-𝕋𝕙𝕚𝕣𝕥𝕪 𝕋𝕙𝕣𝕖𝕖-
Es regnet. Ich mag Regen irgendwie. Genauso wie ich den Herbst irgendwie mag. Und Katzen. Katzen mag ich auch irgendwie.
Ich beobachte, wie ein rot-orangenes Blatt auf den Boden fällt und sich zu seinen Millionen Artgenossen gesellt.
Seine Zeit scheint abgelaufen zu sein, als würde die Sonne untergehen. Dann ist auch die Zeit des Tages abgelaufen. Ich mag den Gedanken an die Endlichkeit. Er ist greifbar und realistisch, aber irgendwie macht er mich traurig.
Ich winkele meine Beine an und schlinge die Arme um sie.
Alles ist irgendwie farbenfroh, obwohl das grau dominieren sollte. Es ist unverständlich, zumindest für einen Realisten wie mich.
Schon seit einer langen Zeit habe ich mich der Idiotie der anderen entzogen, habe begonnen, meinen eigenen Weg zu gehen.
Vielleicht die schlechteste Entscheidung, die ich hätte treffen können, aber ich bin wirklich glücklich damit.
Ich bin glücklich damit, jemand zu sein, den nicht andere, sondern ich selbst geprägt habe, von dem nicht andere, sondern ich selbst entschieden habe, wer er zu sein hat.
Irgendwie bringt mich das zum Lachen, ich weiß auch nicht, warum.
Vielleicht habe ich jetzt ja endgültig den Verstand verloren, wer weiß das denn schon so genau?
Vielleicht lache ich ja auch darüber, dass ich mit einer Lüge glücklich bin. Dass ich glücklich bin, durch eine Lüge geformt zu sein.
Ein weiteres Blatt fällt herunter und dann noch eins und irgendwie habe ich das Gefühl, die Blätter wären die Striche an den Zellinnenwänden eines Gefängnisses.
Wie poetisch.
Das Leben scheint seit neustem aus Ironie zu bestehen, einer Ironie, die diese ganze Sache leichter erträglich macht. Die diese ganze Sache erst dazu macht, was sie ist.
Einer Lüge. Einem Versteckspiel. Das ist es, was ich hinter der Ironie verberge.
Denn sie versteckt die Lüge meines Daseins. Die Lüge hat mich so sehr geprägt, dass ich sie zu leben scheine.
Die Lüge meines Lebens. Hört sich wohl dramatischer an, als es wirklich ist. Vielleicht ist das aber auch nur die Auffassung der Menschen; sie überdramatisieren die Dinge schnell und beginnen, zu glauben, dass die Illusion des Lachens der Wahrheit entspricht.
Früher ging es mir ähnlich, ich habe geglaubt ohne zu wissen. Und ist das nicht eigentlich das, was man automatisch tut? Was einem von Geburt an non-verbal beigebracht wird?
Genetisch und evolotionstechnisch gesehen, entstammen wir Menschen einem Einzeller, der sich aus dem Wasser an Land gekämpft hat und sich Generation um Generation, Ära um Ära weiter entwickelt hat, bis der erste homo sapiens geboren wurde.
Mit der Zeit haben die Menschen angefangen, frühere Werte zu vergessen, sie zu 'erneuern'. Dabei ist so einiges kaputt gegangen. So zum Beispiel die Neugierde, Dinge für sich selbst als logisch abstempeln zu können.
Wenn ich jemandem erzähle, ich hätte seine Mutter im Einkaufszentrum gesehen, obwohl derjenige weiß, dass sie zu der Zeit arbeiten war, wird er mir glauben oder seiner Mutter? Das muss ich dringend mal ausprobieren.
In die Entwicklung des Menschen hat sich Naivität und blindes Vertrauen auf das Wort eines anderen Menschen gemischt, was in Kombination mit wirklich bösen Vertretern unserer Spezies keine gute Vorraussetzung ist.
Wie würde man das am besten ausdrücken? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, trifft es schon ganz gut, würde ich behaupten.
Worauf ich aber eigentlich hinaus wollte, ist das Geschehen, aufgrund dessen ich beschlossen habe, mein restliches Vertrauen in die Menschheit, das irgendwo in den hinterletzten Ecken meines Gehirns übrig geblieben ist, endgültig zu verlieren.
Denn irgendwann, als der Mensch, dessen Namen ich nicht mehr aussprechen kann, wieder in der Schule war, ist es mit mir durchgegangen - vor allem aufgrund der Tatsache, dass er Hand in Hand mit einer anderen, mir verhassten Person erschienen ist. "Ich kann alles sein, aber niemals nur die zweite Wahl!"
Das war es, was ich ihm zugerufen habe, was ich gerufen habe, ehe ich vor der Wahrheit weggelaufen bin und begonnen habe, meine eigene, ganz große Lüge zu formen.
Das war dann ungefähr so: Mein Vertrauen ist in Rente gegangen - hat wohl schon zu lange geschmort -, dafür hat es dem immer schlecht gelaunten, nachdenklichen, trügerischen und vielleicht auch ein bisschen hinterlistigen Ich Platz gemacht, das wohl unter dem Vertrauen geschlummert hat und im Zuge des frei gewordenen Platzes an die Macht gekommen ist.
Bewaffnet ist dieses neue Ich mit immer zu spitzen - meist ironischen - Kommentaren, einem falschen Lächeln und eine Wand aus Nebel an der Stelle eines Herzens.
Dieses Ich ist das, was andere Menschen nie in mir sehen wollten, das aber schon immer ein Teil von mir war. Ich habe versucht, es zu verdrängen, habe versucht, endlich jemanden zu finden, der mich glücklich machen kann, aber vergebens.
Alles Wunschdenken, denn so jemanden gibt es nicht.
Ich schlucke. Es ist einen Monat her.
Einen ganzen Monat, in dem ich kein Wort mit ihm gewechselt habe. Kein einziges.
Außerhalb des Hauses geht die finstere Nacht reibungslos in den Sonnenaufgang über, der rote und roséfarbene Streifen an den Himmel malt, wie ein blinder Künstler. Krähen bahnen sich ihren Weg von Baum zu Baum auf der Suche nach Futter und mir fällt auf, dass es bereits November ist.
Wie bedeutungslos, ist das, was ich am liebsten gedacht hätte, aber ich kann es nicht über mich bringen. Solange ich kämpfe, werde ich von meinem dunklen Ich nicht in Besitz genommen.
Ich schließe die Augen und versuche an etwas Positives zu denken, wodurch natürlich sofort ein Bild vor meinem inneren Augen entsteht.
Denn Maryse wurde vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen und hat das ganze Haus geschmückt, anlässig des heutigen 2. November, dem Dia de los Muertos.
Irgendwie ironisch, denn ich fühle mich wie einer dieser Toten.
Aufgeregt kommt Maryse auf den Dachboden gehüpft und ignoriert meine, vom Schlafmangel zeugenden, Augenringe geflissentlich. Sie zieht mich ins Bad, scheint wunderbare Laune zu haben, aber ich bin mir sicher, dass das an der Tatsache liegt, dass dies der einzige Anlass im Jahr ist, zu dem sie mich schminken darf, ohne, dass ich Widerworte einlege.
Als die Form eines Totenkopfes mein Gesicht ziert, nickt sie zufrieden und scheucht mich aus ihrem Bad, um sich selbst fertig zu machen.
Seufzend verschwinde ich wieder auf dem Dachboden, da Maryse mich für den heutigen Freitag entschuldigt hat.
Wahrscheinlich ist das besser, sonst würde ich den nächsten, der mich anlächelt eigenhändig erwürgen. In genau diesem Moment bemerke ich den kleinen Hauch von Sadismus, den auch mein anderes Ich hervorgerufen hat und ein Teil von mir will schadenfroh grinsen. Diesen Drang unterdrücke ich jedoch geflissentlich.
Wie gesagt, ich werde weiter kämpfen.
Ich bin jedes Jahr am Dia de los Muertos Zuhause, aus alter Tradition heraus. Maryse Schule in Mexiko hatte in diesen Tagen immer geschlossen, hat sie mir zumindest erzählt.
Natürlich habe ich dem blinden Vertrauen abgeschworen, deshalb weiß ich es nicht genau.
Wieder starre ich aus dem Fenster und vergleiche den Regen, der an die Fensterscheibe prasselt mit dem Regen, der an den Fenstern meines Autos kratzt, wenn ich fahre.
Die Druckregulierung ist anders, der Regen bewegt sich im Auto nach hinten und hier am Fenster nach unten. Als Kind habe ich das ganze physikalisch betrachtet, zwei ganze Nächte habe ich recherchiert.
Finde nur ich das traurig, was für ein schrecklich einsames Kind ich war?
Ich lege meinen Kopf schief und räuspere mich, während ich die Nachbarskatze - Hanley - dabei beobachte, wie sie einem Vogel hinterher jagt.
"Willst du etwas essen?" Ohne Maryse anzusehen, schüttele ich den Kopf, sie soll eingentlich nicht so viel Treppen laufen.
Eigentlich habe ich vermutet, dass sie an mir abperlt, wie Wassertropfen beim Lotoseffekt, aber sie lässt sich als meine Tante nicht so leicht abschütteln.
"Du wirst nicht wieder mit Tristan" - ich gebe ein unmenschliches, fast knurrendes Geräusch von mir - "zusammen kommen, in dem du aus dem Fenster starrst."
Mein Blick ist finsterer als die Nacht, aber Maryse lächelt mich nur in dem Wissen an, mich provoziert zu haben.
Ein weiterer Punkt, den ich vermeiden sollte: auf Provokation eingehen.
"Ich weiß, dass du ihn hasst. Wer kann dir das verübeln? Aber wenn du hier herum sitzt und Löcher in Grandpas Scheiben starrst, wird dir das nichts bringen, verstehst du? Du solltest glücklich sein, vor allem heute." Sie versucht mich an den Armen hochzuziehen, was sie, obwohl ich mich wehre auch schafft.
Mein griesgrämiger Blick verschwindet nicht, auch nicht, als wir gemeinsam in der Küche sitzen und sie Tee aus einer Totenkopf-Teekanne in dunkelblaue Tassen gießt.
"¡Bebe ahora!", versucht meine Tante mich dazu zu bewegen, den Tee zu trinken, den ich in der Tasse die ganze Zeit hin und her schwappen lasse.
"No me gusta el té y además ..." Ich unterbreche mich selbst als mir auffällt, dass ich ihr gar nicht auf Spanisch antworten wollte.
"¿Y? ¿Qué?", hakt sie nach und sieht mich fragend an. Dann wechselt sie wieder ins Englische - nur weil heute der Tag der Toten ist, müssen wir ja nicht unbedingt Spanisch sprechen. "Was ist mit dir los, Carter? Seit du und Tristan euch getrennt habt, hattest du keinen sozialen Kontakt mehr.
Du bist die ganze Nacht lang weg, putzt morgens das Haus blitzblank, gehst in die Schule, erledigst deine Aufgaben und verschwindest auf deinem Zimmer bis es Abendessen gibt. Wann hast du dich denn das letzte Mal mit Kathy getroffen? Oder gehst du immer nachts zu ihr, wenn du dich aus dem Haus schleichst, in der Hoffnung, ich würde es nicht mitbekommen?
Ich mache mir wirklich Sorgen, Carter, nicht nur um dich, sondern auch um deine psychische Gesundheit. Das ist fast schon psychosomatisch." Ihre Augenbrauen sind zusammen gezogen.
"Willst du damit ausdrücken, ich wäre ein Psychopath? Nachts gehe ich joggen, um den Kopf frei zu bekommen. Besser, als wenn ich mich verletzen würde und du eines Morgens meine Badezimmertür öffnest, nur um mich verblutet in der Badewanne vorzufnden, oder findest du nicht?
Zu deiner Frage bezüglich Kathy: Sie ist der Meinung, ich hätte mit ihrem Bruder geschlafen, weil er sich bei ihr geoutet hat, nachdem er hier geschlafen hat - und das im Übrigen nur, weil ich nicht in der Lage war, noch Auto zu fahren. Deshalb hasst sie mich jetzt. Die Sache dabei ist, dass sie nicht weiß, dass Tristan und ich getrennt sind, weil sie mich ja, wie gesagt, hasst und sich nicht für mein Leben interessiert.
Also das Fazit der ganzen Geschichte: Ich rede nicht mit Tristan, Kathy nicht mit mir und um das zu verarbeiten, versuche ich mich so gut es geht abzulenken. Genug psychischer Analyse für dich?" Genervt sehe ich sie an und als sie auch nach einer dreiviertel Minute nicht antworte, lasse ich sie - mitsamt dem Tee - in der Küche sitzen.
Frustiert balle ich die Hände zu Fäusten. Ich wollte Maryse nichts von der Geschichte mit Kathy erzählen.
Schnell tausche ich meine Kleidung mit einer Strickjacke und einer Jogginghose und gehe runter in den Flur, wo ich mir lockere Laufschuhe anziehe.
Wenn ich noch eine Minute länger in diesem Haus bin, kriege ich alle Krankheiten, die man irgendwie bekommen kann und sterbe einen elendigen, schmerzvollen und traurigen Tod.
In dem Moment, in dem ich die Tür aufreiße, pfeift Maryse mich zurück, in dem sie meinen Namen sagt. "Wo willst du hin?"
Jetzt liegt die Entscheidung bei mir: Laufe ich einfach los und ignoriere sie, riskiere dadurch aber ihre Missgunst, oder drehe ich mich um und antworte ihr wie ein, mit Gehirn beschenkter, Sterblicher?
Diese Entscheidung fällt mir leicht - von wegen Bekämpfung meines bösen Ichs -, deshalb drehe ich mich auch um und lächele Maryse freundlich entgegen.
"Ich wollte eine Runde laufen gehen", sage ich zögernd und beiße mir fast automatisch auf die Unterlippe – etwas, das ich sonst nur tue, wenn ich mich in einer abnormalen Situation wiederfinde und nicht weiß, was ich sonst tun soll.
"Es regnet." Sie zeigt auf die offene Tür, wo man deutlich erkennen kann, wie die Regentropfen die Straße bewässern.
Gleichgültig zucke ich mit den Schultern. "Na und? Die letzten Nächte hat es auch geregnet und ich war draußen. Was spielt das Wetter für eine Rolle?"
"Ich möchte nicht, dass du bei diesem Wetter raus gehst." Sie klingt wie eine Mutter und das scheint ihr durchaus bewusst zu sein – sie aber keineswegs zu stören.
Ich seufze resigniert und ziehe die Schuhe mit der linken wieder aus, während ich mit der rechten die Tür schließe, von der aus ein frischer Durchzug hereinweht.
Aber statt auf mein Zimmer oder den Dachboden zu gehen, wie Maryse es wahrscheinlich erwartet hätte, laufe ich zwar die Treppen nach oben, jedoch renne ich sie auch sofort wieder runter.
Als ich zehnmal vom Erdgeschoss zum Dachboden und wieder zurück gerannt bin und somit ziemlich genau 880 Stufen zurückgelegt habe, steht Maryse am Fuß der Treppe und reicht mir ein Glas mit Wasser.
"Danke", kann ich noch hervorbringen, bevor es um mich herum völlig schwarz wird.
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Hey, hey, hey 🦉,
ich hoffe, ihr hattet bisher einen schönen Tag und seid wohlauf 😁.
Carter scheint es ja nicht so gut zu gehen, ohne zwei seiner drei Anker 😬. Wollen wir hoffen, dass sich die Probleme alle schnell lösen 😉.
Wie immer wünsche ich euch noch einen schönen Abend und bis Sonntag 👋🏻.
Man liest sich (hoffentlich) 😊.
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