-𝕋𝕙𝕚𝕣𝕥𝕪 𝔽𝕚𝕧𝕖-

Das Bild in der Küche hängt schief. Maryse habe ich noch nicht darauf angesprochen, aber sie hat es selbst bereits gesehen. Da muss ich sie auch nicht mehr ansprechen.

Heute war ich der Meinung, in der Küche essen zu müssen – was sich anhand der Tatsache, dass dieses verdammte Bild schief hängt, als großer Fehler entpuppt hat.

Menschliches Versagen ist aber nun mal unvermeidlich, deshalb esse ich weiter, ein Auge immer auf dem Bild. Wer weiß, vielleicht springt ja irgendein Fabelwesen raus?

Misstrauisch mustere ich das Bild weiter. Darauf abgebildet ist ein Mensch – schwer zu sagen, welchen Geschlechtes –, aus dessen Ohren und Augen Sonnenblumen wachsen. Die Haare sind olivgrün und kurz, die Haut ebenso dunkel wie meine.

"Willst du es nicht gerade hängen?", fragt Maryse, ganz vertieft in ihre Zeitschrift, in der es um irgendwelchen Klatsch und Tratsch geht.

"Will ich das?", stelle ich mir selbst noch einmal die Frage und lege meinen Kopf nachdenklich schief.

Letztendlich gebe ich meinem Sinn für Ordnung nach und richte das Bild wieder ordnungsgemäß. Bevor ich mich jedoch erneut an den, mit Barhockern ausgestatteten, Tresen zu Maryse setze, rümpfe ich abfällig die Nase und lege einen Sprint in das obere Stockwerk hin, um dort sämtliche, noch offene Fenster zu schließen.

Unsere neuen Nachbarn, die Carstairs', lieben es, die ganze Straße mit ihrem Qualm zu verpesten. Wie kommt man darauf, Anfang November draußen zu sitzen und ein Feuer anzumachen?

Kopfschüttelnd setze ich mich wieder an den Tisch, was für ein blöder Tag.

"Was war los?", fragt Maryse, die immer noch nicht von ihrer Lektüre aufsieht, wodurch sie natürlich auch nicht sieht, wie ich mit den Schultern zucke.

"Unsere wundervollen Nachbarn waren der Meinung, ein Feuer machen zu müssen. Ich war dann mal so freundlich und habe die Fenster geschlossen. Solltest du an einer Kohlenstoffmonooxid-Vergiftung sterben wollen, sag mir bitte Bescheid, damit ich sie wieder öffnen kann." Wieder setze ich mich auf meinen Platz und grummel vor mich hin.

"Bist du von irgendetwas gernervt, Carter?" Über den Rand der Zeitung hinweg hebt sie ihren Blick und sieht mich forschend an.

"Ich und genervt?" Ich verfalle in spöttisches Lachen, dann bleibt es mir schlagartig im Halse stecken. "Ja", erwidere ich dann ganz ernst. "Der Sohn der Carstairs, Marco, hatte am Anfang des Schuljahres eine Auseinandersetzung mit Zach. Ist ein bisschen kompliziert, aber ich kann ihn trotzdem nicht leiden. Ich verstehe auch nicht, warum seine Familie jetzt hierher gezogen ist, haben die nicht vorher in Rutledge gewohnt? Meinetwegen hätten die da ruhig bleiben können."

"Carter." Ihr Blick ist mahnend. "Wenn du ihnen positive Energie entgegen bringst, werden sie dir auch positive Energie zurück geben, also sei gefälligst nicht so fies." Nochmal rümpfe ich die Nase und kratze dann kurz.

"Manchmal hasse ich deine wunderbar klugen Ratschläge", ist das einzige, das ich erwidere und sie beginnt schelmisch zu grinsen.

Geschlagene siebzehn Minuten schweigen wir uns an, die einzigen Geräusche sind das Ticken der Uhr, das Umblättern der Seiten in Maryse' Zeitschrift und mein Kauen.

"Montag gehen wir in die Halle", verkünde ich, als hätte ich das nächste Weltwunder entdeckt und Maryse lächelt mich an.

"Das ist schön. Hattet ihr schon Sprint?" Okay, ab jetzt ist Vorsicht geboten. Sie hat ihren Psychologen angeschalten, ein falsches Wort und mir drohen stundenlange Gespräche über – für mich – völlig irrelevante Themen.

"Sonst würden wir kaum in die Halle gehen, oder?" Ich ziehe meine Mundwinkel nach oben, um meinen nüchtern gesprochenen Worten die trotzdem übrig gebliebene Schärfe zu nehmen.

"Da hast du auch wieder Recht." Kurz denkt sie nach, welche Psychologen-Frage sie als nächstes stellen kann, dann fällt ihr allem Anschein nach eine ein. "Hast du dich eigentlich dazu entschieden, in einem Club mitzumachen?"

"Mister Doyle hat mir angeboten, in den Leichtathletik-Club zu kommen, aber ich denke, ich werde vorerst verzichten. Also, ich mag sprinten und Langlauf, aber der Rest ... da passe ich lieber. Der Volleyballclub sucht noch Mitglieder, vielleicht kann ich ja da hin."

„Das wäre gut. Du weißt ja, wie meine Meinung zu sozialen Kontakten und der Gruppengemeinschaft ist." Sie lächelt und wieder einmal frage ich mich, warum ich den Grund dafür nicht verstehe, aus dem sie das tut.

Warum tun Menschen überhaupt irgendetwas? Ist doch völlig sinnlos, schließlich lebt man, um letztlich zu sterben. Macht es einen Unterschied, ob man etwas getan hat, oder ob man einfach da saß und seine Zeit verstreichen ließ? Im Endeffekt doch eigentlich auch nicht mehr.

Maryse' linker Zeigefinger stupst meinen Unterarm an und fragend sehe ich in ihre Richtung. Dabei ziehe ich fast halb-automatisch meine linke Augenbraue in die Höhe, was sie erneut zum Schmunzeln bringt.

Und natürlich verstehe ich es erneut nicht.

„Worüber denkst du nach?", will sie dann aber wissen und schlagartig verschwindet das Schmunzeln auf ihren Lippen.

Auf ihre Frage kann ich keine ausreichende Antwort geben. Meine Gedanken kann man einfach nicht in Worte fassen, zu schnell gehen sie in zu viele Richtungen. Mit der Zeit habe ich gelernt, mich ein wenig zu sortieren, allumfassende Gedankengänge zu vermeiden, aber nicht die Fähigkeit aufzugeben, in mehr als eine Richtung zu denken.

Viele Menschen können das nicht, dieses In-mehrere-Richtungen-Denken. Ich weiß nicht, ob sie es verlernt haben, oder nie erlernt haben, aber in jedem Fall wäre es ziemlich traurig.

Außerdem ist es irgendwie wirklich unsinnig, anders Denkende zu bestrafen. Sie können schließlich nichts dafür, dass sie nun mal mehr als nur die produktiv genutzten zehn Prozent ihres Gehirns ausschöpfen wollen, während andere sich auf ihrem Erfolg ausruhen und nichts weiter tun, als eben einfach nur da zu sein.

"War mein Vater auch Linkshänder?", frage ich, aus Reflex die Vergangenheit benutzend. Vielleicht lebt er ja noch und ist glücklich irgendwo da draußen – glücklich ohne mich.

Maryse nickt seufzend. "Ja, das war er. Dein Großvater auch." Wehmütig sieht sie mich an.

Ich sehe aus wie er. "Du erinnerst dich an ihn." Wieder lege ich den Kopf schief und jucke meine Nase.

"Ja. Sie ist ... ein wenig komisch, meine Beziehung zu ihm meine ich." Forschend mustert sie immer noch mein Gesicht. Anscheinend sehe ich meinem Vater ähnlicher, als ich ursprünglich dachte; mehr als nur seine Haare und Hautfarbe scheinen in meinen Genen verankert zu sein.

Vielleicht sind meine Gesichtszüge seinen ähnlich. Meine Nase, meine Wangenknochen, mein Kinn.

"Inwiefern komisch?", hake ich nach und sie seufzt einmal theatralisch auf. Ah, so komisch, macht natürlich Sinn. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin, ist ja wirklich unerhört.

Ich habe das drängende Gefühl, endlich zu erfahren, wer meine Eltern sind – wer ich bin. Diese Information wurde mir bisher nämlich immer vorenthalten.

Nach endlos langem Schweigen, fängt sie an zu reden: "Dein Vater war drei Jahre älter als ich. Unsere Eltern sagten immer, so ist es ausgeglichen; seien Mädchen doch ein wenig schneller reifer. Wir waren ziemlich normale Geschwister, haben uns angemessen oft gestritten, aber jedes Mal wieder vertragen.

Als unsere Mutter starb, war dein Vater, Nicolás, gerade fünfzehn, ich selbst zwölf. Im Haushalt haben wir die Führung übernommen, unser Vater war nämlich nicht so oft daheim, was daran lag, dass er noch andere Kinder hatte, wir also nicht seine einzigen waren. Unsere Halbgeschwister haben wir nie wissentlich kennen gelernt – sie waren älter als wir, hatten fast alle selbst schon Kinder.

Unser Vater, Edward, hat dieses Haus gekauft, jeden Sommer sind wir hier hoch gefahren. Bis heute weiß ich nicht, warum genau er mit meiner Mutter, einer gebürtigen Mexikanerin, die für die Firma seines Vaters gearbeitet hat, nach Mexiko gegangen ist, als sie jünger waren; hier hätten sie wahrscheinlich ein besseres Leben gehabt.

Deiner Mutter, Ivy, begegnete dein Vater, als er einundzwanzig, sie zweiundzwanzig war. Schon fünf Monate später kam die Einladung zu ihrer Hochzeit, auf der sie zwei Monate danach dann verkündeten, dass deine Mutter mit dir schwanger sei.

Es war eine große Überraschung für unsere ganze Familie, denn Nicolás wollte eigentlich nie Kinder haben oder heiraten. Ich habe ihn bewundert, sowohl dafür, dass er nach außen hin so stark wirkte als auch dafür, dass er das alles ganz locker managen konnte, als sei es nichts.

Als du geboren wurdest, war ich die stolzeste Tante, die du dir vorstellen kannst. Du warst ein süßes Baby, immer ein wenig ruhig, aber wenn du gelacht hast, hat das den ganzen Raum erhellt. Das hat deine Mutter auch immer gesagt.

Deine Eltern haben, bis beide eine feste Arbeit hier in Amerika gefunden haben, noch im damaligen Haus deines Großvaters gelebt, aber für Ivy war von Anfang an klar, dass sie zurück in ihre Heimat geht, deshalb hat sie meinen Bruder überzeugt. Sie war willensstark und tough, außerdem hatte sie deinen Vater wirklich gut unter Kontrolle.

Als ihr umgezogen seid, war ich bereits fertig mit meinem Psychologiestudium und bin euch ein halbes Jahr später nachgezogen, in dieses Haus hier. Ihr habt ebenfalls hier in der Nähe gewohnt, ungefähr eine Stunde entfernt, in Sandy Springs.

Deine Eltern und ich haben uns fast jedes Wochenende gesehen, manchmal warst du dabei, manchmal nicht. An deinem vierten Geburtstag haben sie eine Feier für dich veranstaltet, haben einen Kuchen gebacken und ein paar deiner Kindergartenfreunde eingeladen. Warum auch immer warst du der einzige, der auf dieser Party keinen Spaß hatte.

Du hast dich in deinem Zimmer verschanzt und zugeschlossen. Als deine Mutter an der Tür geklopft hat, hast du gesagt, deine Geburtstagsgäste seien dir geistig zu eingeschränkt und dass du nicht mit ihnen reden wolltest, weil sie dich womöglich mit ihrer Dummheit anstecken.

Seit dem war deinen Eltern klar, dass du – nicht nur deine Intelligenz, sondern auch deine wahnsinnige Beobachtungsgabe – ein ganz besonderes Kind bist. Man hat dich verschiedenen Tests unterzogen, hat dich untersuchen lassen.

Ich habe dir das bis heute nicht erzählt, weil ich dachte, du würdest so zurecht kommen. Schließlich hattest du Kathy und alles andere war dir egal. Meistens habe ich versucht, dich so normal wie möglich zu behandeln; eine ausreichende und angemessene Ausbildung konnte ich dir leider nicht ermöglichen, aber ich dachte, wenn du auf eine normale Schule mit normalen Kindern gehst, knüpfst du vielleicht ein paar mehr soziale Kontakte.

Die Ärzte sagten damals, dass es für dich schwierig sein wird. Veränderungen, und wenn es nur ganz kleine sind, können dich zum Ausflippen bringen, soziale Kontakte – das sagten sie zumindest – wären nahezu unmöglich aufzubauen und wenn doch dann werden sie schnell wieder kaputt gehen.

Kurz nach deinem vierten Geburtstag haben sie AS – das Asperger-Syndrom – bei dir diagnostiziert. Die Ärzte meinten außerdem, dass es schwer werden könnte, mit deiner Denkgeschwindigkeit und den plötzlich aufkommenden Themenwechseln mitzuhalten, aber deine Eltern haben wirklich gut für dich gesorgt.

Wir haben uns immer noch jedes Wochenende gesehen, von da an haben sie dich immer mitgebracht, zum einen, weil sie dich nicht allein oder bei jemand anderem lassen wollten und zum anderen, damit ich schauen kann, ob sich etwas an deiner Verhaltensweise ändert.

Deine Eltern haben immer ihr Bestmögliches gegeben und eigentlich lief auch alles gut, bis Ivy mich eines Tages angerufen hat. Völlig fertig hat sie mir erzählt, dass Nicolás weg sei, du mit ihm. Ich versuchte sie zu beruhigen, sagte, dass er sicher nur einkaufen sei oder etwas in der Art, aber sie ließ sich nicht beruhigen. Zu dieser Zeit warst du gerade sechs geworden.

Es war tiefster Dezember und außerdem Glatteis, trotzdem kreuzte deine Mutter dann drei Stunden nach dem Anruf bei mir auf. Sie war völlig durchnässt, weinte, hielt dich aber fest im Arm. Du hast weder geweint, noch gelacht, hast mich einfach nur angesehen, dann deine Mom und schließlich die Augen geschlossen, um zu schlafen. Sie drückte dich mir in den Arm und verschwand wieder.

Ein paar Tage später wurde mir berichtet, deine Eltern seien unter 'mysteriösen Umständen' ums Leben gekommen, gesagt, wie genau, wurde mir nicht. Ich hatte nicht einmal die Chance, eine Beerdigung zu arrangieren, ihre Leichen waren wohl irgendwie verschwunden, oder so. Aber ich persönlich vermute, dass man sie einfach nicht freigegeben hat für eine Beerdigung.

Von da an habe ich dich bei mir aufgenommen und großgezogen, habe, genau wie deine Eltern, alles gegeben, damit du ein halbwegs angenehmes Leben führen kannst und außerdem versucht, dir deine Freiheiten zu lassen.

Tja, das ist die Geschichte, die ich dir dein Leben lang verheimlicht habe. Vielleicht verstehst du ja, warum ich das getan habe, wenn nicht, ist das auch okay, denn ich bereue es nicht. Wenn ich es dir erzählt hätte, dann wärst du noch in dich gekehrter, als so schon.

Du hast keine Ahnung, wie froh ich war, als du mir Tristan vorgestellt hast. Ich dachte, dass es jetzt besser werden würde, du müsstest nicht warten, bis jemand, der deine Intelligenz besitzt, deinen Weg kreuzt.  Selbst nach neusten Ereignissen bin ich froh, dass du es mit ihm – einem neurotypischen Menschen – versucht hast, das wird dir später sicher helfen."

Ich schlucke. Blinzele, schlucke nochmal. Kurz sehe ich auf den Tisch, dann wieder zu Maryse.

Genau weiß ich nicht, ob sie von mir erwartet, dass ich das ganze kommentiere. Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich, dass das nicht der Fall ist.

Noch immer kann ich nichts sagen. Auch nicht, als sie aus unerklärlichen Gründen anfängt, zu weinen. Ich atme ruhig, vielleicht ein wenig zu flach, aber definitiv ruhig.

Sie hat Recht. Dass ich andere Menschen manchmal ziemlich dumm finde, meine ich. Neurotypisch nennt man sie also. Das Wort habe ich irgendwo schon mal gehört. Aber ist ja eigentlich auch egal.

Als ihre Arme sich um meinen Oberkörper schlingen und sie schluchzend ein "Ich hab dich lieb" an meine Schultern murmelt, kann ich nur an die Decke starren und hoffen, dass ihr sentimentaler Moment gleich vorbei ist.

Meine Reaktionsschwäche hat sogar noch einen anderen Namen: Asperger-Syndrom also.

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Sorry, dass das Kapitel so lang geworden ist, aber ich konnte euch nicht antun, irgendwo mittendrin einen Cliffhanger zu machen 🙈.

Wie findet ihr so die Geschichte von Carter und seinen Eltern?

Ich freue mich auf eure Rückmeldungen 😁.

Schönen Dienstag und bis Freitag 😊.

Man liest sich (hoffentlich)🤗.

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