-𝕋𝕙𝕚𝕣𝕥𝕪 𝕊𝕚𝕩-
Maryse umarmt mich noch eine Weile, während ich über ihre Worte nachdenke. Alles scheint schon ganz stimmig zu sein, aber warum hat man die Leichen meiner Eltern nicht zur Beerdigung freigegeben?
Das ist für mich völlig unlogisch, zumal alles als 'mysteriöse Umstände' abgestempelt wurde.
Aber es gibt da noch eine Sache, die mich beschäftigt. "Du sagtest, meine Eltern und ich hätten in Sandy Springs gewohnt, nachdem wir in die Staaten gezogen waren. Es kann schon sein, dass der Vorfall von damals nichts damit zu tun hat, aber dieser vermisste Junge, von dem ich vor einigen Wochen gesprochen habe - du weißt schon, Reed Frenchman -, kommt auch aus Sandy Springs. Ich habe mich danach ein bisschen umgehört und recherchiert; in der Stadt sollen wohl öfter Kinder verschwunden sein, meistens zwischen fünf und neun. Meiner Meinung nach ist das ziemlich merkwürdig."
Sie seufzt, nimmt sich ein Taschentuch und wischt sich damit einmal über ihr Gesicht. "Vielleicht hast du Recht."
Ich ziehe, von ihrer Aussage irritiert, die Augenbrauen zusammen. "Natürlich habe ich Recht. Schließlich geht es um meine eigene Meinung, da kann niemand anderes Recht haben." Ich zucke nachträglich mit den Schultern und starre ins Nichts.
Sie lacht, immer noch ein wenig verschnupft, und klopft mir auf die Schulter. "Ich werde dann jetzt-"
"Hierbleiben. Der Arzt sagte, dass du keine schweren Dinge heben oder schleppen sollst. Sei froh, dass er dir das Treppensteigen erlaubt hat, so kapput, wie du deinen armen Oberschenkel gemacht hast. " Kopfschüttelnd sehe ich sie an, als sie - trotz meiner Worte - versucht aufzustehen. Betonung liegt hier auf versucht, ganz schaffen tut sie das nämlich nicht.
Sie seufzt und setzt sich kapitulierend wieder auf den Barhocker. "Manchmal weiß ich wirklich nicht, wer der Erwachsene von uns beiden ist", murmelt sie in sich hinein.
"Na ja, rechtlich gesehen offensichtlich du." Ich zucke erneut mit den Schultern. "Verhaltenstechnisch dann aber doch eher ich."
Sie lacht herzhaft, ich stehe daneben und frage mich, was jetzt wieder so witzig war, dass sie haufenweise Kohlenstoffdioxid in unsere Atemluft abgeben muss.
Nachdenklich mustere ich ihren Oberschenkel, der unter der dünnen, dunkelblauen Jeans ziemlich eingeengt wirkt - vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Haut unter dieser zahlreiche Tapes zur Stabilisierung zieren.
"Ich frage mich immer noch, wie es dazu kommen konnte." Als hätte man dem Feuer den Sauerstoff entzogen, erlischt ihr Lachen und sie sieht mich mit einem undefinierbaren Blick an.
"Wie gesagt, ich weiß es selbst nicht so genau, was passiert ist, an diesem Tag. Nur, dass ich beim Gemeinderat war, wahrscheinlich wegen einer Versammlung. Mir ging es den ganzen Tag schon schlecht, eigentlich hätte ich nicht einmal mehr fahren sollen. Ich denke einfach, dass mir die Situation ziemlich zu schaffen gemacht hat; die Sache mit Victor, die Arbeit, meine Sorge um dich ... Alles Faktoren, die im Endeffekt dazu beitragen, so einen Zusammenbruch zu haben." Die Grübchen, die sonst immer entstehen, wenn sie lächelt, tauchen dieses Mal nicht auf - vielleicht weil sie nicht wirklich lächelt, sondern ihr Gesicht eher einer Grimasse ähnelt.
Wieder rümpfe ich schlichtweg die Nase; weder über Victor noch über ihre Arbeit sprechen sie und ich und wenn, dann nur kurze und knappe Sätze mit wenig Informationsgehalt.
Das ist genauso, als würden wir über die Schule reden. Diese Konversationen laufen dann immer wie folgt ab:
Maryse fragt nach meinem Tag mit einem: "Und, wie war dein Tag so?", wahlweise auch einem - wahrscheinlich nicht ernst gemeinten - "Wie geht es dir?"
Je nach Unterricht des Tages kommen von meiner Seite als Antwort entweder grummelnde Laute oder ein halb-fröhliches "toll", manchmal sogar mit nach oben verzogenen Mundwinkeln, die die Illusion schaffen könnten, ich würde lächeln.
Natürlich nur die Illusion.
Es ist nämlich so: Die menschliche Spezies - also wir - ist die einzige, die das Zähnezeigen als eine niedrige Form der Höflichkeit ansieht, während alle anderen Spezien davon ausgehen, das Zähnzeigen sei eine Demonstration der Macht des einzelnen Vertreters der Art.
Das der Mensch das noch nicht geschnallt hast, ist kaum verwunderlich; wir betiteln uns zwar gerne als die 'schlauste' Spezies, die Spitze der Nahrungskette, in Wirklichkeit sind es jedoch nicht wir Menschen, die es fertig bringen, solche Dinge zu tun, die die Tier- und auch die Pflanzenwelt jede Sekunde erreichen.
Menschen sind schließlich und im Endeffekt einfach nur vergängliche Gestalten, die irgendwann durch etwas Neues - etwas Besseres - ersetzt werden.
Denn würde man die ganze Geschichte der Welt, wie sie fast jeder kennt, auf 24 Stunden reduzieren, hätten wir Menschen - vom homo sapiens ausgegangen - ungefähr sechs Sekunden auf diesem Planeten gelebt. Dazu muss man sagen, dass der erste homo sapiens vor gut 300 Tausend Jahren gelebt hat, was schon eine enorme Zeit ist.
Im Gegensatz zu den gut 4,5 Milliarden Jahren, seit denen diese Erde schon besteht, jedoch nur ein bedeutungsloser Wimpernschlag.
Da erscheint einem das Leben doch gleich viel kleiner, zumindest geht das mir so. Was bringen diese völlig trivialen Erfindungen der letzte 250 Jahre, wenn man davon ausgeht, dass jemand, der zur damaligen Zeit keinen Namen hatte, das Feuer erfunden hat und damit erst das Leben heute ermöglichte?
Irgendwie fasziniert Geschichte mich. Das war schon immer so. Daten und Fakten, genau mein Gebiet.
"Ich bin froh, dass du bei mir bist, Carter." Sie tätschelt meinen Arm, die Grimasse wird zu einem richtigen Lächeln und die Grübchen haben sich ihren Platz wieder erkämpft.
Schlicht nicke ich; da kann sie wirklich froh sein. Aber ich bin auch froh, sie zu haben. Wer weiß, wer mir stets und ständig mit Psychologenkram auf die Nerven gehen würde, wenn sie es nicht täte? Wahrscheinlich niemand und dann würde mir definitiv etwas fehlen.
"Darüber wäre ich an deiner Stelle wahrscheinlich auch froh." Ich räuspere mich; mein Hals kratzt schon den ganzen Tag so komisch.
"Wie viele waren es im Oktober? Ich war fast den ganzen Monat nicht da, konnte also keine Liste führen, aber wahrscheinlich hast du das automatisch selbst gemacht, oder?" Sie zückt einen Stift und das dunkelblaue Notizheft, das sie schon hat, seit ich bei ihr bin und damit angefangen habe, mich überall zu stoßen.
Diese ganze Sache macht sie mir zu Liebe; im Januar 2009, also vor mehr als elfeinhalb Jahren, habe ich sie darum gebeten eine monatliche Statistik über jeden meiner Unfälle führen zu dürfen.
Natürlich hätte ich das auch so getan, aber als ich ihre Erlaubnis hatte, war mir doch nochmal wohler zumute. Dass sie alles aufgeschrieben hat, war für mich zuerst komisch - warum kann sie es sich nicht merken, so wie ich es tue, habe ich mich damals gefragt.
Jetzt weiß ich schon längst, dass ihr Langzeitgedächtnis lange nicht so ausgeprägt und einfach abrufbar ist, wie meines, das ist mir dann irgendwann nämlich bewusst geworden.
"Siebzehn Mal meine Schranktür, zwölf Mal die Badezimmertür, halb so oft meine Zimmertür, einmal die Treppe und zwei Mal der Spiegel im Flur. Dann noch vier Mal der Esszimmertisch und einmal die Couch. Ich komme auf insgesamt genau vierzig Mal, aber das ist dir sicher durchaus bewusst." Sie nickt, ihr ist es also nicht bewusst. So schnell, wie ich die Zahlen aufgelistet habe, ist sie sicher nicht mitgekommen und als ich einen verstohlenen Blick auf die Tabelle auf dem Blatt vor ihr werfe, bestätigt sich mein Gedanke.
Die Hälfte ist leer, die andere Hälfte mit kaum lesbaren Zahlen gefüllt. Ich lege den Kopf schief, aber auch so kann ich keine der Zahlen lesen.
Maryse Knöchel sind weiß, da sie den Stift in ihrer Hand sehr fest umklammert. Anscheinend will sie mich nicht nach einer Wiederholung der Zahlen fragen - entweder aus Stolz, oder um mich stolz zu machen, dass sie sich die Zahlen gemerkt hat.
Fragend sehe ich sie an, ihr Kopf hebt sich aber nicht, deshalb kann sie das auch nicht mitbekommen.
"Soll ich die Zahlen noch einmal wiederholen? Du scheinst sie nicht alle mitbekommen zu haben, das tut mir leid." Unsicher fahre ich über meinen Nasenrücken und sehe immer noch in ihre Richtung.
Bei meinen Worten schießt ihr Kopf nach oben, ihre Augen sind jedoch geschlossen, von einer - für mich zumindest - unverständlichen Emotion mitgerissen.
Dann nickt sie, ihre Augen immer noch fest zusammen gekniffen. "Ja, das wäre nett", sagt meine Tante dann nach einer Zeit und wieder kann ich sie nur mit schräggelegtem Kopf ansehen.
Als ich die Zahlen, diesmal deutlich langsamer, wiederholt habe, atmet sie erleichtert durch und steht dann auf.
"Was hast du heute noch vor?", fragt sie mich, dem Smalltalk-Rausch verfallen. Da ich keine passende und durchdachte Antwort auf ihre Frage finden kann, zucke ich lediglich mit den Schulter und stehe ebenfalls auf.
"Ich werde wahrscheinlich noch ein wenig joggen gehen, schließlich dauert es nicht mehr lange, bis mir das nicht mehr möglich ist. Kann ich mir sicher sein, dass das Haus eins zu eins so aussieht, wie es jetzt ist, wenn ich wieder komme, oder muss ich dich irgendwo anketten? Wenn ja, sag mir das bitte vorher, dann kann ich noch kurz den Keller ein wenig aufräumen." Ich lege meinen Kopf ein wenig nach rechts und knacke mit dem Schädel, dann mache ich das gleiche in die andere Richtung. Meine Finger folgen dem Beispiel und knacken ebenfalls.
"Du kannst dich darauf verlassen. Ich werde mich wohl hinlegen, ansonsten kann ich definitiv sicher sein, ab morgen Fußfesseln zu tragen." Sie lächelt kurz und sieht mich dann undefinierbar an. "Bleib nicht zu lange weg."
Kurz bin ich irritiert, doch dann nicke ich und gehe in mein Zimmer, um mich umzuziehen.
Als ich aus der Tür trete, hat Regen die Luft erfasst. Kleine Tropfen landen in meinem Nacken und auf meinen Wangen und Stille beginnt fast automatisch, mich zu umringen, als sei ich ein Löwe in seinem Käfig.
Aber eigentlich fühle ich mich nicht eingesperrt. Denn als ich die ersten Schritte in Richtung des nahegelegenen Waldes mache, bin ich einfach nur frei.
Ich kann in meinem Tempo laufen, mit meiner Schrittweise und meiner Richtung. Also bin ich komplett unabhängig, etwas, was sonst nicht wirklich oft so zustande kommt.
Einen kurzen Moment schließe ich die Augen, atme tief durch und beschleunige dabei meine Schritte. Einen größeren Abstand bringe ich außerdem zusätzlich zwischen den Aufritt meiner Füße auf den Boden, sodass ich insgesamt schneller vorankomme.
Vielleicht sollte ich ja wirklich nochmal über das Angebot mit dem Leichtathletik-Team nachdenken. Dann wäre ich zumindest kein völliger Freak mehr und könnte vergessen, dass ich keine Freunde außer Kathy und Tristan habe - und da die beiden vollkommen wegfallen, bleibt mir keine andere Option, als mich auf ewig allein zu fühlen.
Fest beiße ich die Zähne zusammen und stoße den Atem aus. Eine kleine Wolke durchsticht den Regen als die Luft aus meinen Lungen entweicht und in den Abend hinausgelassen wird.
Im Westen ist die Sonne gerade dabei, den Dingen vor dem Horizont - Häuser, Bäume, Menschen, Briefkästen - wunderschöne Farben zu geben und nach ein paar Minuten ihre Silhoutten auf einen atemberaubenden Hintergrund zu malen.
Mir gefällt die Aussicht, aber ich kann sie nicht lange genießen, da ich nach links abbiege und so nach Süden laufe, in den Wald hinein. Als ich um die Ecke biege, kommt mir ein älterer Herr mit seinem Hund entgegen und wir grüßen uns, obwohl keiner von uns beiden eine Ahnung hat, wer der andere eigentlich ist.
Ich ziehe die dünne Strickjacke enger um meinen Oberkörper und sehe mich unauffällig um. Auf der Straße und dem gegenüberliegenden Gehweg sind weder Autos noch Fußgänger auszumachen.
Normalerweise laufe ich nur in der tiefsten Nacht, aber da mir keine andere Wahl bleibt, muss ich mich jetzt eben mit dem zufrieden geben, was ich habe.
Der leichte Nieselregen, der sich über die Region gelegt hat, erfrischt mich; es ist um mich herum nicht kalt, sondern angenehm kühl.
Beschleunigend setze ich meine Schritte fort, mein Verstand wie leergefegt, nur noch darüber nachdenkend, endlich frei sein zu können.
Es ist ein schönes Gefühl, irgendwie ungewohnt, aber definitiv sehr schön, das kann ich zugeben.
An mir rauschen die Bäume vorbei, es wird immer dunkler und vereinzelt kann ich Fledermäuse ausmachen, die zu ihrem Weg in die Nacht hinein ansetzen. Sie sind genauso frei, wie ich es momentan bin und bei diesem Gedanken stiehlt sich ein - wenn auch klitzekleines - Lächeln auf mein Gesicht.
Irgendwie schaffe ich es, noch schneller zu werden. Wenn ich messen würde, wäre die Durchschnittsgeschwindigkeit meines aktuellen Lauftempos wahrscheinlich mein neuer Rekord, aber das ist mir jetzt egal.
Ich laufe meine gewohnte Runde, diesmal die extra große, damit ich auch extra lange weg bleibe. Na ja, eigentlich tue ich das nicht deshalb, sondern einfach nur, weil ich es wirklich mal wieder nötig habe und außerdem einfach süchtig nach diesem Gefühl der Freiheit bin.
Doch natürlich haben alle schönen Dinge irgendwann ihr Ende und so kommt es, dass ich etwa zwei Stunden später wieder an der Kreuzung bin, an der ich vorhin den Mann mit seinem Hund getroffen habe. Fühlt sich irgendwie wie eine Ewigkeit an, seit ich das letzte Mal hier war.
"Carter! Hey, Carter, warte doch mal!", höre ich eine Stimme hinter mir. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Gestalt auf mich zu rennen.
Das kann doch nicht sein verdammter Ernst sein.
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Hey, hey, hey 🦉 (cheetahxsingh on-the-ground you know 😉),
Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen und das Ende euch neugierig auf das nächste gemacht hat 😁.
Habt ihr Vermutungen, wer da nach Carter ruft?
Wie dem auch sei, ich wünsche euch noch einen schönen Abend und bis Sonntag 👋🏻.
Man liest sich (hoffentlich) 😊.
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