem, wo Connor hätte hinfahren können. Die Namen der Straßen waren mir unbekannt, und ich wollte gerade rauszoomen, als mir ein schwarzer Klotz inmitten der Häuser ins Auge fiel. Ich runzelte die Stirn und vergrößerte die Karte, bis ich das Gebäude aus der Satellitenansicht ganz deutlich erkennen konnte.

Mein Herz machte einen aufgeregte Sprung, und ich sah begeistert zu Zola. »Ich glaube ich hab's! Da hätte ich auch früher drauf kommen können.« Hastig warf ich mein Handy zurück in Zolas Schoß und fuhr los. »Ich war doch neulich mit Cole bei diesem Bunker, der ist hier ganz in der Nähe. Mir fällt kein besserer Ort ein, an dem illegale Geschäfte abgewickelt werden könnten, als dort.«

»Das ist doch schon mal was«, antwortete Zola erleichtert, doch trotzdem konnte ich einen Anflug Angst aus ihrer Stimme hören. Ich war ihr unglaublich dankbar, dass sie sich bereiterklärt hatte, bei dieser verrückten Aktion mitzukommen. Alleine wäre es deutlich unheimlicher gewesen.

»Nächste links, und dann wieder rechts.«

Ich nickte aufmerksam und ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. Die folgende Straße kam mir sehr bekannt vor. Hier war ich mit Cole entlanggegangen. Der Abend war mir nur zu deutlich in Erinnerung geblieben, genau wie alle anderen Tage, an denen ich etwas mit Cole unternommen hatte. Ich verdrängte die Gedanken an ihn und schaltete in den zweiten Gang, um in die nächste Gasse zu biegen. Sie war sehr schmal, und ich wollte gerade wieder Gas geben, als Zola plötzlich aufschrie. Erschrocken trat ich auf die Bremse und brachte das Auto abrupt zum Stehen. Ich atmete tief durch und sah dann mit rasendem Herzen zu Zola. »Was ist denn...«

Zola schüttelte nur wortlos den Kopf und deutete mit dem Finger durch die Windschutzscheibe nach vorne. Ich folgte ihrer Geste mit dem Blick und riss erschrocken die Augen auf. »Oh Gott!«

Im Licht der Autoscheinwerfer erkannte ich einen Typen, der am Ende der Gasse an der Hauswand saß. Er trug dunkle Klamotten und rührte sich nicht, obwohl das Licht ihn deutlich blenden musste. Innerhalb von Sekunden hatte ich den Motor abgestellt und die Tür aufgerissen.

»Grace, warte!«, hielt Zola mich zurück. Aufgewühlt sah ich zurück ins Auto und erblickte ihren schockierten Gesichtsausdruck, der mir prophezeite, dass sie mich aufhalten wollte. Sie schien einen Moment mit sich zu ringen, dann jedoch löste sie ihren Anschnallgurt und umfasste den Türgriff. Mit unerwartet fester Stimme sagte sie: »Ich komme mit.«

Ich nickte, stieg aus und eilte auf die Person zu. Mit jedem Meter wurde das ungutes Gefühl in meinem Inneren stärker. Ob es an der verkrampften Haltung des jungen Mannes, dem schwarzen Tuch vor Mund und Nase oder seinen blutroten Fingern lag, wusste ich nicht. Ich kam mit rasendem Herzen und zitternden Händen bei ihm an, und ging neben ihm in die Knie. Das, was ich eben unterbewusst realisiert hatte, wurde mir nun bestätigt. Ich sog scharf die Luft ein und starrte auf die schwarze Kapuze, welche ein Stück nach hinten gerutscht war und im Scheinwerferlicht braune Haare entblößte.

»Ist das etwa...«, erklang Zolas leise Stimme neben mir, und ich nickte stumm.

Er war einer der Guardians. Mein Blick wanderte tiefer zu den blutüberströmten Händen und der dunklen Pfütze neben ihm auf dem Asphalt. Und er war verletzt. Meine Hände zitterten, als ich mich vorbeugte und meine klammen Finger das Tuch vor Mund und Nase umfassten. Er schien bewusstlos zu sein, und das Tuch verhinderte den Zugang zu frischer Luft.

»Grace! Was, wenn das eine Falle ist?«, wisperte Zola, und ich zuckte zusammen. Noch einmal musterte ich die braunen Haare, die dunkeln Augenbrauen und die geschlossenen Lieder. Alles war mir so seltsam bekannt... Mir kam ein leiser Verdacht, welcher sich mit jedem Atemzug verfestigte. Widerstrebend hielt ich dagegen an und schüttelte den Kopf. Nein. Ich war nur durcheinander, viele Typen sahen aus wie er. Doch keiner lässt mein Herz höher schlagen wie er...

Mit einem Ruck zog ich das Tuch herunter - und taumelte zurück. Schmerzhaft kam ich mit dem Steißbein auf der Straße auf, doch ich spürte keinen Schmerz. Ich spürte nichts, außer dumpfer Leere. Fassungslos starrte ich in das Gesicht, welches von Schnitten, blauen Flecken und Blut übersäht war. Vor uns lehnte niemand anderes als Cole.

»Oh Gott.« Zolas Stimme neben mir versagte, und ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sie die Hand schockiert vor den Mund schlug. Genauso fühlte ich mich. Meine Gedanken rasten, und mir wurde mir schlecht.

Doch all meine verwirrten Gefühle wurden von einer plötzlichen Angst überlagert, die mich vollkommen einnahm und meine Sinne benebelte. Atemlos richtete ich mich auf, schüttelte Zolas Hand von meinem Arm ab, die wie durch ein Wunder dort gelandet war, und schob Coles Hände sanft von seinem Pulli. Sie fühlten sich unter meinem Griff so vertraut an, doch das warme Blut überlagerte alle schönen Erinnerungen.

Ich schob seinen schwarzen Hoodie nach oben, und mir brach der Schweiß aus. Blut. Alles war voller Blut. Seine Haut, das Shirt, der Hosenbund. Und aus einer Wunde, die aussah wie ein Einschussloch, lief umnachlässig neues. Blanke Panik machte sich in mir breit, während mein Atem abgehackter ging. Ich riss mir meinen Pulli über den Kopf und presste das Kleidungsstück auf die Wunde. »Ruf... den Krankenwagen. Schnell«, keuchte ich und spürte, wie beißende Übelkeit in mir aufstieg.

»Wie wollen wir das denn erklären? Willst du ihn auffliegen lassen?« Zolas Stimme klang einigermaßen gefasst und half mir dabei, etwas klarer zu denken. Ich schüttelte krampfhaft den Kopf und hob die Hand an Coles Stirn. Sie war siedend heiß, und Schweißperlen rannen seine Haut hinab. Panisch sah ich zu Zola auf, die kreidebleich war.

»Grace...« Ich senkte bei Coles Stimme blitzschnell den Blick und legte meine Finger an seine heiße Wange. Seine Lieder bewegten sich flatternd, und mein Herz machte einen Satz. Cole versuchte sich keuchend aufzurichten, verzog jedoch schmerzverzerrt das Gesicht. »Kein Krankenwagen.«

Hysterisch schnappte ich nach Luft. »Aber...«

»Ruf Luc an.« Coles Worte waren leise, und kurz darauf waren seine Augen wieder geschlossen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich schüttelte den Kopf. »Nein nein nein. Cole bleib wach!«

»Okay, warte.« Ich hörte, wie Zola hektisch auf ihr Handy tippte und Sekunden später, die sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlten, atmete sie erleichtert aus. »Luc? ... Gott sei Dank. Hier ist Zola. Grace und ich haben Cole gefunden... Nein... ja... In den Stains. Ich glaube, er wurde angeschossen... Was er an hat?« Zola sah zu Cole, dem ich währenddessen dabei half, sich aufzurichten. Er war nicht bewusstlos, doch seine Bewegungen gingen nur schleppend, und seine Augen waren geschlossen. »Er trägt sehr eindeutige schwarze Klamotten... In eine Fabrik?... Aber... Okay, ja, wir kommen.«

Fassungslos drehte ich mich um und bedeutete Zola, auf Lautsprecher zu schalten.

»... schicke dir sofort die Adresse«, beendete Luc gerade seinen Satz.

Ungehalten erhob ich die Stimme. »Luc? Er hat eine Schussverletzung im Bauch und total viel Blut verloren. Ich weiß nicht, wie lange er bewusstlos war und wann er es wieder wird. Er muss verdammt nochmal ins Krankenhaus, sofort!«

Am anderen Ende der Leitung wurde Lucs Stimme drängend. »Nein, Grace, warte! Das geht nicht. Aber ich verspreche dir, dass wir uns hier um ihn kümmern!«

Ich senkte den Blick auf Cole, und die Angst um ihn ließ meine Sicht verschwimmen.

»Ich verspreche es dir«, drang Lucs Stimme eindringlich aus dem Lautsprecher.

Es lag in meiner Hand, zu entschieden. Entweder ich brachte Cole ins nächste Krankenhaus und offenbarte somit seine Identität als Guardian. Oder ich riskierte sein Leben und vertraute dafür Luc, der sicher alles für seinen besten Freund tun würde.

»Okay«, brachte ich hervor und wagte es nicht, den Blick von Cole abzuwenden. Zola stellte den Lautsprecher wieder ab und redete leise weiter. Cole schien große Mühe zu haben, bei Bewusstsein zu bleiben. Immer wieder fielen seine Augen zu. Sie wirkten trübe und ich spürte, wie sich mein Hals zusammenzog. »Cole? Kannst du mich hören? Kannst du aufstehen?«

Er drückte sanft gegen meine Hand, mit der ich immer noch meinen Pulli hielt, um die Blutung der Wunde zu stoppen. »Du musst nicht...«

Ich brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen und behielt meine Hand wo sie war, während Cole sich langsam aufrichtete. Als er auf den Beinen war, erschien Zola an meiner Seite und half mir, Cole zu meinem Auto zu bringen, welches sie näher herangefahren hatte.

Ich konnte die Anstrengung und den Schmerz auf Coles Gesicht deutlich erkennen, als er sich mit unserer Hilfe auf den Rücksitz meines Wagens setzte. Ungefragt stieg Zola auf der Fahrerseite ein, während ich Cole auf die Rückbank folgte. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Meine Gedanken rasten, und ich drehte mich augenblicklich zu ihm um, sobald ich saß.

Cole lehnte mit geschlossenen Augen an der Kopfstütze, seine Haare klebten ihm an der Stirn, und sein Atem ging flach. Vorsichtig berührte ich ihn an der Schulter und bedeutete ihm, sich hinzulegen. Er warf mir unter schweren Liedern einen fragenden Blick zu, bevor er seinen Kopf in meinen Schoß sinken ließ. Als er lag konnte ich mich nicht davon abhalten, ihm die feuchten Strähnen aus der Stirn zu streichen.

»Das sollte dein Vater lieber nicht sehen«, murmelte Cole leise und versuchte sich an einem matten Lächeln. Seine Worte waren alles andere als aufmunternd. Doch ich verdrängte jeden Gedanken an die Situation, in der ich mich gerade befand, und schüttelte nur den Kopf. Mein Mund war staubtrocken, und mein Bauch schmerzte vor Angst. »Wird er nicht.«

Mein Blick zuckte nervös von Coles Gesicht, zu seinem Bauch und weiter aus dem Autofenster, wo die nächtlichen Straßen der Stadt vorbeizogen. Ich kaute auf meiner Unterlippe herum und wippte unkontrolliert mit dem Fuß. Ich war so panisch, dass ich das Gefühl hatte, durchzudrehen, je länger ich saß. Es war irrsinnig. Das, was wir hier machten, war vollkommen verrückt. Cole gehörte ins Krankenhaus und nicht in eine Fabrik. Wie wollten sie ihm dort helfen, wenn sie noch nicht einmal wussten, wie schlimm es um Cole stand?

Wenn ihm etwas passiert, ist das meine Schuld, drängte sich ein Gedanke in den Vordergrund, und ich spürte, wie sich mein Hals zuschnürte. Wieso vertraute ich Luc, wenn mich der Mensch, von dem ich es am wenigsten erwartet hatte, bereits so getäuscht hatte?

»Mach dir keine Sorgen.« Ich zuckte bei Coles rauer Stimme zusammen und senkte den Kopf. Er erwiderte meinen Blick einige Sekunden aus verschleierten Augen, bevor er sie schloss und leise weitersprach. »Du bist so schön... Vor allem, wenn du glücklich bist.«

»Ich glaube, du bist auf Drogen«, wisperte ich heiser und drängte jegliche Reaktion meines Körpers auf seine Worte zurück. Wieder sah ich zu der Wunde und drückte mit rasendem Puls meine Hand auf den Pulli, als ich sah, wie Coles langsam abrutschte.

Die nächsten Minuten verstrichen wie eine Ewigkeit. Zola fand mithilfe der blechernen Navigationsstimme aus meinem Handy zu der Adresse, die Luc ihr genannt hatte. Noch nie hatte ich meine beste Freundin eine Verkehrsregel überschreiten sehen, doch in dieser Nacht forderte sie ihr Glück quasi heraus. Als wir endlich angekommen waren, konnte ich sehen, dass ihre Hände zitterten. Sie fuhr nicht gerne Auto, und ich wusste, wie schwer ihr dieser Schritt gefallen sein musste.

Vorsichtig öffnete ich die Tür und ließ die kühle Nachtluft ins Innere strömen. Zola erschien sofort neben mir, und wir hielten Cole, während er aus dem Auto stieg. Er stützte sich schwer auf meine Schulter, als er mit einer wagen Handbewegung zu einer Fabrik deutete, welche einige Meter entfernt von uns aufragte. Sie wirkte wie ein Monster vor dem dunklen Himmel, und meine Beine weigerten sich, voran zu gehen. Mir wurde schlecht, und ich atmete tief die frische Luft ein, um die Panik zu unterdrücken. Wie sollte Cole an diesem Ort behandelt werden? Ich spürte Coles Blick auf mir liegen und zwang mich dazu, weiterzugehen.

»Cole! Oh, verdammt.« Wir blickten auf, als die laute Stimme erklang. Mit schnellen Schritten trat Luc aus einer großen Tür der Fabrik. Er eilte auf uns zu, gefolgt von einem Typen mit dunklen Haaren und ebenso schwarzen Klamotten.

»Alter, du kannst uns doch nicht so einen Schrecken einjagen, du Idiot!«, stieß Letzterer mit einer angenehmen Stimme hervor und schob dann ungerührt Coles Hoodie hinauf. Er warf einen Blick auf die Wunde, und ich musste den Kopf abwenden, als er mit seiner Handytaschenlampe leuchtete. Ich konnte die Verletzung nicht noch einmal sehen.

»Na dann, zeig mal was du kannst, Zac«, murmelte Cole mit einem müden Lächeln. Der Schwarzhaarige nickte langsam, bevor er sich erhob und zu Luc umwandte. Mit einem Mal war der kindliche Ausdruck von seinem Gesicht verschwunden, und er wirkte vollkommen ernst. »Wahrscheinlich ein Durchschuss. Wir könnten Glück haben und es wurden keine wichtigen Organe getroffen. Das kann Steve aber genauer sagen.« Er drehte sich erneut um, dieses Mal schaute er an Zola und mir vorbei zur Straße. »Perfekt, wenn man vom Teufel spricht. Na gut, in diesem Fall wohl eher Engel.«

Ich sah über meine Schulter und erblickte einen Krankenwagen, der in hohem Tempo die holprige Straße entlangfuhr. Seine Scheinwerfer erhellten den kaputten Asphalt und die anderen verwahrlosten Hallen, an denen wir Minuten zuvor vorbei gefahren waren.

»Aber ich dachte...«

»Steve ist ein Freund«, beantwortete Luc meine unausgesprochene Frage und trat an meine Seite. »Ich übernehme mal. Wartet einen Moment, ja?«

Luc wartete mein Nicken ab, bevor er sanft Coles Arm von meinen Schultern löste und um seine eigenen legte. Ich hatte das Gefühl, mir würde ein Teil meines Körpers abgetrennt werden. Hilflos umarmte ich mich selbst und beobachtete, wie Luc und Zac ihren Freund, der inzwischen wirklich bewusstlos war, zum Wagen brachten. Ein junger Mann sprang aus der Fahrerseite und nahm sie in Empfang. Als Zola neben mich trat, lehnte ich mich erschöpft gegen sie. Ich hatte das Gefühl, eine riesige Last auf meinen Schultern zu tragen, die von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

»Das wird schon«, flüsterte Zola, und ich war mir nicht sicher, ob sie mich oder sich selber beruhigen wollte.

Einige Minuten später erschien Luc wieder an unserer Seite und bedeutete uns, ihm ins Innere der Fabrik zu folgen. Während ich einen letzten besorgten Blick zu dem Krankenwagen warf, in dem der Arzt und Zac Cole behandelten, wandte Zola sich beunruhigt um. Ich konnte förmlich spüren, wie unwohl sie sich fühlte, als wir durch die Eingangstür in eine große, düstere Halle traten. Stumm umfasste ich ihre Hand und drückte sie kurz, bevor wir Luc eine alte Treppe nach oben folgten. Dort gingen von einem dunklen Flur mehrere Türen ab. Luc hielt vor der ersten an und drückte sie mit leichtem Schwung auf. Er blieb im Türrahmen stehen und beugte sich in den dahinter liegenden Raum. »Cole wird gerade von Steve und Zac behandelt.«

Das Scharren eines Stuhls ertönte, und einen Moment später erschienen zwei Jungs in meinem Blickfeld. Der hatte kurze schwarze Haare, trug eine braune Brille, die nur eine Nuance dunkler war als seine Haut, und sah besorgt zu Luc, während der andere mich erstarren ließ. Er wirkte furchteinflößend mit der hellen, von einigen Blessuren gezierten Haut, dem markanten Kiefer und dem vollen schwarzen Haar, doch was mich scharf die Luft einziehen ließ, waren seine Augen. Ich erkannte in ihm den Typen, der Connor niedergeschlagen hatte. Er hatte die Arme verschränkt, und jeder Muskel seines kräftigen Körpers schien angespannt zu sein. Zola spürte meinen plötzlichen Stimmungswechsel und umfasste meinen Arm.

»Was macht die hier?«, zischte der Typ Luc zu und bedachte mich mit einem tödlichen Blick. Ich fühlte mich unter seiner Musterung wie auf einem Präsentierteller.

Luc hob warnend eine Hand. »Es ist okay, Jacob.«

Der angesprochene drückte sich an Luc vorbei und funkelte uns wütend an. »Ein verficktes Wort zu irgendjemandem, und ihr seid tot, kapiert?«

»Das gilt für dich, Jacob, wenn du dich weiter so verhältst«, erwiderte Luc in einem scharfen Tonfall, den ich so noch nie von ihm gehört hatte. Zola wich ein Stück zurück, Lucs Blick zuckte zu ihr, und augenblicklich wurde seine Miene weicher. Ich verfestigte meinen Stand, und Jacob stieß ein gefährliches Knurren aus. Okay?

»Ähm, hi, ich bin Joel«, meldete sich der junge Mann mit der Brille zu Wort und warf uns ein entschuldigendes Lächeln zu. Erleichtert erwiderte ich es und spürte, wie ein wenig Anspannung von meinen Schultern fiel. Zumindest einer schien nicht vorzuhaben, in den nächsten Minuten irgendjemanden umzubringen. »Wollt ihr vielleicht rein kommen?«

»Nein, wollen sie nicht!«, knurrte Jacob, woraufhin Luc ihn packte und ins Innere des Zimmer zerrte. Zola verstärkte den Griff um meinen Arm, und ihre Nägel bohrten sich schmerzhaft in meine Haut. Aus dem Raum erklangen Stimmen, doch ich konnte kein Wort verstehen.

»Sorry«, murmelte Joel und schloss laut räuspernd die Tür. Ihm schien die Situation sichtlich unangenehm zu sein.

»Schon okay«, erwiderte ich und spürte, dass meine Beine kurz davor waren, nachzugeben. Zu viel war in den letzten Minuten, in der letzten Stunde, geschehen. Diese eine Nacht stellte mein komplettes Leben auf den Kopf. Und ich hatte keine Ahnung, wie und ob ich es jemals wieder so leben konnte wie zuvor.

Die Tür in Joels Rücken öffnete sich, und ein geladen aussehender Luc trat heraus. Er fuhr sich durch die blonden Haare und seufzte auf. »Es tut mir wirklich leid. Wollt ihr jetzt rein kommen?«

»Nein, danke«, meldete sich Zola zu Wort, und sowohl Luc als auch ich drehten uns zu ihr um. Obwohl ich wusste, dass sie sich bemühte, konnte Zola nicht die Bestürzung und Angst aus ihrem Blick verbergen. Ich sah zurück zu Luc, der mit einem Mal betroffen wirkte. »Klar, total verständlich. Ihr könnt auch nach Hause gehen. Cole ist in sicheren Händen«, fügte er hinzu, als er meinem zweifelnden Blick begegnete.

»Okay.« Langsam nickte ich und drückte mich von dem wackeligen Geländer der Treppe ab. Die unterschiedlichsten Emotionen strömten durch meine Körper. Wut, Verletztheit, Angst und Hoffnungslosigkeit. Wie sollte es jetzt weiter gehen?

Luc blinzelte mir erschöpft zu. »Danke für alles.«

»Klar«, brachte ich hervor und nickte erneut mechanisch, ohne Luc dabei anzusehen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich war einfach nur erschöpft. Erschöpft und geschockt.

»Nur damit wir vorbereitet sind. Werdet ihr uns verraten?« Lucs Worte ließen mich augenblicklich aufsehen. Ich hatte mir noch keine Gedanken über diese Entscheidung gemacht, doch jetzt, wo ich vor ihr stand, wurde mir erst bewusst, was für einen Ausmaß sie umfasste.

Ich wusste nun, wer die fünf Typen waren, die mein Vater seit Monaten suchte. Ich wusste, wer die berüchtigten Guardians waren, die die Stadt in Aufruhe trieben. Ich kannte ihre Namen, ihren Aufenthaltsort, und... ich hatte mich in einen von ihnen verliebt.

Diese Erkenntnis traf mich plötzlich mit solch einer Wucht, dass ich das Geländer der Treppe fester umklammern musste. Ich hatte mich vollkommen ungeplant in Cole verliebt. Es war einfach passiert, schleichend, ohne, dass ich damit gerechnet hatte. Doch der Moment in der Gasse, in dem ich geglaubt hatte, ihn verloren zu haben, hatte mir gezeigt, was Cole mir bedeutete. Nämlich unglaublich viel. Doch meine Gefühle galten dem Cole, den ich vor dieser Nacht gekannt hatte. Sie galten dem charmanten Student, meinem Unipartner, dem Typen mit dem ich die beste Zeit seit langem verbracht hatte.

Ich hatte ihm vertraut, und nun kam es mir vor, als hätte ich ihn nie richtig gekannt. Mir war das Ausmaß der Entdeckung, dass Cole ein Guardian war, in diesem Moment noch nicht bewusst.

Doch in einer Sache war ich mir sicher. Auch, wenn ich ab jetzt anders über ihn dachte, auch, wenn er nun ein Fremder für mich war, konnte ich ihn nicht verraten. Wenn ich einfach alles vergaß, wenn ich ihn aus meinem Leben strich, konnte ich vielleicht so tun, als wäre nichts passiert. Er war einfach ein Student, mit dem ich ein Projekt begonnen und beendet hatte. Ich könnte so weiterleben wie bisher. Und vielleicht irgendwann mit dem Wissen leben, dass ich meinen Dad verraten hatte.

»Ich werde nichts sagen«, sagte ich und sah Luc dabei mit dem Rest an Kraft, den ich noch besaß, fest in die Augen. Er sollte wissen, dass er sich auf mich verlassen konnte. Einen Moment erwiderte er meinen Blick, und obwohl er nichts sagte, sah ich die Dankbarkeit und Mitgefühl in seinem Blick. Er sah an mit vorbei zu Zola, und für einen Moment herrschte Stille. Dann sagte sie mit brüchiger Stimme: »Ich auch nicht. Euer Geheimnis ist bei uns sicher.«

Ich atmete tief durch. Ich wusste, dass es ihr ebenfalls unglaublich schwer gefallen sein musste, diese Entscheidung zu treffen. Und ich hatte das Gefühl, dass sie nur meinetwegen so schnell geantwortet hatte.

»Danke. Wirklich. Ich gebe Bescheid, sobald ich etwas über Cole weiß«, versprach Luc, während meine Gedanken bereits abdrifteten. Nur nebenbei bemerkte ich, wie Zola sich von den Jungs verabschiedete und mich die Treppe hinunterzog. Ich schwankte leicht, und es schien, als würde die Umgebung in Zeitlupe an mir vorbei ziehen.

Als ich, wie durch ein Wunder, auf dem Beifahrersitz meines Wagens landete, konnte ich den Blick nicht von dem blinkenden Krankenwagen abwenden. Nur einige Meter von mir entfernt lag Cole und kämpfte vielleicht um sein Leben. Mit jedem Meter, den wir uns von der Fabrik entfernten, hatte ich das Gefühl, mein altes Leben zu verabschieden. Diese eine Nacht hatte alles verändert und mir gezeigt, dass es unmöglich war, neuen Menschen zu vertrauen. Man wusste nie, wer sich hinter ihnen verbarg und mit welchem Hintergedanken sie sich in das Leben eines anderen drängten. Hier, im Auto neben Zola, war mir noch nicht bewusst, wie sehr Coles Verrat noch schmerzen würde. 


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Wow, erst einmal will ich mich für die 5K Reads bedanken! 🤯 Ich bedanke mich irgendwie nicht so oft, weil ich niemanden damit nerven will, aber jeder Vote, jeder Kommentar und überhaupt die Tatsache, dass jemand diese Geschichte liest (ob mit voten und kommentieren, oder als stiller Leser 🖤) bedeutet mir wirklich unbeschreiblich viel und ist überhaupt nicht selbstverständlich, D A N K E ! 🥺❤️

Jetzt zum Kapitel: Findet ihr, Grace hat richtig gehandelt? Hättet ihr es auch so gemacht, oder hättet ihr euch dazu entschieden, die Jungs zu verraten? 👀

Ich bin auf eure Meinungen und Kommentare gespannt, und wünsche euch noch einen schönen Tag/ Nacht 😂✨

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