Kapitel 20 - Bergab


[COLE]

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit ich Grace in den Arm genommen hatte. Doch inzwischen waren ihre Schluchzer verstummt und ihre Tränen versiegt. Sie bewegte sich nicht, und nur das sanfte heben ihres Brustkorbes versicherten mir, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Jedenfalls nicht um ihren gesundheitliche Zustand.

Mein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch, auf welchem eine angebrochene Schnapsflasche stand. Wie schon zuvor verfluchte ich mich für mein Verhalten. Ich hätte mich zurückhalten müssen. Es hätte nie zu dem Kuss kommen dürfen.

Doch ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass der Kuss so sein würde. Schon bei dem Gedanken daran musste ich schlucken. Graces weiche Lippen, die Rundungen ihres Körpers, ihr Duft... All das hatte mich um den Verstand gebracht, beinahe leichtsinnig werden lassen. Aber wieso? Was hatte sich seit dem ersten Kuss verändert?

Ich hatte Grace seitdem näher kennengelernt. Außerdem hatte sie mich heute mit dem Kuss überrascht und... Ich hatte mich voll und ganz darauf eingelassen, anstatt, wie beim letzten Mal, über andere Dinge nachzudenken.

Glücklicherweise hatte ich genug Disziplin aufbringen können, um uns zu stoppen. Ich hätte es mir nie verzeihen, wenn ich jetzt mit Grace geschlafen hätte, während sie unter dem Einfluss von Alkohol stand und es ihr offensichtlich nicht gut ging.

Mit sanften Kreisen fuhr ich über Graces Rücken und strich ihr mit der anderen Hand einige ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Arme lagen um meinen Hals, und ihr Kopf an meiner Brust. Sie starrte auf das Sofapolster, ihre Beine hatte sie auf meinem Schoß angezogen.

Ich blickte mich erneut in der Wohnung um, welche zwar klein, aber gemütlich eingerichtet war. Die Decken waren hoch, der Fußboden aus braunen Dielen und alle Möbel in hellen Tönen gehalten. Ich entdeckte zwar keine Uhr, doch ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu wissen, dass es mitten in der Nacht war.

Ich versuchte das ungute Gefühl, welches sich in mir breitgemacht hatte seit ich zu Grace aufgebrochen war, zu unterdrücken. Die anderen kamen schon zurecht. Wir waren öfter in kleinerer Besetzung unterwegs gewesen. Und in diesem Moment war es mir wichtiger, mich um Grace zu kümmern, als als Guardian unterwegs zu sein. Die Jungs schafften das schon. Und dieser Aussetzer von mir war eine einmalige Sache. Es war eine Notsituation.

Mein Blick blieb an dem Fernseher hängen, auf welchem das Standbild von vorhin inzwischen verschwunden war.

»Was hast du geschaut?«, fragte ich leise, und endlich regte sich Grace, wenn auch nur minimal. Sie wandte den Kopf, um ebenfalls zum Fernseher sehen zu können.

»Meine Lieblingsserie. Sherlock.« Ich hörte das müde Lächeln aus ihrer Stimme heraus und zog sie unwillkürlich ein wenig näher an mich heran. Der Titel sagte mir nicht wirklich viel, außer, dass ich einen Plan für die nächsten Stunden hatte. »Und du meinst die Serie ist sehenswert?«

Grace sah zu mir auf und mein Herz wurde schwer, als ich ihre roten Augen sah. Sie lächelte erschöpft. »Das ist sonst eine Bildungslücke.«

Ich wiegte den Kopf hin und her und zwang mich, den Blick von ihren Lippen zu lösen. »Na dann muss ich ihr wohl eine Chance geben.«

Bevor ich reagieren konnte, löste Grace sich aus meiner Umarmung und beugte sich vor, um nach der Fernbedienung zu greifen. Sie betätigte einen Knopf, der Fernseher leuchtete auf, und die Serie begann. Sie heilt inne und sah mich unsicher an. »Also, natürlich nur, wenn du noch bleiben willst...«

Ohne zu antworten zog ich Grace erneut an mich und ließ mich auf dem Sofa nach hinten sinken. Sie kuschelte sich nach kurzem Zögern an meine Brust, und ich schloss die Augen, als ich ihren Duft einatmete. Dann versuchte ich mich mit aller Kraft auf die erste Folge zu konzentrieren und mich nicht von Graces Nähe ablenken zu lassen. Doch als sie irgendwann zu sprechen begann, wurde mir bewusst, dass alle meine Sinne ununterbrochen auf sie ausgerichtet waren.

»Mein Vater hat herausgefunden, dass ich ihn angelogen habe und in der Nacht mit den Guardians dabei gewesen bin.«

Mit einem Schlag war ich hellwach und verspannte mich kaum merklich. Diesen Namen aus ihrem Mund zu hören versetzte mich automatisch in Alarmbereitschaft.

»Und ich habe erfahren, dass meine Mutter jegliche Form von Privatsphäre nicht kennt und mir in der Uni hinterher spioniert.«

Ich spürte Wut in mir aufsteigen und atmete tief durch, um mich zu beruhigen. »Das tut mir leid«, sagte ich schließlich und neigte den Kopf, um sie ansehen zu können.

»Ich habe meiner Mutter gedroht, das Studium zu schmeißen, und bin weggefahren«, fuhr Grace monoton fort, und ich hielt überrascht inne. Ich wusste, dass Grace stark war, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so schnell gegen ihre Mutter stellen würde. »Gott, ich war... bin... so wütend auf sie. Aber ich weiß nicht, ob es ein Fehler war, ihr das persönlich gesagt zu haben.«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn irgendwer einen Fehler gemacht hat, dann deine Mutter, weil sie sich so in dein Leben einmischt. Und weil sie dich so behandelt. Du hast alles richtig gemacht, und vielleicht begreift sie es jetzt.«

»Ja, vielleicht«, murmelte Grace, nicht sonderlich überzeugt, und seufzte leise. Ich wusste nicht mehr was ich sagen sollte, also strich ich ihr leicht über den Arm. Grace erstarrte unter der Berührung, dann lehnte sie sich mir entgegen. Ich hielt die Luft an und spürte, wie mir warm wurde.

So gut ich konnte konzentrierte ich mich auf die Serie, in der Sherlock, die Hauptperson, gerade einen Tatort inspizierte. Mehrere Minuten verbrachten wir schweigend auf der Couch, dann, plötzlich, sprach Grace erneut. Nur leise, doch da ich vollkommen auf sie fokussiert war, verstand ich sie.

»Schreiben.«

Ich schaute auf sie herab, während ich versuchte, aus dem einen Wort schlau zu werden.

»Du hast mich in der Stadt gefragt, ob ich meinen Traum lebe«, fuhr sie leise fort. »Tue ich nicht. Aber ich würde gerne. Ich liebe es zu schreiben und mein Traum ist es, irgendwann davon leben zu können.«

Ich hielt inne und musste automatisch lächeln, als Grace unsicher zu mir aufblickte.

»Das passt zu dir«, antwortete ich und meinte die Worte ernst. »Ich bin mir sicher, dass du deinen Traum verwirklichen wirst. Ich bin für dich da, falls du darüber reden willst. Oder überhaupt.« Ich verstummte und fühlte mich augenblicklich schlecht für meine Worte. Sie kamen aus tiefstem Herzen, doch es waren leere Worte. Wie sollte ich für sie da sein, wenn das hier irgendwann vorbei war? Wenn die Jungs und ich einen Fehler machten, wenn ihr Vater uns fasste, wenn sie die Wahrheit über mich erfuhr... Glücklicherweise bekam Grace nichts von meinem Gedankenchaos mit.

»Danke. Ich habe noch niemandem davon erzählt«, murmelte sie leise und atmete angespannt aus. Ich konnte förmlich spüren, wie schwer ihr diese Worte gefallen waren, und hoffte inständig, dass nicht der Alkohol aus ihr gesprochen hatte.

»Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast«, erwiderte ich ebenso leise. Ich wusste nicht, ob Grace klar war, wie viel es mir bedeutete, dass sie mir ihr Geheimnis anvertraut hatte. Ich hatte das Gefühl, mit ihr im Gegenzug eines meiner Geheimnisse teilen zu müssen, doch das konnte ich nicht.

Gerade als ich mich wieder auf die Serie konzentrieren wollte, mischte sich unter die Geräusche, die aus dem Fernseher drangen, ein Summen. Grace schreckte auf und sah sich suchend um, sodass mein Arm von ihrer Hüfte rutschte. Ich richtete mich ebenfalls auf, und das ungute Gefühl von vorhin übernahm die Kontrolle.

Grace hatte inzwischen ihr Handy gefunden, welches auf dem Couchtisch gelegen hatte, und starrte auf den Bildschirm. Erst jetzt fiel mir ein, wie lange ich nicht mehr auf mein eigenes geschaut hatte. Es befand sich in der Tasche meiner Jacke, die ich vorhin schnell über irgendeinen Stuhl geworfen hatte.

Ich widerstand dem Drang aufzustehen und sah zu Grace, die perplex ihr Handy sinken ließ.

»Was ist los?«, fragte ich alarmiert, als ich ihren Gesichtsausdruck sah. Sie blinzelte mehrmals und blickte mich perplex an. »Das war mein Dad. Er will vorbei kommen.«

Ich erstarrte und musste mich zusammenreißen, um nicht augenblicklich die Wohnung zu verlassen. Scheiße. Er durfte mich nicht sehen. Denn auch, wenn sie keine Gesichter zu den Guardians kannten, war eine Begegnung viel zu riskant. Aber ich konnte auch nicht einfach verschwinden. Nicht ohne eine einigermaßen plausible Erklärung.

»Hey, warum schaust du so. Angst, dass mein Vater dich verhaftet?«, scherzte Grace, und ich fiel gezwungenermaßen  in ihr Lachen mit ein.

Wenn du wüsstest...

Trotz ihres Grinsens konnte ich die Verwirrung auf Graces Gesicht erkennen. Ich kannte mich nicht sonderlich gut mit Vätern aus, doch es erschien mir nicht normal, dass sie ihren Töchtern mitten in der Nacht einen Besuch abstatteten. Vor allem, wenn sie Cops waren.

»Ich frage mal was los ist«, verkündete Grace, und ich nutzte die Chance, um mich zu erheben. Sie hob den Kopf, und ich deutete erklärend in die Küche. »Ich hole mal kurz mein Handy.«

Während ich einige Sekunden später mein Telefon aus der Jackentasche zog, erklang Graces Stimme aus dem Wohnzimmer. »Dad wollte wissen, ob bei mir alles in Ordnung ist. Irgendetwas ist heute Nacht passiert. Es hat mit den Guardians zu tun.«

Fuck.

Mein Herz begann zu rasen, und mir wurde gleichzeitig heiß und kalt. Mit einem Ruck zog ich mein Handy aus der Tasche, meine Jacke fiel auf den Boden, und der Stuhl begann bedrohlich zu wackeln. Nichts davon drang zu mir durch. Einzig und allein die Mitteilungen auf meinem Bildschirm erhielten meine volle Aufmerksamkeit und ließen meinen Atem stocken.

Ich hatte unzählige Anrufe von Joel und Zac. Doch was mir ins Auge stach, war die neueste Nachricht, die erst vor wenigen Minuten eingetroffen war. Und sie sorgte dafür, dass mir das Blut in den Adern gefror. 

Joel: Luc ist verletzt. Wir brauchen dich hier in der Wohnung. Sofort. Jacob ist vollkommen durchgedreht.

Luc ist verletzt.

Luc. Ist. Verletzt.

Als ich mein Handy sinken ließ, schoss mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf, ununterbrochen und unglaublich ehrlich.

Das ist alles meine Schuld.

Meine Kehle war wie zugeschnürt, ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen, und mir wurde übel. Mein Körper schaltete in den Automatikmodus, und ich riss mich krampfhaft zusammen. Ich durfte nicht durchdrehen. Ich konnte nicht durchdrehen. Nicht heute. Nicht jetzt. Und vor allem nicht hier.

Cole: Bin auf dem Weg.

Ich hob mechanisch meine Jacke auf, griff in die Tasche und spürte den kühlen Autoschlüssel zwischen meinen erhitzten Fingern. Mit großen Schritten lief ich auf die Wohnungstür zu, zog meine Schuhe an und Sekunden später umfasste meine Hand die Türklinke. Nur Graces Stimme hinderte mich daran, sie hinunter zu drücken. »Alles okay? Was ist los?«

Ich schloss für einen Moment die Augen. Während die Sorge um Luc mich verrückt werden ließ, war ich mir in einer Sache plötzlich so sicher wie nie zuvor. Ich wandte mich um, nahm Graces Anblick noch einmal in mir auf. Ihr besorgter Gesichtsausdruck, die roten Haare, welche ich vorhin durcheinander gebracht hatte, das zerknittertes weiße Shirt, ihre wunderschönen grünen Augen. Ich würde sie nie vergessen können. Doch das musste ich auch nicht. Ich ließ Grace zwar hinter mir, doch ich behielt die Erinnerungen an sie. Denn jene waren das einzige, was mir niemand nehmen konnte. Sogar ich selbst nicht.

»Tut mir leid, ich wäre gerne noch geblieben, aber Luc braucht mich. Kommst du alleine klar?« Meine Stimme klang so gefasst, dass ich mir die Worte selbst abgekauft hätte.

Grace nickte, immer noch besorgt. »Ja, sicher! Ich hoffe das mit Luc ist nicht allzu schlimm. Sag Bescheid, wenn ich etwas für euch tun kann, okay?«

Ich nickte und lächelte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor ich durch die Tür trat und sie hinter mir schloss. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich bei Grace melden würde, war genauso gering, wie die, dass ich noch einmal durch diese Tür trat.

Ich ignorierte jegliche Verkehrsregeln und hielt zwanzig Minuten später vor dem Hausblock, in dem sich Lucs und meine Wohnung befand. Als ich mit quietschenden Bremsen auf dem Parkplatz stoppte, fuhr gerade ein Krankenwagen vom Hof.

Scheiße.

Hatten sie ihn nach Hause gebracht oder wieder abgeholt?

Ich sprang aus dem Wagen, hastete zur Haustür und dann die drei Stockwerke bis nach oben. Unsere Wohnungstür war nur angelehnt. Tiefe Stimmen drangen durch den Spalt zu mir hinaus. Also waren alle hier.

Mein Atem ging unregelmäßig von dem Sprint, doch das war mir egal. Ich drückte die Tür auf, schloss sie wieder hinter mir und lief ins Innere der Wohnung. Vom Esstisch aus blickten mir drei Augenpaare entgegen. Ich ignorierte sie und sah mich suchend um. Ich wurde immer nervöser, meine Hände waren eiskalt, obwohl ich schwitzte.

Wo war Luc?

»Da bist du ja«, wetterte Jacob und sprang mit solch einer Wucht auf, dass der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, geräuschvoll zu Boden knallte. Jetzt hatten die drei meine Aufmerksamkeit.

»Jacob«, warnte Joel und erhob sich ebenfalls. Er wirkte müde, sein Blick zuckte von einem zum anderen, und seine Brille saß schief auf der Nase. Hinter ihm konnte ich Zac erkennen. Er saß am Tisch und starrte auf seine Finger, die, genauso wie seine Kleidung, blutrot waren. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Oh, verdammt.

»Scheiße«, entfuhr es mir, obwohl dieses Wort nicht annähernd beschrieb, was ich in diesem Moment fühlte. »Wo ist er?« Ruhelos blickte ich mich um, und stürmte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, in Lucs Zimmer. Es wurde nur durch das Licht einer Nachttischlampe erhellt.

»Hey.«

Ich sah ruckartig zum Bett und erblickte meinen besten Freund. Er hatte Schürfwunden im Gesicht, sein rechtes Auge war angeschwollen, und an seinem Hals konnte ich die Überbleibsel eines Würgegriffs erkennen.

»Hey«, stieß ich ebenfalls hervor und fuhr mir aufgewühlt durch die Haare. Wortlos starrte ich ihn an. Mir gingen tausend Wörter durch den Kopf, doch ich konnte keines von ihnen fassen und einen sinnvollen Satz bilden.

»Was auch immer die anderen sagen; Es ist nicht deine Schuld.« Lucs Stimme klang rau, und er griff umständlich nach der Wasserflasche, die neben dem Bett stand. Durch die Bewegung rutschte die Decke herunter, und ich sah den Verband an seiner rechten Hand und den großen Bluterguss auf der nackten linken Schulter.

»Alter...« Mir versagte die Stimme, ich schüttelte den Kopf und riss mich zusammen. »Es tut mir leid, Luc. Es tut mir so leid...« Ruhelos fuhr ich mir erneut durch die Haare und anschließend übers Gesicht. Ich konnte es nicht glauben. Das durfte einfach nicht wahr sein. Doch als ich meine Hände fallen ließ, lag Luc immer noch vor mir. Und die Würgemale an seinem Hals waren nach wie vor zu sehen, genauso wie alle anderen Wunden, die mich daran erinnerten, was für ein schlechter Mensch, was für ein schlechter Freund, ich war. »Luc, ich...«

Luc ließ die Wasserflasche sinken und sah mich ruhig an. In seinen Augen konnte ich Mitleid erkennen, und mir wurde schlecht. Wenn jemand Mitleid verdiente, dann er. Was auch immer geschehen war, ich war nicht da gewesen. Ich hatte es nicht verhindern können, und genau das, was ich immer gefürchtet hatte, war eingetreten. Dass meine Freunde bei der Arbeit als Guardians, die ich ins Leben gerufen hatte, denen sie mir zuliebe beigetreten waren, verletzt wurden. Mein größter Alptraum war wahr geworden, weil ich nicht mehr hundertprozentig dabei gewesen war. Weil ich mich hatte ablenken lassen. Ich hatte versagt. Ich hatte meine Freunde im Stich gelassen. Meinen besten Freund.

Doch das war das erste und letzte Mal. Ich erhob mich und wandte den Blick ab. Ich konnte Luc nicht in die Augen sehen. Stattdessen betrachtete ich den großen Wandspiegel gegenüber vom Bett, seine vielen Pflanzen, die Sneakersammlung auf dem Schrank und die Kleiderstange. Alles war besser als Luc so zu sehen.

»Cole? Das hätte jedem von uns passieren können. Ich hatte einfach Pech.«

Lüge. Ich nickte langsam und sah zur Tür. Ich musste hier raus.

»Kann ich dir irgendwas bringen?« Ich sprach eher zur Wand, als zu Luc.

»Nein. Ich glaube ich versuche zu schlafen. Aber danke.« Ich hörte die unausgesprochenen Worte heraus. Luc wollte mit mir sprechen, aber wir beide wussten, dass ich nicht bereit dazu war.

Ich nickte und brachte ein »Okay, sonst sag einfach Bescheid«, hervor, bevor ich das Zimmer verließ und die Tür hinter mir schloss.

Als ich die Küche wieder betrat, war Jacobs Stuhl aufgestellt worden, und Joel lehnte nun an der Küchenzeile. Ich ließ mich auf einen der Stühle gegenüber von Zac sinken und amtete tief durch. »Was ist passiert?«

»Was passiert ist?«, brauste Jacob auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er hatte nur darauf gewartet, dass ich diese Frage stellte. »Du warst nicht da, du Arschloch!«

Der aggressive Unterton in seiner tiefen Stimme brachte mich dazu, sofort wieder aufzustehen. Über den Tisch hinweg starrte Jacob mich an, seine Augen blitzten vor Wut.

»Es gab eine Massenschlägerei in den Stains«, ging Joel dazwischen, und ich wandte mich zu ihm um. Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er seine Brille richtete und sich räusperte. »Ich habe noch etwas über den Typen herausgefunden, der uns auf die falsche Fährte gelockt hat mit der angeblichen Party. Er war nur ein Überbringer. Wir wussten nicht, ob dieser Konflikt heute Nacht etwas mit Blade Lane zu tun haben könnte, da auch einige Straßenbanden dabei gewesen waren. Die Jungs sind trotzdem hin gefahren, und dann ist alles ausgeartet. Die Polizei war auch da.«

Ich sog scharf die Luft ein, und meine Muskeln spannten sich an, doch Joel hob beruhigend die Hände. »Sie sind noch davongekommen.« Er warf Zac und Jacob einen kurzen Blick zu, bevor er in den Flur zu Lucs Zimmer deutete und die Stimme senkte. »Naja, fast. Luc hat es härter erwischt als die anderen.«

»Er meinte ja wieder alles schlichten zu müssen, der Idiot«, spukte Jacob aus und fuhr sich unwirsch durch die schwarzen Haare.

»Und du meinst deine Taktik ist besser gewesen?«, fragte Joel, und ich richtete mich langsam auf. Irgendetwas wusste ich noch nicht.

Jacob starrte Joel an und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Alter, du hast hier nichts zu melden. Wer nie persönlich dabei ist, kann absolut nichts beurteilen. Halt dich gefälligst da raus...«

Joel schnaubte und seine Stimme wurde lauter. »Komm schon, Mann, mach uns nichts vor. Du hast es heute übertrieben, und das weißt du!«

»Hör auf mit der Scheiße«, donnerte Jacob und seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Hey!« Ich machte einen schnellen Schritt nach vorne und stellte mich Jacob in den Weg. Er war außer sich vor Wut, die nun ganz allein mir galt. Er sah mich aus seinen funkelnden schwarzen Augen an, das Gesicht wütend verzogen. »Wärst du nicht bei deiner Schlampe gewesen, wäre all das nicht passiert!«

»Und wenn du endlich mal dein Aggressionsproblem und deinen scheißverdammten Stolz unter Kontrolle hättest, würden wir nicht hier sitzen!« Ich ließ überrascht meine erhobene Faust sinken, wir alle verstummten und drehten uns zu Zac um. Bis jetzt hatte er nichts gesagt, doch nun war er aufgestanden. Er hatte sich auf den Tisch gestützt und funkelte Jacob an.

Ich hatte ihn noch nie so erlebt. So voller Hass und Abscheu. Jetzt konnte ich sehen, dass auch er einiges abbekommen hatte. Sein Shirt war zerrissen, und seine Arme von einigen Blutergüssen überzogen.

»Du willst Cole die Schuld zuschieben, weil du selbst nicht zu der Scheiße stehen kannst, die du verbockst«, fuhr er mit vor Wut zitternder Stimme fort und richtete sich auf. »Wie bei der Sache mit dem Typen vom Kampfverein. Wegen dir hat Cole überhaupt Kontakt zu Grace aufnehmen müssen. Er badet alle deine dummen Fehler aus, und das ist dein verschissener Dank dafür?« Er fuhr sich unwirsch durch die Haare und hob die Hand, als Jacob ihn unterbrechen wollte. »Deine Aktion war so bescheuert! Ich habe immer gedacht, du bist nicht so, wie es scheint. Aber das heute war der verdammte Beweis. Du bist nur bei den Guardians, weil du eine Quelle brauchst, um deine Wut und deinen Hass auf dich selbst an andere auszulassen!«

»Fick dich! Du hättest es genauso gemacht, nur, dass du dich ohne die Erlaubnis von deinem heiligen Cole nichts traust«, brüllte Jacob, doch Zac unterbrach ihn mit ebenso donnernder Stimme. »Komm mir nicht damit! Ich habe dir gesagt, dass du dich verdammt nochmal zurückhalten sollst. Und es war dir scheißegal. Du hattest regelrecht Spaß daran, dich in die Schlägerei zu stürzen und deine Wut auf die verfickte Welt rauszulassen! Und jetzt denken alle, dass die Guardians irgendwelche Schlägertypen sind, die andere Menschen krankenhausreif prügeln!«

»Der Typ hat angefangen«, wetterte Jacob und wollte mich zur Seite schubsen, doch ich hielt ihn mit einem Stoß gegen die Brust davon ab. Ich wollte nicht glauben, was ich gerade hörte.

»Das ist kein Grund ihm verdammt nochmal fast das Genick zu brechen!«, brüllte Zac und schob seinen Stuhl mit solch einer Wucht gegen den Tisch, dass er umfiel.

»Du verdammter Wichser...« Jacob wollte auf Zac losgehen, doch ich versperrte ihm erneut den Weg und deutete zur Tür. Ich hatte genug gehört. »Du solltest gehen.«

Jacob sah wutentbrannt zu mir auf, Adern traten an seinem Hals hervor, und sein Gesicht lief rot an.

»Fickt dich«, spie er mir ins Gesicht und macht einen Schritt zurück. Mit einer schnellen Bewegung fegte der die Gläser vom Tisch, woraufhin sie mit einem lauten Scheppern auf dem Boden zerschellten. »Fickt euch alle!« Seine Stimme hallte durch die Wohnung, und ich war mir sicher, dass inzwischen das ganze Haus von unserem Streit mitbekommen hatte.

»Du hast sie doch nicht mehr alle!«, brüllte Zac ihm hinterher, doch ich schüttelte nur den Kopf und beobachtete Jacob dabei, wie er die Haustür aufriss und mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen ließ. Die folgende Stille war mit einem Mal ohrenbetäubend laut. Zac sackte auf einem andere Stuhl zusammen und starrte auf die Scherben. »So eine dreckige Scheiße...«

Joel öffnete die Tür unter der Spüle und holte einen Handfeger heraus, doch ich stoppte ihn. »Lass mal, ich mache das nachher.«

Joel nickte knapp, dann lehnte er sich wieder an den Tresen. Seufzend sah ich von ihm, zu Zac, und wieder zurück. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war. Das wird nie wieder passieren, ich schwöre es euch.« Ich meinte meine Worte ernst. Die heutige Nacht hatte mir gezeigt, dass es unmöglich war, ein erfülltes Leben als Cole und als Guardian zu leben. Ich musste mich entscheiden welches ich priorisierte. Und die Antwort darauf war eindeutig. 

»Schon okay. Wir verstehen das«, murmelte Joel und klopfte mir auf die Schulter, während er an mir vorbei ging. »Ich habe morgen früh eine Klausur und muss noch lernen. Wir sehen uns.«

Ich nickte und beobachtete, wie Joel zur Tür ging. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Die vom Notdienst glauben übrigens, dass Luc in eine einfache Schlägerei verwickelt war. Sie werden keine weiteren Fragen stellen.«

Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu und verabschiedete mich. Als die Tür hinter ihm ins Schoss gefallen war, wandte ich mich an Zac. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt wie heute. Und ich fühlte mich schlecht dabei, dass er mich in Schutz genommen hatte. Ich hatte schließlich auch ihn im Stich gelassen. »Zac...«

»Lass gut sein für heute«, unterbrach er mich entschuldigend und erhob sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ist einfach scheiße gelaufen. Passiert.«

Ich stand ebenfalls auf und deutete auf das Sofa. »Du kannst hier pennen.«

Ich konnte mir vorstellen, dass Zac seinem Vater in diesem Zustand nicht unter die Augen treten wollte. Und das mindeste was ich tun konnte, war, ihm einen Wohnort anzubieten. Zac zögerte einen Moment, dann gab er sich einen Ruck und nickte. »Danke.«

Ohne mich anzusehen schlurfte er ins Bad. Ein paar Sekunden später hörte ich, wie das Wasser aufgedreht wurde. Ich fuhr mir mit den Händen übers Gesicht und schloss die Augen.

Innerhalb einer Stunde war alles zerstört worden. Ich wusste noch nicht, was dieses Ereignis mit uns allen gemacht hatte, was es an der Beziehung zu meinen Freunden verändert hatte, doch in einem Punkt war ich mir sicher. Nie wieder würde ich meine Freunde so im Stich lassen.

Jetzt, wo ich alleine war, wurde ich von meinen Gedanken eingeholt. Das Kapitel mit Grace war beendet. Es war zu schön gewesen um wahr zu sein, es war eine neue und einzigartige Erfahrung gewesen. Doch das Ende hatte alles zerstört und überlagerte die Erinnerungen an die vorigen Zeiten. Ich hatte diesen Rückschlag schon einmal erleben müssen. Damals hatte ich es nicht verstanden, hatte nicht verstehen wollen, warum ausgerechnet sie sterben musste. Warum mein Vater mich verlassen hatte. Warum es immer mich traf.

Jetzt sah ich es als eine Lektion des Lebens. Ich lernte daraus. Ich hatte mich gehen lassen, hatte gedacht, dass ich beides haben könnte, Grace und die Guardians. Doch das stimme nicht. Immer, wenn alles perfekt war, musste man sich darauf gefasst machen, dass es wieder bergab gehen konnte. Ich war vor wenigen Stunden auf dem Hoch der Welle gewesen, doch dann hatte mich die Kraft des Wassers hinuntergerissen und unter die Oberfläche gezogen. Damit war jetzt Schluss. Ich würde es nicht mehr zulassen, auf das Hoch der Welle zu kommen. Ab jetzt hielt ich mich unter Wasser auf. Dann war der nächste Fall nicht so tief.


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Hellöchen, ich hoffe euch geht's soweit gut!

Was habt ihr heute noch so vor? 👀

Ich habe mir für heute noch vorgenommen, an meinem aktuellen Projekt weiter zu schreiben - (vielleicht mache ich es ja eher, wenn ich hier davon erzähle 🤭😂)

Ich wünsche euch noch einen schönen Tag, wann auch immer ihr das hier lest ❤️

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