-𝕋𝕙𝕚𝕣𝕥𝕪 ℕ𝕚𝕟𝕖-
Als ich das nächste Mal aufwache, befinde ich mich nicht wie erwartet in einem Krankenhauszimmer, sondern in meinem Bett.
Kathy klammert sich an meinem Arm fest, die Augen fest zusammengekniffen, aber es sieht nicht so aus, als würde sie schlafen.
"Kaths?", frage ich vorsichtig und ihr Kopf hebt sich sofort an. Meine Unterlippe zittert wieder, aber ich unterdrücke den Drang, indem ich drauf beiße.
"Hey", lächelt sie und immer noch ein wenig müde reibe ich mir derweil durch mein Auge. Dann sucht mein Blick die Uhr über meinem Bett und ich finde dadurch schnell heraus, dass es ziemlich genau fünfzehn Uhr ist.
Während ich die angesammelte Spucke runterschlucke, setze ich mich auf, nur um festzustellen, dass irgendwer mein Oberteil von seinem rechtmäßigen Platz – also meinem Oberkörper – entfernt hat und es jetzt am Boden liegt, dort, wo ich ein paar Stunden zuvor noch eine Art Nervenzusammenbruch hatte.
Wenigstens – und damit kann ich mich zumindest ansatzweise beruhigen – hängt es nicht in Fetzen an mir dran, so wie in meinem Traum, denn das wäre mit Sicherheit ein schlechtes Zeichen. Das kann ich sogar sagen, obwohl ich nicht an das Schicksal oder einen Gott glaube – oder vielleicht kann ich das ja auch gerade deswegen sagen?
"Ich habe dich lieb, Carter, ja? Ganz, ganz doll lieb." Kathy klammert sich noch näher an mich und einen kurzen Moment bin ich ein wenig überfordert.
Zuerst reiße ich die Augen auf, kneife sie dann jedoch zusammen und erwidere Kathys Beinahe-Umarmung. Was genau mich dazu bewegt, wage ich nicht zu begründen, weshalb ich einfach nichts tue und mich leiten lasse.
"Und jetzt gucken wir einen Film, da ich nämlich keine Lust habe, nach Hause zu gehen." Fröhlich lächelnd schnappt sie sich meinen Arm und zieht mich hinter sich her nach unten ins Wohnzimmer.
Da ich in meinem eigenen Zimmer keinen Fernseher habe – Maryse hätte mir zwar einen gekauft, aber ich wollte keinen –, bleibt die einzige Möglichkeit das Wohnzimmer.
"Ah, gut, dass ihr gerade kommt, ich gehe jetzt nämlich ncoh ein paar Besorgungen machen und da Carter mir verboten hat, allzu oft Treppen zu steigen, wäre mir nir übrig geblieben euch zu rufen. Aber ihr habt geschlafen, deshalb wäre es kaum möglich gewesen euch zu wecken, nur indem ich-" Ihr Redeschwall geht mir zu schnell. Also meinem Gehirn nicht, aber meiner Meinung nach spricht sie zu schnell und scheint insgesamt ziemlich nervös zu sein.
"Mit wem triffst du dich jetzt, Maryse?", frage ich, während ich meine Fingerkuppen mustere, wodurch mir auffällt, dass ich dringend mal wieder meine Fingernägel schneiden sollte.
Dass sie sich mit jemandem trifft, ist leicht erkennbar. Sie steht ein wenig unsicher da, ihre Hände zittern, deshalb schließe ich, dass sie nervös ist. Wenn sie keine Arbeitspause machen würde, hätte ich anhand dieser Beobachtungen gesagt, es würde sich bei dem Treffen möglicherweise um ein Vorstellungsgespräch handeln.
Aber da gibt es ja auch noch mehr Dinge, die fast sofort auffallen.
Zum Einen trägt sie eine Halskette, die sie nur zu ganz besonderen Anlässen aus der ersten Schublade des Schreibtisches in ihrem Arbeitszimmer holt. Des weiteren hat sie Lidschatten aufgetragen und einen Lidstrich gezogen, was sie normalerweise ebenfalls nicht tut. Ihre Kleidung ist zu hübsch für eine einfache Besorgung in der Stadt. Zu schlicht für eine Hochzeit, zu elegant für einen Shoppingtrip, also ein Treffen mit einer wichtigen Person.
Aber diese Person scheint nicht so wichtig zu sein, dass sie es nötig hätte, ihr schickstes Outfit – das kein Kleid ist – auszusuchen.
"Mit einem alten Bekannten." Sie nimmt sich den Lippenstift, der auf dem Couchtisch liegt und holt aus ihrer kleinen, perlmuttfarbenen Handtasche einen Handspiegel, um schließlich den Lippenstift, der schon auf ihren Lippen haftet, erneut nachzuziehen.
Diesen 'alten Bekannten' schien sie früher ein wenig näher gekannt zu haben, als dass man ihn einen Bekannten nennen könnte. Freund hätte wahrscheinlich besser gepasst, aber Maryse hat mir ihre Definition von 'Freundschaft' nie erklärt, weshalb ich auch nicht genau sagen kann, ob er für sie ein Freund war.
Da sie die maskuline Form – also einen Bekannten – genutzt hat, gehe ich natürlich davon aus, dass es sich bei diesem um ein männliches Wesen handelt, wenn ich falsch bin, wird sie mich sicher berichtigen.
"Und wer ist er?", will ich wissen, zu neugierig, um die Fragerei zu lassen.
Sie packt den Lippenstift in ihre Tasche und sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, dann streckt sie mir ihren linken Zeigefinger entgegen, mit dem sie kurz zuvor den Lippenstift in ihrer Hand stabilisiert hat.
Kathy dagegen macht es sich auf der Couch gemütlich, nicht bevor sie mithilfe der Fernbedienung den Fernseher eingeschalten hat.
"Du", Maryse' Finger zeigt immer noch auf mich, "bist schlicht und ergreifend viel zu neugierig." Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie sich am Ellenbogen kratzt und fast automatisch wandert meine Hand zu meiner Nase.
"Da könntest du sogar Recht haben", erwidere ich schlicht; meine Finger kratzen meine Nase und ich fühle mich wie der größte Sünder, den die Welt je gesehen hat.
"Ich bin jetzt weg." Sie zeigt auf die Tür zum Flur. Langsam und im Rückwärtsgang befindlich macht sie sich auf den Weg zur Haustür, ihr Blick durchgängig auf mich gerichtet.
"Wenn du nicht schwer hebst und dich nicht zu sehr bewegst, geht das für mich in Ordnung." Und ein weiteres Mal denke ich über das Erwachsensein nach; vor allem darüber, wer von uns beiden das am meisten in sich trägt.
Natürlich komme ich wie immer auf mich selbst, aber das ist anhand vorliegender Fakten auch kaum verwunderlich.
Kathy klopft auf das Sofa neben sich, ungefähr zwei Sekunden, nachdem die Haustür zugefallen ist.
"Komm her, Carter." Ich sehe, die Augenbrauen in die Höhe gezogen, skeptisch in ihre Richtung, bleibe aber an meinem Platz stehen.
"Ist das eine Bitte?", will ich wissen, nicht genau sicher, ob es sich um einen Scherz handeln soll. Wenn ich darüber lachen könnte, wäre es vielleicht einer, aber da ich das nicht kann, gehe ich davon aus, dass ich die Worte nicht als einen gemeint habe.
"Nein, ein Befehl, also komm jetzt her." Nachdrücklich klopft sie zum wiederholten Male auf die Couch, als würde sie sie verprügeln und sofortig mache ich mich auf den Weg zu ihr.
Als ich mich in Bewegung gesetzt habe, hat sie die Couch noch fünf Sekunden für sich allein, bevor ich mich schließlich darauf niederlasse und abwartend in Richtung des Fernsehers starre.
Es läuft eine Sendung, die ich nicht witzig finde und die Kathy deswegen ausschaltet. Stattdessen sucht sie nach einem Film, den ich noch nie geguckt habe, wahrscheinlich in der Hoffnung, ich würde ihr nicht vorher schon verraten, was passieren wird.
Dass sie sich immer wieder traut mit mir Filme-Abende zu veranstalten, obwohl sie sich durchaus im Klaren darüber ist, dass ich sie spoilern werde – was ja nicht einmal absichtlich geschieht –, verstehe ich nicht und vielleicht kann oder will sie es mir ja irgendwann erklären.
Bis sie geht, schauen wir zwei Filme und einen fangen wir an. Bei dem letzten nickt sie immer wieder weg und ich entscheide mich dafür, sie nach Hause zu bringen.
Da sie zu Fuß nicht weit von Maryse' Haus entfernt wohnt, machen Kathy und ich einen kurzen Spaziergang durch das abendliche Madison und begegnen dabei ein paar Leuten, die freundlich grüßen. Keiner von ihnen verwickelt uns in ein Gespräch, worüber wir beide auch ziemlich froh zu sein scheinen, da wir jedes einzelne Mal, wenn jemand an uns vorbei gegangen ist, ohne etwas gesagt zu haben, erleichtert aufatmen.
Vor ihrer Haustür stehenbleibend sehen wir uns in die Augen und schließen uns dann fest in die Arme. Ich bin froh, dass das ganze auch ohne Worte funktuoniert, denn obwohl ich für meinen Geschmack heute schon zu viele Umarmungen bekommen habe, ist es mal wieder nötig gewesen.
"Ich hab dich auch lieb", murmele ich, drehe mich um und mache mich – ohne weitere Worte oder einen Blick zurück – auf den Weg nach Hause.
----
Die Frage, wie genau ich den Lateinunterricht überlebt habe, stelle ich mir schon gar nicht mehr.
Tristan hat mich nämlich ziemlich mit seinen Blicken durchlöchert, als sei es seine Pflicht mich zu stalken – oder mich in einen Schweizer Käse zu verwandeln, sicher bin ich da noch nicht ganz.
Irgendwie habe ich es jedenfalls geschafft und sitze jetzt neben Kathy in der Cafeteria. Das Essen vor mir sieht, genau wie sonst auch immer, ziemlich unappetitlich aus, aber mit Maryse' Essen kann man sowieso nichts vergleichen.
"Hey, ihr." Eine Hand legt sich auf die Stuhllehne meines Stuhls, eine andere auf meinen Rücken und ich gehe davon aus, dass beide Hände zum selben Körper gehören.
Kathy und ich drehen uns synchron um und blicken zu Daniel Morgan auf, der es wieder einmal geschafft hat, sich unbemerkt an mich heranzuschleichen.
"Hey, Daniel, na, was machst du hier?" Kathys Frage hätte selbst ein Außenstehender beantworten können. Denn, jetzt mal ehrlich: Was sollte man in einer Cafeteria anderes machen, als essen? Na ja, abgesehen davon, dass ich selbst nicht esse und einige andere auch nicht, kommt man hier an unserer Schule in die Cafeteria, um zu sehen und gesehen zu werden.
Das ist irgendwie schon immer so gewesen; was hier in diesem Raum passiert, ist jedes Mal besser, als die Theateraufführungen, die in regelmäßigen Abständen in der Aula aufgeführt werden.
Denn hier in der Mensa wird nicht gespielt. Jeder ist so, wie er wirklich ist, oder zumindest so, wie seine Maske ihm erlaubt, wirklich zu sein.
Ich glaube, ich sollte aufhören, so poetisch zu sein, ansonsten kriege ich wieder diese verdammten Zuckungen. Vor allem wenn es solch traurige Poesie ist.
"Eigentlich wollte ich Carter fragen, ob er jetzt mit zu mir kommen will." Kathy und Daniel sehen mich beide an und einige Minuten lang verstehe ich nicht richtig, was sie von mir wollen.
"Warum tust du es dann nicht?" Fragend sehe ich ihn an, denn genau das ist es, was ich die letzten Minuten nicht verstanden habe.
"Carter, hast du vielleicht Lust jetzt mit zu mir nach Hause zu kommen? Weil wir ja in einem Sportkurs sind und da Mister Doyle auf dieser Exkursion mit den Zehnten ist, wir jetzt Ausfall haben ..." Er führt seine Worte nicht weiter, aber ich verstehe – zumindest im Ansatz –, was er ausdrücken will.
"Klar habe ich Lust", meine ich schulterzuckend. Kathys Augenbrauen machen komische und unergründliche Bewegungen, ein schneller Wechsel aus oben und unten, was wirklcih verdammt merkwürdig aussieht.
Daniel bekommt davon nichts mit, er grinst einfach nur in meine Richtung. Als er dann jedoch mein Handgelenk nimmt – eine seiner Hände ist immer noch auf meinem Rücken – und Kathy ansieht, hört sie in sekundenschnelle mit ihren Gesichtsübungen auf und lächelt ihn stattdessen an.
"Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn dir jetzt entführe? Es klingelt gleich, dann haben wir Schluss." Er sieht bekräftigend auf die Uhr, die über dem Nachbartisch hängt und dann wieder auf mein Handgelenk in seiner Hand.
"Nein, nein, nimm ihn ruhig mit." Ihr Lächeln wirkt fast beschwichtigend, das Echo ihres folgenden Lachens hallt in meinem Kopf wieder.
"Warum fühle ich mich wie ein Hund?", frage ich rhetorisch und ernte dadurch nur erneutes Lachen von beiden. So viel dann zum Thema, dass man Gefühle ernst nehmen sollte.
Genau zum Klingeln stehe ich auf und bevor Daniel mich aus der Mensa schleift, zieht Kathy mich noch in eine Umarmung.
"Passt auf euch auf und denkt an ein Kond-" Ich halte ihr den Mund zu, bevor sie weiter sprechen kann und verdrehe die Augen.
Alles aus einem anderen Blickwinkel, wenn man die Stelle des Lichteinfalls, sprich die Pupille, auf einen anderen Platz koordiniert, was mich für einen kurzen Moment fasziniert.
Doch dann erlange ich meinen Sinn für Realität wieder und laufe ohne zu zögern hinter Daniel hinterher. Dabei sind mir die Blicke der anderen ziemlich egal, auch wenn ich ihr Tuscheln hören kann.
"Die werden jetzt gleich bestimmt Sex haben", munkeln sie an einem Tisch.
"Morgans Fliegenfalle hat also wieder zugeschlagen", hört man an einem anderen Tisch.
Daniel und ich sehen uns an und laufen einfach weiter, die anderen ignorierend, schlicht darauf konzentriert, den Ausgang zu erreichen.
Dass ich jetzt, wo Daniel Morgan mein Handgelenk immer noch in der Hand hält, sichtbar für die anderen geworden bin, sollte nicht nur mir, sondern auch ihnen selbst Sorgen machen.
Ich fahre mit ihm mit und schreibe Maryse, dass wir später nochmal zur Schule fahren müssen, um mein Auto zu holen. Genau weiß ich nicht warum, aber es wäre komisch für mich gewesen, Daniel mein eigenes Auto zu präsentieren.
Als wir bei ihm ankommen, umschließt seine Hand wieder mein Handgelenk und erneut tauschen wir verheißungsvolle Blicke aus. Was genau sie zu bedeuten haben, davon habe ich keinen blassen Schimmer, aber dass sie etwas bedeuten, ist ziemlich klar.
Das Haus, in dem Daniels Familie wohnt, ist ein normales Einfamilienhaus und auch von innen ist es nicht viel mehr als das. Man merkt, dass der Gestalter des Hauses Ahnung von seinem Fach hat, jedes Dekorationsdetail ist auf die anderen abgestimmt.
"Komm mit, mein Zimmer ist dort, am Ende des Flurs." Daniel lächelt mich an und in genau diesem Moment schießt mir in den Kopf, warum genau er mich ausgewählt hat, jetzt mit ihm diesen Nachmittag zu verbringen.
Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich mir sein Zimmer an und nehme alles in mich auf. Schreibtisch, Schrank, Fernseher, Stuhl, Kommode mit Büchern, noch ein Schreibtisch, aber kein dazugehöriger Stuhl.
"Warum hast du zwei Schreibtische?", frage ich, aber anhand der Dinge, die auf dem zweiten Tisch liegen, kann ich mir schon denken, warum.
"Oh, na ja, der hier ist für Dinge, die die Schule oder die Arbeit betreffen. Und der dort drüben ist für meine Zeichnungen. Du musst wissen, dass ich es liebe, zu malen. Ist das komisch?", will er dann besorgt wissen und plötzlich ziert ein kleiner, kaum sichtbarer roter Schimmer seine Wangen.
"Nein, ich finde das nicht komisch. Ich mag Kunstwerke und die dazugehörigen Künstler." Diese locker klingenden Worte verlassen schneller meinen Mund, als ich richtig darüber nachdenken kann, aber da Daniel mich erleichtert ansieht, scheine ich genau die richtigen Buchstabenfolgen gewählt zu haben.
Er zögert kurz. "Wollen wir uns vielleicht auf das Bett setzen?" Er zeigt auf sein Bett und wir setzen uns beide hin. Dann schweigen wir ein paar Minuten, ehe Daniel sich zu mir dreht.
Ich habe das Gefühl, er wolle etwas sagen, spricht aber nichts aus, weshalb ich kurz ein Auge zukneife – es aber nicht vollständig schließe – und ihn dann wieder ansehe.
Daniel beugt sich ein bisschen vor, aber ich hebe abwehrend die Hände. "Bitte ... warn mich vor, wenn du mich jetzt küssen willst, ja?", frage ich und ziehe die Augenbrauen panisch nach unten.
Aber Daniel lacht nur. "Ich hatte nicht vor, dich zu küssen, Carter, ehrlich nicht. Eigentlich wollte ich viel eher mit dir über ein anderes Thema reden." Erleichtert lasse ich meine Hände wieder sinken und sehe ihn halb-interessiert an.
"Um was geht es denn?", frage ich neugieriger, als ich es eigentlich bin, was einen unerklärlichen Glanz in Daniels Augen hervorruft.
"Es geht um Noah."
----
Ich lasse das ganze jetzt einfach mal so stehen, freue mich in jedem Fall auf eure Theorien und wünsche euch noch einen schönen Abend, bis Sonntag. 😁
Man liest sich (hoffentlich). 👋🏻
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top