-𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪 𝕊𝕚𝕩-
Am ganzen Leib zitternd versuche ich dem eisigen Regen zu entgehen, indem ich meine Hände tiefer in die Taschen meiner Jacke stecke und mich noch ein wenig kleiner mache.
Es war von Anfang an eine blöde Idee gewesen, einfach abzuhauen und jetzt habe ich den Salat.
Einerseits habe ich keine Ahnung, wo ich hin könnte - Kathys Eltern waren schon immer skeptisch, wenn jemand bei ihr geschlafen hat, selbst wenn ich das war, zu Daniel möchte ich nicht, da ich seinem Vater nicht wieder begegnen möchte, Tristan fällt sowieso weg und andere Freunde habe ich nicht -, deshalb irre ich auch seit fast zwei Stunden in der Kälte umher, dauerhaft darüber nachdenkend, welche Möglichkeiten mir jetzt bleiben.
Andererseits friere ich mir den Hintern ab, wenn ich mir nicht schnell etwas einfallen lasse und zurück gehen, nur um ihr noch einmal zu begegnen, werde ich ganz sicher nicht.
Wie soll es mir jemals möglich sein, mit dem Wissen weiterzumachen, dass ich mit einer Frau unter einem Dach lebe, die es fertig gebracht hat, ihren Bruder und seine Frau in den Tod zu treiben? Ich könnte ihr wahrscheinlich nie wieder in die Augen sehen.
Dann fällt mir jemand ein, zu dem ich gehen könnte. Keine Ahnung, ob sie mich aufnehmen wird, aber versuchen kann ich es ja mal.
Dadurch, dass in der Jacke, die ich mir bei meinem Abgang übergeworfen habe, ein wenig Kleingeld zu finden ist und ich sehr gut darin bin, mir Telefonnummern zu merken, steuere ich auf die nächste Telefonzelle zu und wähle.
"Hallo?", fragt eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung und innerlich seufze ich erleichtert auf.
"Elyia? Ich bin's, Carter", melde ich mich zu Wort und hoffe, dass sie sich noch an mib erinnert - bei Neurotypen weiß ich nämlich nie so genau, wie ausgeprägt ihr Gedächtnis ist.
"Was ist passiert, dass du jetzt noch anrufst?", fragt sie, halb verwundert, halb besorgt und ich bete gen Himmel - auch wenn ich nicht gläubig bin -, dass die Verbindung jetzt nicht einfach abbricht.
Aber ich habe Glück, denn ich kriege von ihr noch eine Bestätigung auf meine nächste Frage: "Kann ich zu dir kommen?"
Nachdem sie bejaht hat, ertönt das Freizeichen und ich sinke auf die Knie. Ob ich es schaffe, nochmal aufzustehen, ist ungewiss, aber ich brauche jetzt eine kurze Verschnaufpause.
Als ich mich aufraffe und auf den Weg zu Elyia - und Noah - nach Hause mache, wird mir die Dummheit meiner Entscheidung allzu deutlich bewusst.
Zwar brauche ich zu Fuß vielleicht zehn Minuten zu ihnen - dadurch, dass ich die letzten zwei Stunden wie ein Nomade durch die Gegend gezogen bin, befinde ich mich jetzt in der Nähe ihres Hauses -, aber trotzdem begebe ich mich in die Höhle des Löwen.
Denn was passiert, wenn Tristan jetzt gerade bei Noah ist? Was tue ich dann? Flippe ich aus, bleibe ich ruhig, gebe ich einen abfälligen Kommentar von mir? Ich kann das jetzt beim besten Willen noch nicht sagen, deshalb muss ich versuchen, es einfach auf mich zukommen zu lassen, auch wenn das wirklich nicht einfach wird.
Dadurch, dass ich so in meine Gedanken vertieft war, bemerke ich nur nebensächlich, dass ich bereits bei dem Haus der Churchills angekommen bin.
Elyia sitzt auf den Steinstufen vor der Haustür und schaut penetrant auf den Bildschirm ihres Smartphones, als sei sie dort in irgendetwas sehr wichtiges vertieft. Ihr schlanker Körper steckt in einer schwarzen Lederjacke und einer gleichfarbigen Leggings.
Da ich mir nicht sicher bin, ob sie mich bemerkt hat, räuspere ich mich und sie sieht auf, scheint aber nicht überrascht zu sein, weshalb ich ein paar Schritte auf sie zu mache und meine Mundwinkel kurz nach oben verziehe.
"Da bist du ja. Komm mit." Sie macht eine ausladende Handbewegung in Richtung Haus und knickt ihre Beine ein wenig ein, um sich vom Boden abdrücken und somit aufstehen zu können.
Ich beobachte mit einem gewissen Maß an Faszination, wie sie, ihre Hüften zum Takt ihres Ganges schwingend, den Flur durchquert und die Treppe zu ihrem Zimmer empor steigt.
Von ihrer ästhetischen Attraktivität beeindruckt, kann ich mich für Millisekunden nicht vom Fleck rühren – als hätte ihre Ausstrahlung einen unsichtbaren Bann auf mich gelegt, der mich zum Stillstand gebracht hat.
Doch als es so weit ist, dass mein Körper mir wieder gehorcht, mache ich mich schnellen Schrittes auf den Weg, um hinter ihren flinken Schritten hinterher zu kommen.
Ihr Zimmer hat sich seit dem letzten Mal nicht verändert. Diese Tatsache beruhigt mich so sehr, dass ich fast schön erleichtert aufatmen muss – wovon ich mich letztlich jedoch gerade noch rechtzeitig abhalten kann, schließlich ist die jetzige Situation schon schlimm genug, da muss ich nicht noch mehr wie der größte Psycho rüberkommen.
Als ich in der Tür stehe, dreht sie sich gerade zu mir um, wahrscheinlich, weil sie mich mit einem viel zu fragenden Blick ansehen möchte, aber sicher bin ich nicht.
Ihre geschwungenen Augenbrauen sind nach oben verzogen und mir fällt auf, dass sie, anders als andere Erdbewohner ihres Alters, kein Make-Up trägt. Ihre braunen Augen werden durch ihre scharfen Gesichtszüge schon genug betont, da hat sie es meiner Meinung nach auch überhaupt nicht nötig, sich zu schminken.
Wahrscheinlich klinge ich wie ein psychotischer Stalker oder ein Super-Fan, aber ich mag ihre Ausstrahlung einfach nur, deshalb sind meine Gedanken über sie hauptsächlich positiv geprägt.
"Ich denke, du kannst mir nicht verübeln, dass ich dir jetzt eine berechtigte Frage stelle. Zumindest hoffe ich, dass du das nicht tun wirst. Also: Warum bist du jetzt hier?" Neugierig sieht sie mich an und winkt mich zu sich herüber, während sie sich auf ihr Bett setzt. Dabei kann ich beobachten, wie sie – vielleicht aus einem Reflex heraus – die türkise Tagesdecke glatt streicht.
Langsamen Schrittes gehe ich auf das Bett zu und setze mich mit einem kleinen Abstand neben sie. Aufmerksam betrachtet sie mich von der Seite, aber ich bemerke nur, dass es hier drinnen deutlich wärmer ist, als außerhalb der Mauern, was mich dazu veranlasst, meine Jacke auszuziehen und hinter meinem Rücken auf das Bett zu legen.
"Ich kann nicht mehr nach Hause", beginne ich, während ich meine Hände mit Bedacht zusammen falte und in meinen Schoß lege.
Wahrscheinlich bin ich einfach zu überwätig von den vielen neuartigen Reizen, deshalb kann ich nicht weiter sprechen. Aber eher ist das nur meine Ausrede, um meine Ausführungen nicht beenden zu müssen.
"Okay, und weiter? Willst du jetzt hier bleiben?", fragt sie, wirkt aber nicht so, als würde sie das aus der Ruhe bringen – als würde sie ständig Leute ohne richtiges Zuhause bei sich aufnehmen.
Ich kann nichts anderes tun, als zu blinzeln und dabei wahrscheinlich auszusehen, wie ein gestörter Psychopath.
Sind Psychopathen nicht sowieso gestört? Oder fange ich schon wieder an, mich selbst zu verwirren, ohne etwas dagegen unternehmen zu können? Ich wage einfach mal einen Schuss ins blaue und vermute, dass es eine komplizierte Mischung aus beidem ist.
"Ja, das wäre wirklich toll", bringe ich irgendwann hervor und sie seufzt auf. Da ich schon lange aufgegeben habe, zu ergründen, warum Menschen diese klitzekleinen Dinge tun, denke ich einfach nicht weiter darüber nach.
"Klar kannst du hier bleiben. Aber es wird nicht einfach, dich an meinem Bruder vorbei zu schmuggeln, ohne, dass er dich bemerkt, verstehst du? Das ist meine einzige Sorge dabei, ansonsten bist du natürlich immer hier willkommen." Sie lächelt, tippt sich dann jedoch nachdenklich ans Kinn, als wäre sie eine Mathematikerin, die eines der großen Probleme zu ergründen versucht.
Als hätte das Schicksal geahnt, dass Elyia vom nachdenken Falten bekommen würde, klingelt es an der Tür, was sie dazu bewegt, vom Bett aufzuspringen und auf ihre, mit Postern geschmückte, Zimmertür zuzugehen.
"Wo gehst du hin?", frage ich leicht verwirrt. Ich an ihrer Stelle, wäre sitzen geblieben, schließlich gehen ihre Eltern höchstwahrscheinlich zur Tür – so ist es zumindest bei Maryse und mir abgesprochen. Wenn sie nicht ruft, geht sie, wenn sie ruft, raffe ich mich auf und gehe selbst.
"Das ist wahrscheinlich Sam", lächelt sie in meine Richtung, beantwortet damit aber nicht wirklich meine Frage. Da sie jedoch schon dabei ist, die Tür in den Flur zu öffnen, belasse ich es einfach dabei. Einen kurzen Moment kann ich sie noch dabei beobachten, wie sie in diesen tritt, dann schließt sie jedoch die Tür und ich bin allein im Zimmer.
Keine zwei Minuten später öffnet sich der Zugang zum Zimmer erneut schwungvoll und honigblonde Haare erscheinen im Türrahmen. Honigblonde Haare, die leider nicht Elyia gehören.
"Elli, kannst du mir bitte- Was zum Teufel machst du hier?" Erschrocken, fast schon angeekelt sieht der Ältere der Churchill-Zwillinge mich an, ich zucke jedoch nur gelassen mit den Schultern.
"Sitzen, atmen, leben ... Such dir was aus." Ich mache eine Grimasse beim Versuch, meine Mundwinkel nach oben zu bewegen und Noah rümpft die Nase.
"Na ja, dann viel Spaß noch. Aber sollte ich herausfinden, dass du meine Schwester manipulierst oder so ..." Er spricht nicht weiter und am liebsten hätte ich einfach nur gelacht, aber da ich sehr gut erzogen bin, unterlasse ich das und tue gar nichts.
Inzwischen empfinde ich seine Versuche, mich runter zu machen, einfach nur noch als lächerlich, da ich weiß, dass rein gar nichts dahinter steckt. Da halte ich mich doch viel lieber an Menschen wie Elyia.
"Noah, kannst du nicht einmal anklopfen, bevor du in mein Zimmer stürmst? Das ist so nervig, echt. Und jetzt verschwinde und hör auf, Carter zu belästigen, sonst gibt's Ärger, verstanden?" Mit wütend funkelnden Augen sieht Elyia ihren älteren Bruder an und drängt sich dann ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei in ihr Zimmer hinein.
Er verschwindet, nicht ohne ihr einmal kindlich die Zunge heraus zu strecken, was sie mit einem Mittelfinger in seine Richtung quittiert, den er jedich nicht mehr sieht, da er umgehend seine Zimmertür – unterstrichen von einem lauten Knall – ins Schloss fallen lässt.
Ich kann gerade noch sehen, wie Elyia ihre Augen verdreht, dann bin ich zu abgelenkt von der neuen Erscheinung auf meiner ganz persönlichen Bildfläche in Gestalt von Samantha.
"Hey, Carter." Sie lächelt mich an und ich versuche mich ebenfalls an einem Grinsen, was mir scheinbar auch ziemlich gut zu gelingen scheint, denn Elyia, die immer noch irgendwo in der Mitte ihres Zimmers steht, beginnt lauthals zu lachen, nur um sich schließlich rückwärts auf ihr Bett fallen zu lassen.
"Sam, Carter schläft heute hier, wenn es dir nichts ausmacht." Die Dunkelhaarige schüttelt den Kopf, ihr Lächeln ist immer noch auf ihrem Gesicht abgebildet.
Ich kratze mich erst am Hinterkopf, dann am Hals und schließlich an der Nase. Aus Reflex streiche ich mir danach noch über mein Gesicht, denn ich fühle mich urplötzlich, als würden Ameisen und andere Kleintiere über meinen Körper stolzieren, was wirklich nicht angenehm ist.
"Alles okay mit dir, Carter?" Abgesehen von mindestens einer Zwangsstörung und dem Autismus? Klar, alles bestens.
Die schnippische Antwort schlucke ich herunter – Wann bin ich so sarkastisch geworden? – und mit ihr auch das Gefühl der Ameisen auf meiner Haut.
Vielleicht ist mein Gesicht jetzt gerade gerötet, aber das ist okay für mich, solange die Ursache dafür aus der Welt geschafft ist.
Ich lächele in Richtung der Mädchen und höre beide aufatmen. Auch Samantha setzt sich jetzt auf Elyias Bett, wofür sie meine Jacke herunterschmeißen muss.
Natürlich bin ich derjenige, der sie aufhebt und Elyia schließlich fragend ansieht. "Hast du hier irgendwo einen Bügel, auf dem ich meine Jacke aufhängen kann?", frage ich höflich. Nach meiner Frage kann live und in Farbe beobachten, dass die Mädchen sich wie auf Kommando ansehen und in Gelächter ausbrechen, als sei ich der weltbeste Komiker – der weltbeste Komiker, der scheinbar seinen eigenen Witz nicht verstanden hat.
Als die beiden sich beruhigt haben, steht Elyia auf und nimmt mir die Jacke ab. "Ja, ich habe einen irgendwo in den Tiefen meines Kleiderschrankes. Aber solltest du nicht erschlagen werden wollen, ist es empfehlenswert, ihn nicht zu öffnen." Sie grinst und hängt die Jacke über den Schreibtischstuhl, nur, um sich letztlich wieder auf ihrem Bett niederzulassen.
"Ich habe Lust auf einen Film. Elli, suchst du einen aus?", fragt Sam das größere der beiden Mädchen und sieht sie dabei mit weit aufgerissenen Augen und einem Schmollmund an.
"Klar tu ich das, Samilein." Elyia streicht ihrer Freundin über den Kopf, als sei diese ihr Hund und die beiden lachen wieder.
Irgendwie fühle ich mich wie das fünfte Rad am Wagen, bis Elyia ihren Laptop vom Schreibtisch geholt und ihn Samantha in die Hand gedrückt hat – nur um dann wider erwarten meine Hand zu nehmen und mich zum Bett zu ziehen.
"Nun zieh doch nicht so ein Gesicht, Carter. Hab ein wenig Spaß." Je einer ihrer Zeigefinger zieht auf einer Seite meine Mundwinkel in die Höhe, dann pikst sie mir in die Wangen, was Sam erneut zum Lachen bringt.
Nach Absprache mit den Mädchen ziehe ich mein T-Shirt aus, da es schlichtweg viel zu heiß im Zimmer ist und finde mich schließlich links von Elyia wieder, die den Laptop auf ihrem Bauch zu stehen hat.
Wir schauen zwei Filme bevor wir uns dazu entschließen, unseren Körpern Ruhe zu geben und zu schlafen.
Am heutigen Tag ist so viel passiert, dass es mir fast schon surrealistisch erscheint, morgen in die Schule zu gehen und einfach weiter zu machen, als sei nie etwas passiert.
Aber vielleicht ist es gut, mit dem Geschehenen abzuschließen.
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Hey :)
Ich hoffe, ihr hattet alle einen schönen
Tag und seid wohlauf 😊.
Man liest sich ^^.
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