-𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪 𝕋𝕨𝕠-

Point of view Tristan

"Wann genau?", fragt meine Mutter meinen Vater, der zeitunglesend am Abendbrotstisch sitzt und meinen Bruder und mich zu ignorieren scheint.

"Sonntag wäre das", antwortet er gelassen und ohne aufzusehen, während mein Bruder und ich enttäuscht auf das Titelblatt starren, da er seine Augen ja versteckt hält.

"Aber Sonntag ist-", will mein Bruder sich beschweren, wird jedoch von unserer Mutter unterbrochen, die ihm etwas von dem Auflauf auf den Teller füllt und einen strengen Blick in unsere Richtung wirft.

"Euer Vater muss das tun, Jungs. Ihm ist mit Sicherheit bewusst, dass an dem Tag Tristans letztes Spiel vor der Winterpause ist, aber es ist nun mal nicht zu verschieben. Und jetzt esst endlich, sonst wird eurer Essen noch kalt." Sie zeigt nachdrücklich auf unsere Teller, die mit Auflauf gefüllt sind.

Leicht murrend machen Jordan und ich uns daran, mit dem Essen zu beginnen, beide in Gedanken bei dem bevorstehenden Spiel und der Tatsache, dass unser Vater anscheinend etwas Besseres zu tun hat, als unser eingespielten Tradition nachzugeben.

Denn seit ich vor zwei Jahren mit dem Football angefangen habe, war er bei fast jedem Spiel dabei, aber immer und in jedem Fall beim letzten Spiel des Jahres. Das war bei Jordan früher auch so, als er noch auf der High beziehungsweise Middle School war und Rugby gespielt hat.

"Wann fahren wir ins Krankenhaus?", fragt Jordan an mich gewandt, da wir Zarah heute besuchen fahren - seit Anfang November ist das das fünfte Mal und heute ist der neunte des Monats.

Laut den Ärzten ist ihr Zustand relativ stabil, aber vor Thanksgiving wird sie keineswegs raus kommen. Das bereitet mir wirklich Sorgen, denn eigentlich sollte sie überhaupt nicht so lange dort bleiben.

"Nach dem Essen, nehme ich an." Schulterzuckend schaufele ich ein Stück vom Auflauf auf meine Gabel und führe diese an meinen Mund.

Jordan nickt und folgt meiner Tätigkeit, während er Dad hinter der Gabel einen weiteren kritisierenden Blick zuwirft.

"Jordan", stößt dieser ein wenig genervt aus. "Selbst wenn du mich - oder eher die arme Zeitung - jetzt weiter mit deinen Blicken durchlöcherst, wird dir das nicht viel bringen. Es ist eine beschlossene Sache, dass ich dorthin gehe, also bitte reg dich nicht darüber auf. Tut mir wirklich leid für euch." Ob er das ernst meint, weiß ich nicht, aber ich hoffe es für ihn.

"Warum musst du überhaupt zu dieser Universität? Ich dachte, du bist mit deinem Job in Sandy Springs zufrieden." Zögerlich sehe ich ihn an, ich will ihn nicht wütend machen.

Normalerweise ist er ein toller Vater und so, unternehmungslustig, stets freundlich und immer mit einem schlechten Witz auf der Zunge, über den trotzdem jeder lacht. Aber wenn es um seine Arbeit geht, ist er wie eine andere Person und benimmt sich, als sei er ein alleinstehender Mann, der nichts anderes zu tun hätte, als sich in seine Arbeit zu stürzen.

Mein Vater ist Chemiker und muss diesen Sonntag an einer Universität nahe Atlanta einen Vortrag über seine Forschungen halten und erhält dort auch die Chance, das Buch, das er über seine Arbeit geschrieben hat, vorzustellen und an mögliche Interessenten zu verkaufen.

Mich hat der Beruf meines Vaters schon immer fasziniert, aber unsere Fachbereiche gehen fast völlig auseinander. Denn während ich mich später mit Alternativen zu Plastik beschäftigen werde, forscht er mit verschiedensten Stoffen zur Genmanipulation.

Hört sich für Außenstehende immer total toll an, aber dass er dafür ständig arme Tiere töten muss, wenn etwas nicht hinhaut, schockiert mich schon ein wenig.

Während Dad ein Wissenschaftler ist, der gerne neue Dinge ausprobiert, arbeitet Mom als Anästhesistin in einem Krankenhaus in Sandy Springs, wo es fast schon fatal wäre, neues auszuprobieren.

Unsere Eltern fahren immer zusammen zur Arbeit, deshalb besitzen wir auch nur zwei Autos - die beiden eines und Jordan und ich eines -, um zumindest ein bisschen umweltbewusst zu sein.

"Ich würde sagen, dass wir dann jetzt gehen." Jordan wirft mir ausdrucksstarke Blicke zu und augenblicklich nicke ich, um schließlich aufzustehen und meinen Teller in die Spühlmaschine zu bringen.

Nach getaner Arbeit steigen wir in unser gemeinsames Auto und fahren schweigend zum Krankenhaus, um unsere Schwester zu besuchen.

Zumindest dachte ich, dass wir schweigen würden, Jordan hat da andere Pläne für mich.

"Meinst du nicht auch, dass es total unfair ist, dass Dad seine Arbeit uns vorzieht?", fragt er irgendwann, als wir ungefähr die Hälfte des Weges absolviert haben.

"Hast du etwas anderes von ihm erwartet? Ich meine- Du musst hier links abbiegen. Ich meine, er ist so versessen darauf, endlich das zu schaffen, was noch nie jemand geschafft hat, da ist die Familie- Links, habe ich gesagt! Da ist die Familie nicht so wichtig." Ich zucke mit den Schultern, aber er ist konzentriert am Fahren, deshalb bemerkt er das nicht.

"Aber er muss doch trotzdem damit rechnen, dass wir dem ganzen Missgunst entgegenbringen, oder nicht? Er verpasst schließlich das letzte Spiel des Jahres und das in deinem letzten High-School-Jahr. Das kann er doch nicht einfach machen!" Wild gestikuliert er herum und ich schließe einen kurzen Moment die Augen, in Erwartung, gegen einen Baum gefahren zu sein, wenn ich sie wieder öffne.

"Nächstes Mal fahre ich wieder zum Krankenhaus. Wie viele Leute musstest du bestechen, um deinen Führerschein zu bekommen?", frage ich meinen älteren Bruder schnippisch und er schnaubt nur.

"Von wegen bestechen! Ich bin zweimal durchgefallen!" Seine Augenbrauen sind zusammen gezogen, als er vor einer Ampel hält.

"Das merkt man deinem Fahrstil ja überhaupt nicht an", erwidere ich ironisch, aber statt auf meine Sticheleien einzugehen, biegt er rechts ab und hält schließlich auf dem Parkplatz des Krankenhauses.

"Wenn du so weiter machst, bist du derjenige, der mich und Ryan von der nächsten Studeneten-Party abholt", schnaubt er, aber ich grinse nur.

"Schade. Ich dachte, vielleicht fährst du betrunken ja besser, als so." Für diese Worte kassiere ich einen verdienten Schlag auf die Schulter, den ich nicht weiter beachte und stattdessen meinem Bruder voran zur Rezeption des Krankenhauses laufe.

"Guten Tag, was kann ich für Sie tun?", fragt ein blonder Rezeptionist, auf dessen Namensschild ich P. Krueger lesen kann.

"Guten Tag, mein Name ist Jordan Scott und das ist mein Bruder Tristan. Wir würden gerne unsere Schwester, Zarah Scott, besuchen." Wir zeigen jeder unseren Ausweis und gehen dann den – inzwischen bekannten – Weg zu Zarahs Zimmer.

"Zarah?", fragen wir gleichzeitig, als wir das Zimmer betreten und sie sieht von einer Lektüre auf, die sie weglegt, als sie realisiert, dass wir es sind.

"Hey, Jungs, schön, dass ihr da seid." Ihr Lächeln wirkt von Tag zu Tag ein wenig gequälter, als hätte sie wahnsinnige Schmerzen – die sie immer mehr unter ihrer Masse zu erdrücken scheinen.

Wir lächeln zurück, fast gleichzeitig gehen wir zu ihrem Bett – ich vielleicht mit ein paar Millisekunden Zeitverzögerung, da ich näher an der Tür und somit in Jordans Rücken stehe.

"Dad kommt Sonntag nicht mit zum Spiel", platzt Jordan heraus, als für einen kurzen Moment das Schweigen herrscht.

Zarah kann darauf nichts erwidern, sie scheint nur irgendwie in sich zusammenzusacken, als sei das die schaurigste Nachricht in ihrem Leben.

Dabei bin ich eigentlich derjenige, der sauer sein dürfte, schließlich verpasst Dad mein Spiel und nicht das von ihnen. Und ich selbst bin gar nicht sauer, ich finde es einfach nur komisch, dass man seine Arbeit seinen Kindern vorzieht.

Es ist einfach irgendwie unvorstellbar für mich; Dad deswegen ewig lang böse sein, werde ich definitiv nicht.

"Können wir vielleicht über etwas anderes reden?", frage ich ein wenig genervt und ziehe somit die Blicke meiner Geschwister auf mich. "Ich will jetzt nicht daran denken, okay?" Ich grinse ein wenig verzerrt, aber mein Bruder und meine Schwester bemerken die Falschheit dahinter nicht.

Und genau in diesem Moment bin ich ziemlich froh darüber, dass sie nicht wissen, wie sehr es mir tief im Inneren eigentlich weh tut, meine kranke Schwester zu sehen, wie sie da kalkweiß, aber lächelnd, auf einem Krankenhausbett sitzt – oder eher versucht, sich hochzustemmen – und wir uns Dinge erzählen, so wie wir es als Kinder getan haben.

Manchmal ist es doch besser, nicht in die Köpfe der anderen gucken zu können.

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Hi :),

ich dachte mir: "Warum nicht mal ein Kapitel aus Tristans Sicht einschieben?"

Bevor ihr euch wundert, warum er kaum an Carter denkt: Erstens wollte ich nicht zu viel verraten ;) und zweitens ist er, wie man vielleicht gemerkt hat, mit den Nerven völlig am Ende wegen seiner Schwester.

Ich wünsche euch noch einen schönen Abend und bis Sonntag. 😁

Man liest sich (hoffentlich) 😊.

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