-𝕋𝕨𝕖𝕟𝕥𝕪 𝕆𝕟𝕖-
Es gibt da so zwei Menschen, denen ich momentan aus dem Weg gehe.
Zum einen wäre da Eliya, bei der ich nicht weiß, wie ich zu ihr stehe. Sie hat mich vor ihrem Bruder verteidigt und kennt die Wahrheit. Aber kann ich ihr wirklich trauen?
Sie könnte jeder x-beliebigen Person davon erzählen und das macht sie zu meinem Staatsfeind Nummer eins, auch wenn sie vielleicht gut mit ihren gesammelten Informationen umgeht.
Dann wäre da noch Tristan. Natürlich weiß ich, dass ich nicht ewig das Thema 'Liebe' vermeiden kann, aber ich werde es versuchen, solange es mir möglich ist.
Es ist mir lieber, seine Worte unerwidert zu lassen. Ich kann mit solchen Dingen einfach nicht gut umgehen und die Angst, dass ich das zwischen uns zerstöre - dass ich ihn zerstöre - nagt sehr an mir.
Ich will ihn schlichtweg nicht verlieren, ob das verständlich ist oder nicht, sei mal dahin gestellt.
Versucht, meinen Atem zu regulieren, bringe ich meine Beine dazu, mich Meter um Meter weiter nach vorne zu bringen.
Meine Laufschuhe, die nur noch davon berichten können, irgendwann mal weiß gewesen zu sein, kommen immer wieder in mein Sichtfeld, bei jedem Mal, das ich einen Schritt nach vorne mache.
Die graue Strickjacke, deren Kapuze aufgrund des Lauftempos auf meinem Kopf auf- und abhüpft, hält nicht gerade warm, obwohl man anhand der Tatsache, dass Laufen eigentlich warm halten sollte, meinen könnte, dass mir nicht kalt sein dürfte.
Na ja, Mitte September kann man auch nicht erwarten, dass Strickjacken noch warm halten, vor allem nicht, da es zusätzlich zu den Wolken, die die wärmende Sonne verdecken, auch noch regnet.
Genau weiß ich selbst nicht einmal, was mich rausgetrieben hat, aber ich hatte es definitiv nötig.
Das gute an meinem Gehirn ist, dass es Erinnerungen speichern kann. Und wenn es Momentaufnahmen speichert, tut es das auch mit Musik. Das ist vor allem beim Laufen praktisch - keine ätzenden Kabel, bei denen die Gefahr besteht, über sie zu stolpern oder sich an ihnen zu strangulieren.
Bei meinem Glück schaffe ich natürlich auch beides gleichzeitig.
Der Boden um mich herum ist aufgrund des Regens schlammig und ich muss darauf achten, nicht auszurutschen, was mir die Kopfhörer ja noch erschwert hätten.
Da ich es im Übrigen bevorzuge, nachts joggen zu gehen, strahlt nur vereinzelt der Mond hinter den Wolken hervor, angeleuchtet vom nächsten Stern.
Mich fasziniert dieses Bild so sehr, dass mein Gesicht fast Bekanntschaft mit einem Baum macht, der da zwei Sekunden zuvor definitiv noch nicht gestanden hat. Halb so wild, ich habe mich schon so vielen Bäumen vorgestellt, ein weiterer wird wohl kaum irgendetwas verändern.
Außer, dass meine Schlafzimmer- und womöglich auch die Schranktür eifersüchtig werden, aber daran will ich jetzt lieber nicht denken.
Warum komme ich mir vor, als hätte ich mein Gehirn mittels Betäubungsmittel gelähmt?
Keine Ahnung. Habe ich jedenfalls nicht. Tristan ist schon Droge genug, da brauche ich keine billigen Nachahmen.
Wenigstens ist es durch den Regen still genug, dass ich die Ausstrahlung der Bäume hören kann, die mir anscheinend irgendetwas vermitteln wollen.
Was genau, kann ich beim besten Willen nicht herausfinden, aber bin in jedem Fall versucht.
So langsam komme ich auch wieder in Richtung unseres Hauses und ersetze den schlammigen, rutschigen Boden durch Betonstraßen mit mehr Schlaglöchern als ein Schweizer Käse.
Warum bezahlen wir nochmal Steuern? Richtig, damit die Regierung die Schlaglöcher nicht auffüllt, ist doch logisch.
Als ich die Auffahrt hinauflaufe, bemerke ich, dass die Beleuchtung der Veranda mittels Bewegungsmelder angeschaltet ist, aber Maryse ist lange nicht mehr wach.
Wer sollte denn um diese Teufelszeit noch vor unserer Haustür stehen?
Dann erkenne ich die Lösung des Problems - oder eher dessen Ursprung - in Form eines honigblonden Jungens, der unschlüssig auf Maryse' Veranda steht.
Noah.
"Was machst du denn hier, Noah?", will ich wissen und ziehe mir die nasse Kapuze vom Kopf.
Er dreht sich um und stammelt irgendetwas von reden, was mich ihn anschweigen lässt.
"Dann rede", erwidere ich, als ich die Überraschung in einem kleinen Loch im Boden versteckt habe, was ihn wiederum erneut zum Stottern bringt.
"Wenn es nichts zu sagen gibt - oder zumindest nichts, das ich in der Lage bin, zu verstehen -, solltest du jetzt gehen." Es wäre so viel einfacher, wenn er verschwinden würde. Wahrscheinlich füge ich deshalb nachträglich noch hinzu: "Du bist hier nicht wirklich willkommen."
Er muss sich jedoch erst für eine Antwort sammeln, weshalb ich mir durch die Haare fahre, nur, um festzustellen, dass sie - genau wie meine Jacke - völlig durchnässt sind.
Klar, es regnet, macht Sinn, dass sie dann nass sind.
"Carter, ich war nicht ganz ehrlich zu dir", sagt er irgendwann, als er seine Stotterprobleme beseitigt hat.
Irgendwas an der Art, wie er diese Worte ausspricht, lässt sämtliche Alarmsirenen in meinem Gehirn schrillen - und das sind wirklich viele.
Vielleicht weise ich deshalb auf die Tür; es stellt sich letztlich nicht als meine beste Idee heraus, aber wir können ja auch nicht den ganzen Tag - oder eher die ganze Nacht - vor der Haustür stehen bleiben, vor allem nicht, wenn es regnet.
Auf der Veranda, dessen Holz trotz der Überdachung ziemlich nass ist, ziehe ich meine schlammigen Schuhe aus, die parallel zur Fußmatte, also neben der Tür, zum Stehen kommen.
Noah zieht ebenfalls seine Schuhe aus und folgt mir ins Innere des Hauses, wo wir uns direkt auf den Weg die Treppe nach oben machen.
Um das große Haus, in dem ich, soweit ich mich erinnern kann, aufgewachsen bin, hat sich eine unheimliche Stille ausgebreitet, die wie ein böses Ohmen in der Luft hängt und jegliche Freude zu verschlucken scheint.
Irgendwie mag ich die Stille, aber das kann auch daran liegen, dass sie immer herrscht, sobald der rote Feuerball - unser Muttergestirn - hinter dem Horizont verschwunden ist und Dunkelheit durch die Straßen dieser Stadt kriecht.
Schweigend und nervös auf der Stelle herumtretend, steht Noah vor meinem Bett - auf das ich mich im Übrigen gesetzt habe - und hat allem Anschein nach keine Ahnung, wie er dieses Gespräch beginnen soll.
Da er keine Anstalten macht, in den nächsten Minuten mit mir zu reden, sondern viel eher mentale und non-verbale Gespräche mit der Luft zu führen scheint, ziehe ich erst meine Jacke, dann mein T-Shirt aus, um die Sachen durch einen viel gemütlicheren - und trockenen - Pullover zu ersetzen, sodass nur noch die Jogginghose nass ist.
Normalerweise finde ich den Stoff von Jogginghosen unangenehm, vor allem in Zusammenhang mit einem Tag auf der Couch. Aber zum Sporttreiben ist der leichte Stoff gut zu gebrauchen, man kommt vorwärts und hat eine angemessene Beinfreiheit.
Da es sowohl für Noah als auch für mich unangenehm wäre, wenn ich hier die Hose wechseln würde, nehme ich eine schwarze Jeans mit ins Bad und ziehe mich dort um, während Noah immer noch am Überlegen ist, was er sagen kann und was er vermeide sollte, auszusprechen.
Als ich wiederkomme, scheint ihm etwas eingefallen zu sein. "Ein 'es tut mir leid' wäre wahrscheinlich zu wenig. Aber vielleicht kann ich ja damit anfangen. Es tut mir wirklich leid, Carter." Er rauft sich kurzzeitig die Haare und sieht mich dann wieder an. "Ich war dumm, bin es noch immer, aber ich habe gelernt, zu akzeptieren.
Was geschehen ist, ist geschehen und daran kann man jetzt auch nichts mehr ändern. Das ist in Ordnung, ist es wirklich. Und für den Fall, dass du wirklich schwul - oder was auch immer - sein solltest, ist das okay für mich, wenn du damit zurecht kommst." Unsicher sieht er mich an und ich bin mir selbst nicht mehr so sicher, was ich tun soll.
Letztlich entscheide ich mich für ein einfaches Nicken.
Hätte er nicht weiter geredet, wäre alles wahrscheinlich schön und gut gewesen, ich hätte ihm vielleicht verziehen und ihn nicht auf ewig gehasst.
Nur leider muss er alles zerstören.
"Es ist nur so, dass ..." Er überlegt und ich setze mich wieder aufs Bett, meinen nach außen hin völlig neutralen Blick auf ihn gerichtet.
"Du kennst doch Daniel, oder?"
Ich nicke; ja, Daniel Morgan, Noahs bester Freund, Schotte, rote Haare, graue Augen. Mehr gibt es über ihn nicht zu wissen, außer, dass er pansexuell ist, aber das ist eigentlich nicht so wichtig.
Gespannt darauf wartend, was Daniel mit seinem ungerechten, ja nahezu diskriminierenden Verhalten mir gegenüber zu tun hat, schweige ich weiter.
"Jedenfalls ... wie sage ich das am besten? Daniel ist ... er ist pan. Und ... vielleicht- Ach keine Ahnung. Ich bin nicht homophob, Carter, das musst du mir glauben", beteuert er letztlich, was mich kurz Schnauben lässt - das Nicken ausgenommen meine bisher einzige Reaktion.
Es hätte, wie gesagt, gereicht, wenn er es bei der Entschuldigung belassen hätte.
Aber dass er jetzt Daniel da mit reinzieht, um zu beweisen, dass er nicht homophob ist - was ich ihm für einen ganz kurzen Moment sogar abgekauft habe -, das ist unter aller Würde, wirklich.
"Und ...", will er beginnen, doch ich unterbreche ihn.
Mit verschränkten Armen ziehe ich die linke Augenbraue hoch. "Und du denkst, er würde auf dich stehen. Pardon, du weißt es."
Das ist doch in Ordnung, hat er nicht gerade gesagt, dass homosexuelle Menschen - was pansexuelle Menschen auch einschließt - kein Problem für ihn darstellen? Ich verstehe diesen Kerl ehrlich nicht.
"Woher ..." Da er seinen Satz nicht zu Ende bringen will, erledige ich das für ihn.
"Woher ich das weiß? Nur die Praxisanwendung in den Bereichen der simplen Mathematik, ein bisschen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Grundwissen bezüglich der menschlichen Psyche. Dafür brauchst du sicher keinen Bachelor in Psychologie oder Mathematik und musst auch kein Isaac Newton oder John Nash sein, auch wenn einige gern so tun, als sei ein solcher Abschluss oder die Intelligenz der berühmtesten Mathematiker ihrer Zeit von Nöten. Aber eigentlich habe ich das deinem Bruder bereits erzählt und der scheint ja alles mit dir zu teilen, liege ich da richtig?" Fragend sehe ich in seine Richtung und denke an die Begegnung mit Connor Churchill, das Gespräch über meinen Götterspeisen-Ehemann und den darauffolgenden Besuch von Noah.
"Ja, wir ... reden über vieles. Um zurück auf Daniel zu kommen: Wir sind immer noch beste Freunde, obwohl er pansexuell ist. Beweist das nicht eigentlich schon, dass ich nicht homophob bin?"
Ich bin nicht sonderlich aggressiv. Aber für den Fall, dass Noah und ich in einem engen Raum allein sind - ich werde ihn auf die qualvollste Art und Weise töten, die ein menschliches Wesen je zu Stande gebracht hat.
Wie kann man so blind sein? Versteht er nicht, dass es nichts zu sagen hat, dass er mit Daniel befreundet ist, während er Daniels Gefühle lediglich ignoriert, um nicht daran erinnert zu werden?
Tief durchatmend, um ja keinen Wutanfall zu bekommen, schließe ich kurzzeitig meine Augen.
Was habe ich mir auch dabei gedacht, ihn herein zu bitten?
"Nein, das tut es nicht. Es beweist, dass es dir entweder an Intelligenz oder an Empathie mangelt - oder an beidem.
Wie kannst du auch nur annehmen, dass ich dir einfach so verzeihe, dir abkaufe, du seist nicht homophob? Das ist, als würdest du einem Blinden sagen, er könne am nächsten Morgen wieder sehen - also völlig unlogisch."
Er scheint irgendwie sprachlos geworden zu sein, aber wer kann es ihm auch verübeln? Ich wäre über mich selbst auch sprachlos, wenn ich homophob wäre.
"Ich ... Carter, bitte ... bitte glaub mir!"
Ein hysterisches Lachen bringe ich noch zustande, eine Aushilfsreaktion anstelle eines Schlages in Noahs Gesicht.
"Glaubst du ..." Ich beiße fester als beabsichtigt auf meine Wangeninnenseite, hole tief Luft und spreche erst weiter, als ich mir sicher bin, ihn nicht hier und jetzt zu töten. "Glaubst du ernsthaft ich würde so dumm sein, dir das abzukaufen? Das ist ... ich habe keine Worte dafür. Ehrlich nicht.
Hättest du es bei deiner Entschuldigung belassen - es wäre vollkommen in Ordnung für mich gewesen. Aber jetzt? Ich kann es einfach nicht fassen."
Über meinen Nasenrücken fahrend und versucht, keinen Kreislaufzusammenbruch und oder Nervenzusammenbruch zu bekommen, stehe ich auf und laufe im Zimmer auf und ab.
Wie kann ein Mensch so ... so wie Noah sein, eben?
"Du solltest jetzt schleunigst verschwinden, bevor ..." Ich werde von Überraschung erfasst, als seine Lippen mich am Sprechen hindern. Seine Lippen, die im Übrigen auf meinen liegen und mich damit komplett überfordern.
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Ich lasse das jetzt einfach mal so stehen 😁.
Bis Sonntag, man liest sich (hoffentlich).☺❤👋🏻
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