Kapitel 23 - Wir müssen reden



[GRACE]

»Es ist offiziell. Ich versteh die Welt nicht mehr.« Stöhnend ließ ich mich neben Zola auf die Wiese vor der Uni fallen und fuhr mir durch die Haare.

Meine beste Freundin sah von ihrem Buch auf und warf mir einen mitfühlenden Blick zu. »Ist Cole wieder nicht im Kurs gewesen?«

Ich antwortete nur mit einem Brummen. Zola zog die Augenbrauen hoch und klopfte sich ein paar Grashalme von ihrer Strumpfhose. »Oder liegt es daran, dass er wieder da gewesen ist?«

Ich schüttelte den Kopf und kippte ächzend nach hinten ins Gras. »Nein, er war immer noch nicht da. Vielleicht bin ich egoistisch, aber kann es sein, dass er wegen mir vier Vorlesungen geschwänzt hat?«

»Nein!« Zola antwortete so schnell, dass ich ihr einen misstrauischen Blick zuwarf. »Also, es gibt bestimmt einen plausiblen anderen Grund«, fügte sie hinzu und spielte an den Ärmeln ihres grob gestrickten Rollkragenpullovers.

Ich zuckte mit den Schultern und starrte in den blauen Himmel, an dem nur vereinzelte weiße Wolken vorbeizogen. Seit dem Abend waren fünf Tage vergangen. Cole hatte sich nicht gemeldet, und ich hatte nur durch Zola erfahren, dass es Luc besser ging. Außerdem hatte ich ihn, im Gegensatz zu Cole, bereits wieder auf dem Unigelände gesehen.

Vielleicht gab es ja wirklich einen anderen Grund? Was, wenn er familiäre Probleme hatte? Mir fiel auf, dass ich nichts über Coles Familie wusste. Und er hatte auch sonst nur wenig von sich erzählt. Wie konnte ich das Gefühl haben, Cole so gut zu kennen, andererseits aber nur so wenig über ihn wissen?

Meine Gedanken wanderten zurück zu unserer letzten Begegnung bei mir zu Hause, und ich verzog das Gesicht. Vielleicht schwänzte er auch nur Soziologie um mir aus dem Weg zu gehen, und nahm an allen anderen seiner Kursen teil. Doch er konnte mich nicht für immer meiden. Irgendwann mussten wir miteinander sprechen, um die letzten Dinge für unser Projekt zu klären.

Der Gedanke an die anstehenden Arbeiten und Klausuren ließ mich aufstöhnen. Das unangenehme Ziehen in meiner Magengegend, welches ich immer verspürte, wenn ich mich unwohl fühlte, trat prompt ein und ließ mich nach Luft schnappen. Der Sommer kam, das Semester war fast vorbei, und ich hatte das Gefühl, genauso wenig auf die Prüfungen vorbereitet zu sein, wie am Anfang meines Studiums. Ich quälte mich durch die Kurse, und wusste nicht, wie ich jemals einen von ihnen bestehen sollte. Alles was ich lernte, hatte ich nach kurzer Zeit wieder vergessen, da es mich absolut nicht interessierte. Es erschien mir fast unnötig, an den Prüfungen teilzunehmen. Augenblicklich spukten mir Coles Worte im Kopf herum. Er hatte gesagt, ich solle mein Leben leben, es selbst in die Hand nehmen und das tun, worauf ich Lust hätte. Der Gedanke fühlte sich einerseits großartig, andererseits aber auch wahnsinnig furchteinflößend an. Ich müsste alles, was ich mir aufgebaut hatte, herunterreißen. Mein Studium, die Beziehung zu meiner Mutter... und die Zukunft, welche ich selbst nicht haben wollte.

Mit einem Mal sehnte ich mich nach meinem Laptop und der Geschichte, die ich in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Ich wollte schreiben. Ich wollte mein Hobby zum Beruf machen. Doch das war leichter gesagt als getan.

»Alles okay?« Zola stupste mich an, und ich öffnete die Augen, die ich unbemerkt geschlossen hatte. Hastig richtete ich mich auf und vergrub die Finger in einigen Grasbüscheln, als mir für einen Moment schwindelig wurde.

»Ja, alles gut.« Ich warf einen Blick auf mein Handy. »Wollen wir los?«

Mein Unterricht im Selfdefenders begann bald, und ich hoffte, heute endlich Connor zu treffen.

So muss sich Zola fühlen, ging es mir durch den Kopf, als ich Stunden später in meinem Stammclub stand. Zum ersten Mal in meinem Leben war mir die Musik zu laut, die Menschenmassen zu dicht und die Typen zu aufdringlich. Ich ärgerte mich, dass ich auf Kats Nachricht angesprungen war. Sie hatte mich zum Feiern eingeladen, und aus Frustration, dass ich Connor heute wieder nicht im Selfdefenders angetroffen hätte, war ich darauf eingegangen.

Obwohl ich mich vor dem Lernen drücken konnte, bereute ich es, hergekommen zu sein. Zola hatte nicht versucht mich aufzuhalten, doch ich war auch nicht enthusiastisch genug gewesen, um sie zum Mitkommen zu bewegen.

Kat winkte mir ausgelassen von der Tanzfläche aus zu, und ich prostete schnell, gezwungenen lächelnd, mit meinem Colaglas zurück. Gedankenverloren ließ ich die braune Flüssigkeit hin und her schwenken. Vor einigen Wochen hatte ich genau hier an der Bar mit Cole gestanden, und er hatte mir eine Cola ausgegeben. Owohl ich betrunken gewesen war, konnte ich die Freude über seine damalige Anwesenheit jetzt noch spüren.

Wie auf Kommando ließ ich den Blick durch den Club schweifen, auf der Suche nach seinen braunen Haaren. Es war vollkommener Schwachsinn. Cole erschien mir nicht als der Typ, der seine Nächte in solch einem Club verbrachte. Doch trotzdem... Die Sehnsucht nach ihm, nach seiner Stimme und seinem Lächeln machte mich ganz verrückt. So sehr, dass ich zusammenzuckte, als jemand meinen Arm ein wenig zu fest umfasste. Das Glas in meiner Hand schwankte bedenklich, und Cola schwappte über meine Hand.

Seufzend suchte ich in meiner Jacke nach einem Taschentuch, während ich mich zu meinem neuen Barnachbarn umdrehte. In der letzten Stunde hatten die Besitzer der umliegenden Hocker minütlich gewechselt, während ich auf meinem seit Anfang des Abends verweilte.

Der junge Mann zu meiner Rechten hatte zurückgegeelte blonde Haare, ein schmieriges Lächeln und strahlend weiße Zähne. An seinem Handgelenk, unterhalb von dem Ärmel seines blauen Hemdes, blitzte mir eine teuer aussehende Uhr entgegen. Ich schenkte ihm ein knappes Lächeln und wollte mich auf der Suche nach Servietten wieder abwenden, als er sich vorbeugte und mir verdächtig nahe kam. »Sorry, habe ich deinen Drink verschüttet? Ich lade dich gerne auf einen neuen ein.«

Ich hielt inne und sah ihn erneut an, dieses Mal richtig. Ich wartete auf eine Reaktion meines Körpers, irgendetwas, was mir sagte, dass ich auf sein Angebot eingehen sollte, doch da war nichts. Ich fühlte absolut nichts, als ich in seine blauen Augen sah und seine Hand bedächtig über meinen Arm fuhr. Mit einem Mal wurde mir unter seinem durchdringenden Blick unwohl.

»Tut mir leid, ich muss leider los. Vielleicht beim nächsten Mal«, erwiderte ich hastig und rutschte vom Barhocker. Als ich mir wenige Sekunden später einen Weg durch die Menge bahnte, wurde ich in meiner Jackenstasche endlich fündig und wischte mir notdürftig die Hand mit einem Taschentuch sauber.

Kurz bevor ich den Ausgang erricht hatte, drehte ich mich noch einmal um. Der Typ von eben war inzwischen zum nächsten Mädchen an der Bar übergegangen. Mein Blick wanderte zur gefüllten Tanzfläche. Ich fühlte mich für einen Moment mies, da ich einfach so verschwand, doch ich wollte Kat nicht den Spaß verderben. Ihre anderen Freunde waren auch noch da, und wenn ich ihr schrieb, nahm sie mir meinen verfrühten Aufbruch sicher nicht übel.

Als ich in die Nacht hinaus trat, empfing mich eine kühle Biese. Ich zog meine Jacke an und holte gleichzeitig mein Handy aus der Hosentasche, um Kat zu schreiben. Jetzt, kurz vor Mitternacht, waren die Straßen noch voll. Hauptsächlich Studenten suchten sich lachend und quatschend einen Weg an den vielen Clubs und Bars vorbei, vor denen weitere Menschentrauben standen und sich unterhielten.

Ich verließ die vollen Straßen und hing meinen Gedanken nach, während ich den Rückweg antrat. Es war der selbe Weg, den ich auch mit Cole gegangen war. Als ich um die Ecke bog, hinter der die drei Typen gestanden hatten, hielt ich kurz inne. Es war düster, und nur eine einzelne Straßenlaterne erhellte den Fußweg. Die Straße war leer, unmittelbar vor mir ging eine Gasse nach rechts ab und führte ins Dunkel. Gerade als ich weiter gehen wollte, ertönte eine Stimme.

»Hey.«

Obwohl es nur ein Wort war, zuckte ich erschrocken zusammen. Mit rasendem Herzen blickte ich mich in der menschenleeren Straße um. In der Ferne konnte ich ein junges Paar erkennen, das in Richtung Stadtmitte ging. Doch sie sahen nicht zu mir, weswegen sie unmöglich mit mir gesprochen haben konnten.

Ich drehte mich noch einmal herum, und mein Blick glitt über die dunkle Gasse. Ich erstarrte, als ich den Umriss einer Person erkannte. Oh Gott. Dort stand jemand.

»Nicht erschrecken.« Es war die gleiche Stimme von eben, tief, und ein wenig verzerrt.

Zu spät, antwortete ich innerlich und trat unbewusst einige Schritte zurück, als er einen nach vorne machte. Mir wurde heiß und kalt zugleich, mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich machte mich bereit, loszurennen.

»Wir müssen reden.«

Ohne zu blinzeln starrte ich mein Gegenüber an, als er noch weiter aus der Gasse trat. Das Licht der Laterne erhellte ihn, und ich schnappte unwillkürlich nach Luft. Schwarzer Hoodie, Tuch vor Mund und Nase, und ein kräftiger Körperbau. Das war einer der Guardians.

Verdammt.

Unglauben, Verständnislosigkeit und Wut vermischten sich mit Angst, während mir tausend Gedanken durch den Kopf jagten. Doch bevor ich einen von ihnen fassen konnte, trat er noch einen Schritt vor. Und endlich konnte ich mich bewegen.

»Stopp, bleib wo du bist!« Ich griff nach meinem Handy und hielt es wie ein Schutzschild vor mich. »Was willst du von mir?« Meine Stimme klang seltsamerweise fest, und ich warf einen verstohlenen Blick nach links und rechts. Wenn ich rannte, konnte ich es in eine belebtere Straßen schaffen. Doch bevor ich das tat, würde ich alles daran setzten, meinen Vater zu informieren, wer mir gegenüber stand.

Der Guardian hob entwaffnend die Hände. »Ich will dir nichts tun. Hör mir einfach nur zu.«

Ich starrte ihn misstrauisch an, mein Körper war zum zerreißen gespannt, meine Stimme triefte vor Abneigung. »Wieso willst du, dass ausgerechnet ich dir zuhöre?«

Er neigte den Kopf, und seine Augen wurden von dem Schatten seiner Kapuze verdeckt. »Du bist die Tochter eines Cops.«

Ich hielt die Luft an. Oh verdammt. Woher wusste er das?

Stark bleiben, keine Schwäche zeigen. »Ziemlich riskant für jemanden wie dich die Tochter eines Polizisten anzusprechen.«

»Hätte ich eine andere Möglichkeit, hätte ich es nicht getan.«

Vorsichtig ließ ich meine Hand sinken, ohne den Blick von meinem Gegenüber zu lösen. »Es gibt immer eine andere Möglichkeit«, antwortete ich mit fester Stimme.

Er hielt inne, dann lehnte er sich an die Hauswand. Seine Bewegungen waren gleichermaßen bedächtig und geschmeidig und kamen mir irgendwie bekannt vor. Wahrscheinlich von unserer letzten Begegnung. Ich war mir ziemlich sicher, das dies der Typ war, der mich damals angesehen hatte, bevor er über den Zaun geklettert war. Er schien der Anführer der Gang zu sein. Und er wirkte in diesem Moment nahezu tiefenentspannt, während ich mich an mein Handy klammerte und auf den richtigen Moment wartete, um meinen Vater zu benachrichtigen.

»Das stimmt. Aber wir tun doch trotzdem lieber so, als gäbe es nur eine Möglichkeit, weil die andere für uns unmöglich erscheint. Kennst du sicher auch, oder nicht?«

Mir lief ein Schauer über den Rücken, und seine Worte riefen eine Gänsehaut auf meinen Armen hervor. Sofort dachte ich an mein Studium. Wieso hatte ich das Gefühl, dass er trotz der Entfernung in mein Innerstes sehen konnte? Stalkte er mich? Wollte er sich noch einmal nett mit mir unterhalten, bevor er mich umbrachte? Oder wollte er mich entführen, da ich die Tochter meines Vaters war? Ging es ihm um Lösegeld?

»Ich weiß nicht wovon du redest«, antworte ich kühl und verfestigte den Griff um mein Handy. Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich machen sollte.

Er betrachtete mich einen Moment, dann nickte er. »Okay. Du bist nicht gut auf uns zu sprechen. Verstehe ich. Der Start war ein wenig holprig.«

Ich keuchte auf. Mit einem Mal wurde meine Angst von tobender Wut verdrängt. »Holprig? Ihr habt einen meiner Freunde verprügelt und vor ein paar Tagen mehrere Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt! Holprig ist dafür überhaupt kein Ausdruck! Ich will nichts mit dir und deiner kranken Gang zu tun haben. Sag mir jetzt sofort, was du von mir willst und wieso du mich mitten in der Nacht ansprichst!«

Er nickte langsam. »Es tut mir leid, was passiert ist. Das war alles nicht geplant gewesen. Ich bin hier, um dich davon zu überzeugen, dass wir nicht die sind, für die du uns hältst.«

Ich schüttelte den Kopf, hob mein Handy an und klickte auf den Notfallpass. Die Nummer meines Vaters sprang mir entgegen.

Der Guardian beobachtete jede meiner Bewegungen und stieß sich von der Hauswand ab. Ich zuckte augenblicklich zurück, doch er hob erneut die Hände. »Nur zu, ruf ihn an. Ich bin schon lange weg, wenn er da ist. Und du wirst keine Chance mehr haben die Wahrheit zu erfahren.«

Ich hielt in der Bewegung inne. »Ach ja? Wieso denkst du, dass ich einem Lügner wie dir glaube?«

»Das denke ich nicht, aber ich hoffe es. Die Intention hinter den Guardians ist gut. Die Cops konzentrieren sich nur auf die schlechten Dinge, die mit uns in Verbindung stehen. Wie wäre es mal auf die Guten zu achten? Wir sind nicht die Bösen. Unser einziges Ziel ist es, dort für Gerechtigkeit zu sorgen, wo die Polizei es nicht macht.«

Ich schnaubte, um meine plötzliche Verunsicherung zu überdecken. »Ich habe von keiner guten Tat gehört.«

Er nickte knapp und machte erneut einen Schritt, dieses Mal auch hinten. »Wer so denkt, gibt uns nicht mal eine Chance.«

»Ich vertraue doch keinem, der vor meinen Augen unschuldige Menschen verprügelt«, brauste ich auf und baute mit einem Klick die Verbindung zu dem Handy meines Dads her. Ich hatte genug gehört. Ein langes Piepen ertönte, und ich war beinahe verwundert, dass der Guardian sich nicht auf mich stürzte, als ich das Telefon ans Ohr legte. Ich hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. Es war zwar dunkel, doch trotzdem hatte ich das Gefühl, von seinen Augen in einen Bann gezogen zu werden.

»Ich habe wirklich gehofft, dass du mir glauben könntest. Tut mir leid, dass du es nicht kannst, Grace«, sagte er. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Ein weiteres Piepen ertönte, ein Luftzug ließ mich frösteln, und er war weg.

Vollkommen perplex starrte ich ihm hinterher. »Mir auch«, murmelte ich, als Dads alarmierte Stimme am anderen Ende der Leitung erklang. »Hallo? Grace? Alles okay?«

Innerhalb von Sekunden reagierte ich. Während meine Gedanken mit dem Guardian in der Gasse verschwunden waren, schaltete mein Gehirn auf Autopilot. »Ja, alles super, ich wollte nur...«, fieberhaft suchte ich nach einer plausiblen Ausrede. »Ich wollte nur sagen, dass ich meine Obstsalatschüssel bei dir im Büro vergessen habe.«

»Ähm okay... Sonst alles gut bei dir?«

»Ja, ja, alles gut. Ich wollte es dir nur sagen. Bis bald, gute Nacht.« Nachdem ich aufgelegt hatte starrte ich noch lange in die Gasse. Irgendwann hatte ich das Gefühl, mir die Begegnung nur eingebildet zu haben.

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