-𝕋𝕨𝕖𝕟𝕥𝕪 𝔼𝕚𝕘𝕙𝕥-

Am nächsten Tag ist alles wie immer, abgesehen davon, dass weder Tristan noch Noah in der Schule sind. Soll mir Recht sein.

Es ist Dienstag, heißt soviel wie, dass ich jetzt gerade in meinem Englisch-Kurs bei Miss MacLeod sitze und meinen Gedanken nachhänge, da sie mich sowieso nicht leiden kann. Aber das ist mir eigentlich auch realtiv egal.

Benji sitzt auch in diesem Kurs, sogar zwei Plätze links von mir und hin und wieder tauschen wir bedeutungsschwere Blicke, die mit der Zeit ihre Wirkung verlieren.

Als die Stunde vorbei ist, hetze ich zu Geschichte bei Miss Addison und setze mich an meinen gewohnten Platz. Lächelnd nickt sie mir zu, aber ich vergrabe meinen Kopf lediglich in meinen Händen.

Als alle da sind, schließt Miss Addison die Tür und wir stellen uns zur Begrüßung hin. Das müssen wir bei einigen Lehrern machen, zum Beweis unserer Arbeitsbereitschaft.

"Da Mister Redwood vor einigen Wochen bereits davon angefangen hat und Sie alle sich sicher fragen, was es damit auf sich hat, beschäftigen wir uns heute in Gruppen mit der Kommunikation der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges." Ich fühle mich plötzlich beobachtet, fünfundzwanzig Augenpaare scheinen mich zu durchbohren.

Genau weiß ich nicht, ob meine Mitschüler mir dankbar sind oder mich jetzt hassen, aber irgendwie ist mir das ziemlich egal, da mich sonst sowieso niemand beachtet.

"Der erste Teil der Aufgabe wird sein, dass Sie alle - zu viert - das zusammen tragen, was Sie bereits über die Verschlüsselung der Kommunikation oder die Kommunikation an sich wissen. Daraufhin werde ich herumgehen und Texte austeilen, in denen detailliertere Angaben zu finden sind und am Ende der Stunde oder nächste Woche werden Sie vortragen. Natürlich wird es Dopplungen mit dem geben, was erzählt wird, aber doppelt hält besser und prägt sich außerdem schneller ein."

Ich komme in eine Vierer-Gruppe mit Samaurea Ward, Cam Jeffries und Maureen Morris, zwei Ersatzspieler aus dem Football-Team und ein Mädchen aus der Fotografie-AG, also Leute, mit denen ich wirklich wenig zu tun habe - noch weniger als mit allen anderen sonst.

Warum glaube ich, dass Miss Addison das mit Absicht gemacht hat?

Die Stunde verbringe ich damit, das Wissen, dass ich über Jahre hinweg gesammelt habe, in greifbare Worte zu fassen und andere unwissentlich mit ebendiesem Wissen zu beeindrucken.

Klar, für alle bin ich ein stiller Außenseiter, von dem man nicht viel erwarten kann. Ich bin ein wenig zu groß, um unauffällig in der Menge unterzugehen, aber trotzdem werde ich kaum bemerkt.

Cam, ein Junge, der sonst durch Abwesenheit und Vergesslichkeit glänzt, hört mir gebannt zu, wie ich - ohne Miss Addisons Texte auch nur anzurühren - Daten und Fakten aufzähle, sowohl über die Enigma selbst, als auch über den Weg der Entschlüsslung, über die Anlage des Bletchley Parks, den U-Booot-Krieg und den Vorläufer des heutigen Computers - der sogenannten Turing-Bombe.

Als ich fertig mit dem Erzählen bin, werden mir ungefähr fünf Minuten lang erstaunte Blicke zugeworfen, bis ich irgendwann rot werde und mir bewusst wird, dass wir den zweiten Teil der Aufgabe gar nicht erledigt haben.

Maureen meldet sich und Miss Addison kommt zu uns. Ich werfe währenddessen einen Seitenblick auf die Uhr - es sind nur noch zehn Minuten Unterricht.

"Ja, Miss Morris?" Miss Addison beugt sich ein wenig zu ihr herunter um sie unter der Geräusch-Kulisse der umliegenden Tische zu verstehen.

"Wir haben jetzt die ganze Stunde nur unser", sie sieht mich an, "Wissen zusammengetragen und die Texte noch nicht gelesen, sollen wir das noch in der verbleibenden Zeit machen?" Fragend sieht sie zu Miss Addison auf und kratzt sich kurz an der Seite ihres Handgelenks, was mich dazu veranlasst, meine Hand zu meiner Nase zu führen und sie darüber kratzen zu lassen.

Ich bin ein schlechter Mensch, okay, ich sehe es ja ein.

"Sie können ja anfangen den Text zu lesen, aber es würde sich nicht mehr lohnen, irgendetwas dazu aufzuschreiben. Vielleicht wollen Sie ja auch besprechen, was Sie in der nächsten Stunde bei Ihrem Vortrag sagen können und wer welchen Teil übernimmt. Denken Sie sich etwas aus; sein Sie kreativ!", fordert sie uns auf und geht dann zum nächsten Schüler, der sich meldet.

Maureen stöhnt, Cam beginnt auf sein leer gebliebenes Blatt zu kritzeln und Samaurea starrt ins Leere, so wie er es sowieso die ganze Zeit getan hat.

"Hey, sagt mal, habt ihr irgendetwas von den Texten verstanden?" Hinter dem Stuhl, auf demich sitze, kreuzt Daniel auf und stützt sich ungefragt auf die Lehne.

Ein unangenehmes Gefühl überkommt mich, weshalb ich mich aufrechter hinsetze und mein Rücken wie automatisch Abschied von der Lehne nimmt.

Daniel legt, unbemerkt von den anderen, eine Hand auf meinen Rücken und ich habe das Gefühl, er würde lächeln.

Seine Hand ist warm, angenehm warm und irgendwie mag ich das Gefühl, wie er hinter mir steht.

"Wir haben den Text gar nicht gelesen", lacht Cam und zeigt auf mich. "Der weiß das alles auch ohne lesen." Genau weiß ich nicht, ob es ein Kompliment oder eher eine Beleidigung sein soll, aber Maryse hat mir beigebracht, immer positiv zu bleiben, deshalb fasse ich das Ganze als ein Kompliment auf.

"Oh, hey, Carter, du willst mir das doch sicher erklären, oder?" Hätte Daniel gekünstelt mit seinen Wimpern geklimpert, hätte das Ganze vielleicht eindrucksvoller auf mich gewirkt, aber es hätte mich auch total abgelenkt.

"Äh ... wenn du eine dreiviertel Stunde Zeit hast, gern, aber wenn nicht, kann ich dir auch die Kurzfassung der Kurzfassung erzählen. Die dreiviertel Stunde ist im Übrigen schon die Kurzfassung." Den letzten Satz füge ich irritiert blitzelnd hinzu und Samaurea braust auf.

"Das war schon die Kurzfassung? Das waren gefühlt mehr Fakten, als wir an einem ganzen Tag - ach, was sag' ich, in einer ganzen Woche - zu hören bekommen! Wie kannst du dir das alles merken?"

Am liebsten hätte ich erwidert, dass das auch mehr Worte waren, als ich je von ihm gehört habe, aber wahrscheinlich hätte das fies geklungen und so will ich ganz sicher nicht rüber kommen.

"Ich habe ein" - eidetisches - "gutes Gedächtnis." Ich zucke mit den Schultern und sehe mir Cams Zeichnung eingehender an. Eine Dogge - wahrscheinlich eine Abänderung unseres Schullogos.

Es sieht wirklich gut aus, eine Mischung aus Anime- und naturalistischer Zeichnung, nah an unserem jetzigen Logo, aber irgendwie viel besser.

Kurz bin ich eingenommen von einer unbeschreiblichen Schönheit, dann kann ich mich lösen und gehe, ohne irgendein weiteres Wort zu verlieren, auf meinen Platz und packe ein.

Pünktlich zum Klingeln beendet Miss Addison den Unterricht und ich schlendere nach draußen, auf eine Betonmauer zu, auf die ich mich hochziehe. Mit meinen Fingern ungeduldig auf der Mauer herumtippend - mir wurde viel beigebracht, aber Gedult gehört nicht wirklich zu menen angelernten Stärken -, warte ich auf Kathy.

Sie kommt dreizehn Minuten nach dem Klingeln auf mich zu und sieht mich mit verzogenem Gesicht an - vielleicht soll das ja entschuldigend wirken.

"Mister Crawford wollte noch mit mir reden, tut mir leid!" Meine Schultern wandern von unten nach oben und wieder zurück.

"Schon in Ordnung."

"Weißt du eigentlich, warum Tristan heute nicht da ist? Weil er mir nämlich gar nicht geschrieben hat und an sein Handy ist er heute morgen auch nicht gegangen. Ich dachte zuerst, ihr würdet wieder zusammen 'schwänzen', aber da du hier bist, fällt diese Option weg." Nachdenklich sieht sie in den Himmel und rückt das graue Tuch um ihren Hals zurecht.

Irgendwie möchte ich Kathy nichts davon erzählen, dass Noah und Tritan sich geküsst haben - meine Beziehung zu Tristan soll ihre zu ihm nicht zunichte machen. Ansonsten wäre ich ein großer Egoist und der will ich ganz sicher nicht sein.

"Ich weiß auch nichts genaueres, mir hat er nämlich auch nicht geschrieben, aber vielleicht ist er bei seiner Schwester." Dass ich davon ausgehe, Kathy würde wissen, dass Zarah im Krankenhaus liegt, war wohl ein Irrtum.

Ihr irritierter Blick erklärt nämlich so einiges.

"Was ist mit Zarah?", fragt sie ein wenig zu laut und das Echo ihrer Stimme klingt noch ein wenig nach, zumindest in meinem Kopf.

"Sie ist im Krankenhaus. Hat Tristan dir davon nichts erzählt?" Es hätte einen Grund geben können, es ihr nicht zu erzählen, aber da er weiß, dass Kathy und ich über - fast - alles reden, hätte er erwarten können, dass sie es früher oder später erfährt.

Sie schüttelt energisch den Kopf.

"Nein, hat er nicht. Seit wann ist sie denn im Krankenhaus und was hat sie?", fragt Kathy erbarmungslos weiter.

"Was sie hat, weiß ich nicht, aber im Krankenhaus ist sie seit Samstag." Wieder ein Schulterzucken von meiner Seite, dann ein nichtssagender Ausdruck auf meinem Gesicht.

Kurz wirft sie einen forschenden Blick zu mir, worauf ich die Augenbrauen hochziehe, aber ihr scheint schon etwas eingefallen zu sein. "Was ist zwischen euch beiden passiert? Jetzt ernsthaft, als würde Tristan nicht in die Schule kommen, ohne dir oder mir zu schreiben! Und bevor du es abstreitest, überleg dir ganz genau, ob du mich jetzt anlügst, Carter." Ich sehe schweigend auf meine Uhr. "Also nochmal: Warum habt ihr euch gestritt-"

"Können wir bitte beim Mittagessen weiterreden? Wenn wir zu spät kommen, kriegen wir keinen Platz mehr." Grimmig nicjt sie und geht mir voran Richtung Cafeteria.

Ich musste das Gespräch einfach unterbrechen, ansonsten hätte ich womöglich zu viel preis gegeben.

Beim Mittagessen kann ich der Konversation mit Kathy glimpflich entkommen, indem ich mich an die äußerste Seite des Tisches neben Benji setze - so kann Kathy sich nicht auf meiner anderen Seite niederlassen und mich weiter ausfragen.

"Hey", lächele ich in Benjis Richtung und mustere ihn kurz. Im Gegensatz zu Samstag sieht er schon ein wenig besser aus, aber die Schrammen sind noch nicht verheilt.

"Hey", lächelt er zurück und zieht mich kurz in seine Arme. Es ist ungewohnt in jemandes Armen zu sein, der weder Maryse oder Kathy noch - so ungern ich das auch zugebe - Tristan ist, aber da Benji und ich uns früher auch schon umarmt haben, ist das ganze nicht völlig neu für mich.

"Wie geht es dir und deiner Mutter jetzt?" Ich bin ein neugieriger Mensch und manchmal weiß ich nicht, wann ich damit aufhören soll, Fragem zu stellen, deshalb bin ich vielleicht ein wenig nervig. Aber meistens habe ich das sehr gut im Griff - schließlich lerne auch ich tagtäglich dazu.

"Mir geht es besser, Mom hat für Dad eine Entzugskur ermöglicht, sodass er erstmal für eine Weile weg von Zuhause ist. Als ich am Samstag wieder Heim kam, hat er sich übrigens bei mir entschuldigt." Bei seinen nächsten Worten liegt ein fast stolzes Lächeln auf seinen Lippen. "Meine Mom hat ihn sicher dazu überredet."

Den Rest der Mittagspause rede ich überwiegend mit Benji. Er erzählt mir, dass er auf ein Mädchen stehen würde, das auf eine andere Schule geht und dass sie sich am Nachmittag treffen werden. Ich freue mich natürlich für ihn - wir sind im Guten auseinandergegangen und ich würde schon fast sagen, dass wir inzwischen wirklich gute Freunde sind.

Als es dann zum nächsten Unterricht - in meinem Fall Ethik oder Philosophie - klingelt, verabschieden wir uns mit einer erneuten Umarmung, die Kathy mit kritischem Blick mustert.

Der Ethik-Raum ist im ersten Stock, weshalb ich mich zügig auf den Weg die Treppen hinauf mache und als ich durch die Tür trete, scheine ich mich in einer anderen Galaxie wieder zu finden.

Die Atmosphäre ist locker und ruhig; in der Luft hängt der Geruch nach Räucherstäbchen und Zimt. Alle scheinen irgendwie tiefenenspannt zu sein, als würde eine höhere Macht für ihr Wohlbefinden sorgen.

Diese höhere Macht betritt in Form von Miss Danell den Raum, gerade, als ich mich an meinen Platz setze. Ihr rot-goldenes langes Haar weht wie ein Schleier hinter ihr her; das bodenlange, weiße Kleid sieht aus, als wäre sie gerade von einer Promi-Hochzeit gekommen.

Alles in allem erinnert sie ein wenig an eine Mischung aus Nike und Aphrodite - die Göttin des Sieges und die Göttin der Schönheit.

Jedes einzelne Mal, wenn sie den Raum betritt, scheint sich das Raum-Zeit-Kontinuum zu verschieben und alles und jeder in ihre Richtung zu schauen. Und dann kann und will man einfach nicht mehr weggucken.

Mit einer Körpergröße von etwa einem Meter fünfundsiebzig ist sie zwar kleiner als Maryse, aber größer als viele andere Frauen und trotzdem bewegt sie sich mit einer lauernden Eleganz - fast wie ein Tiger.

Da Miss Danell in den höchsten Tönen über ihre altbewerten Kreidetafeln spricht, ist es kaum verwunderlich, dass sie, als sie ihre braune Kunstledertasche auf dem Stuhl abgestellt hat, die erste Schublade des Lehrerpultes öffnet und ein Stück weißer Kreide hervorholt, das definitiv schon mal länger war.

Gebannt beobachtet jeder im Raum, wie sie an die Tafel schreitet und mit großen, graden und gut sichtbaren Lettern 'Seelenverwandtschaft' ranschreibt.

Sie dreht ihren Hals ein wenig und mir fällt auf, dass sie eine Kette voller roter Glitzersteine trägt, die wahrscheinlich nicht echt sind, an ihr aber so selbstverständlich wirken, als hätte ein Juwelier sie extra für Miss Danell angefertigt - oder als sei sie eine Opfergabe aus dem Reichtum ihrer gläubigen Gefolgsschaft.

Normalerweise würde ich nicht auf die Idee kommen, Philosophie zu wählen - zu viele Fragen und zu wenige Antworten -, aber irgendwie hat das Fach mich doch in seinen Bann gezogen, vor allem aufgrund der Tatsache, dass es sich Fragen beschäftigt, die mit Wieso beginnen.

Irgendwie denke ich nämlich, dass es vielen genauso geht wie mir, da ich manchmal in der Nacht da sitze und meinen Gedanken nachhhänge, während ich mir genau solche Fragen stelle.

Wieso bin ich hier?

Wieso bin ich anders als alle anderen?

Wieso kann ich nicht normal sein?

Wieso fühle ich mich einsam, obwohl ich nicht allein bin?

Alles natürlich nur eine Frage der Perspektive, aber bisher habe ich es nicht geschafft, auch nur eine dieser Fragestellungen zu beantworten.

"Heute werden wir über die Seelenverwandtschaft reden und wie Aristophanes sie dargestellt hat. Haben Sie schon mal etwas von den Kugelmenschen gehört?"

Soweit ich weiß, glaubte Aristophanes daran, dass jeder von uns früher mit einem anderen Menschen zusammen - unserem Seelenverwandten - ein sogenannter Kugelmensch war. Kugelmenschen hatten vier Arme, vier Beine und zwei Gesichter und waren so glücklich und zufrieden, dass die Götter einen Aufstand erwarteten, da sie zu perfekt miteinander harmonierten.

Also teilten sie diese Kugelmenschen in zwei Hälften, sodass jeder von ihnen nur noch einen Kopf, zwei Hände und zwei Arme hatte - so wie der heutige Mensch eben.

Seitdem ist jeder auf der Suche nach seiner anderen Hälfte, seinem Seelenverwandten.

Irgendwie eine schreckliche Geschichte, andersherum ist sie aber schaurig schön. Ich verstehe, warum die alten Philosophen auf der Suche nach dem Warum waren, aber bis heute hat niemand die Antwort gefunden.

Und - auch wenn das vielleicht komisch klingen mag - mir gefällt der Gedanke daran, dass das auf ewig so bleiben wird.

----

Hey 👋🏻,

ich habe eine kurze Frage: Mögt ihr so Kapitel, bei denen Carters Schulalltag beschrieben wird, oder eher nicht? Denn das kam bisher ein wenig kurz und vielleicht war das jetzt ein wenig zu viel des Guten.

Andere Frage: Kanntet ihr die Kugelmenschen vorher schon?

Wie dem auch sei, ich wünsche euch noch einen schönen Sonntag und bis Dienstag 😊.

Man liest sich (hoffentlich) 🤗.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top