-𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪 𝕊𝕖𝕧𝕖𝕟-
Am nächsten Morgen werde ich von einem Rütteln an meiner Schulter aufgeweckt.
Dass ich überhaupt so lange geschlafen habe, verdanke ich der Härte der Matratze, der Stille im Raum und einem dunklen und traumlosen Schlaf.
Fast sofort öffne ich die Augen und blicke in braune Regenbogenhäute, die wahrscheinlich zu Elyia gehören.
"Guten Morgen, Carter. Tut mir leid, dich aus dem Schlaf reißen zu müssen, aber wir sollten langsam anfangen, uns fertig zu machen." Ihr Lachen dröhnt in meinem Kopf, aber es klingt wirklich schön - und vor allem ehrlich.
Ich beeile mich aufzustehen, dann fällt mir aber auf, dass ich keine Sachen zum Anziehen habe. Elyia ist mir da eine große Hilfe, da sie zufällig noch ein altes Shirt ihres großen Bruders Connor im Schrank hat, dass sie mir, immer noch lachend, zuwirft.
Es ist weiß und riecht nach Pfirsich-Waschmittel, deshalb streife ich es schnell über und erhalte noch eine dunkle Strickjacke, ebenfalls von Connor. Meine Hose von gestern lasse ich an, das T-Shirt will Elyia hier behalten, um es zu waschen.
Als auch die Mädchen angezogen sind, machen wir uns auf den Weg in die Küche, um zu frühstücken und fahren schließlich alle gemeinsam in die Schule.
Ich muss ehrlich sagen, dass ich froh bin, dass Elyia ihr eigenes Auto besitzt und wir weder mit dem Schulbus noch mit Noah fahren müssen, auch wenn das wahrscheinlich deutlich interessanter geworden wäre, als die Fahrt in Elyias Auto, die wir durchgängig schweigend absolvieren.
Da es Dienstag ist, habe ich in der ersten Einheit Englisch, weswegen ich aus meinem Spind - in dem ich zum Glück alle meine Schulsachen gelagert habe - mein Englischbuch und einen Block hole und zum Raum schlendere.
Der Unterricht vergeht schnell und auch Geschichte fühlt sich an wie ein Wimpernschlag. Ehe ich mich versehe ist es also schon Zeit für die große Pause, in der ich natürlich nach draußen zur Steinmauer gehe.
Ich habe noch mehr als genug Zeit - ungefähr fünfzehn Minuten -, bis ich Mittagessen gehen muss, weshalb es mir ganz gelegen kommt, dass Kathy gerade über den Hof läuft.
Sie sieht mich und winkt mir zu, dann überquert sie die Rasenfläche und steht mir keine Minute später gegenüber.
"Hey, Carter", lächelt sie und schlingt ihre Arme um mich. "Bist du heute mit Elyia gekommen?" Ihr Lächeln weicht einem süffisanten Grinsen, aber ihr Blick spiegelt ihre Irritation wieder.
"Ich habe von gestern zu heute bei ihr übernachtet, weil ich nicht Zuhause bleiben konnte. Aber dazu später mehr. Denn irgendetwas an deinem Blick sagt mir, dass es etwas gibt, das du mir unbedingt erzählen willst." Forschend blicke ich in ihr Gesicht, ihre Pupillen, die von einer grün schimmernden Iris umgeben sind, wirken riesig.
"Es geht um Tristan." Sie atmet aus, sieht mich aber nicht entschuldigend an, so wie sonst immer, wenn sie von ihm anfängt. "Also, es ist so: Du weißt ja, dass ich relativ gut mit Rachel, der Schülersprecherin, befreundet bin. Ich war gestern bei ihr und ihr Freund aus der Football-Mannschaft war auch da.
Irgendwie kamen wir dann auf Tristan und dann hat Ashton - Rachels Freund - erzählt, dass Tristan wohl das Stipendium, dass er in New Haven hätte bekommen können, abgelehnt hat, um an einer Uni in Atlanta zu studieren. Er meinte, dass die Footballer sich sicher sind, er würde das wegen seinem Vater machen, aber Ashton selbst wusste es nicht so genau." Sie holt nochmal tief Luft und beobachtet dann meine Reaktion.
Die läuft folgendermaßen ab: Ich räuspere mich, blinzele und schlucke. Dann zucke ich mit meinen Schultern und blinzele noch zweimal.
"Und was hat das jetzt mit mir zu tun?", frage ich, mehr gelassen als wirklich gleichgültig.
"Du ... ich meine- Dich interessiert das nicht?", will sie aufgebracht wissen, aber ich gehe nur langsam in Richtung Eingang.
"Nein, nicht wirklich. Wir sind jetzt fast zwei Monate auseinander und er hat nicht einmal mit mir gesprochen. Was geht mich dann sein späterer Uni-Platz an?" Ich ziehe beide Augenbrauen in die Höhe und trete auf die Tür zu.
Bevor ich im Haus verschwinde, höre ich Kathy noch sagen: "Mehr als du jetzt denkst."
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Ich stehe vor der weißen Aluminiumtür und bin mir nicht ganz sicher, ob ich klopfen oder klingeln soll.
Genau weiß ich natürlich nicht, wie lange ich dort stehe, aber ich schätze ungefähr fünf Minuten. Da mir aber in dem leichten T-Shirt und der flink übergeworfenen Strickjacke schnell kalt wird, entscheide ich mich für das Klopfen.
Keine Minute später öffnet Maryse die Tür und bedenkt mich mit einem überraschten Blick - ein Blick, den sie jedem zuwirft, der unerwartet vor ihrer Tür steht.
Doch dann verändert sich ihre Miene - aus der Überraschung wird Freude, als sie erkennt, wer da vor ihr steht.
Ich muss sie sogar davon abhalten, mir um den Hals zu fallen, denn so weit bin ich dann noch nicht.
"Carter, wie schön, dass du wieder da bist." Lächelnd sieht sie mich an, die Arme immer noch ausgestreckt, doch als sie bemerkt, dass ich sie wirklich nicht umarmen werde, lässt sie sie langsam wieder sinken.
"Zuerst möchte ich mich bei dir entschuldigen." Mit unveränderter, fast kalt wirkender Miene sehe ich sie an, mein Blick starr geradeaus gerichtet.
Ihre Augen spiegeln ihre Verwirrung wieder und ich habe das Gefühl, sie würde mich unterbrechen wollen, weshalb ich schleunigst weiter rede.
"Ich habe dir Unrecht getan, denn entgegen deiner - durchaus gelungenen - Erziehung, die deutlich klar gemacht hat, man solle sich immer eine zweite Meinung einholen, bin ich weggelaufen, ohne dir zuzuhören. Das tut mir leid." Mein Gesicht bildet immer noch die gleiche Maske wir zuvor.
"Du musst dich nicht bei mir-" Mit einer einfach Handbewegung unterbreche ich sie und fahre fort.
"Ehrlichgesagt hoffe ich, dass die Geschichte, die der Professor mir erzählt hat, stimmig ist und ich einfach zu schnelle Schlüsse gezogen habe. Wahrscheinlich hast du gar nichts mit dem Tod meiner Eltern zu tun und ich habe dir Unrecht getan. Zumindest ist es das, was ich, wie gesagt, sehr hoffe." Tief atme ich durch und sehe sie dann mit festem Blick an, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Resigniert seufzt sie und legt mir eine Hand auf die Schulter; ich bin dabei zu versuchen, nicht vor ihrer Berührung zurück zu zucken.
"Ich wusste nicht, dass er sie getötet hat. Aber als ich die Nachricht bekam, deine Eltern seien verschwunden, habe ich mir gedacht, dass er es war - dass er es gewesen sein musste, denn alles andere hätte keinen Sinn ergeben."
Erleichtert atme ich auf und sie umschlingt mich mit ihren Armen, was mich im ersten Moment überfordert. Dann erwidere ich die Umarmung jedoch.
"Verzeihst du mir?", frage ich nach, denn sie hat mir beigebracht, man solle immer um Entschuldigung bitten - es sei höflich, aber das ist außerddem eine weitere Sache, die ich an Neurotypen nicht verstehe.
"Natürlich, Carter." Sie lächelt und legt mir erst ihre Hände auf meine Oberarme, dann macht sie jedoch Platz und geht mir voran ins Wohnzimmer.
Bevor ich ihr jedoch folge, schließe ich noch schnell die Tür ab - unerwünschte Besucher können wir jetzt nicht unbedingt gebrauchen.
Auf der schwarzen Couch nehmen wir fast gleichzeitig Platz, auf dem gläsernen Tisch steht eine weiße Keramik-Tasse, wahrscheinlich mit Tee befüllt.
Aus ebendieser Tasse trinkt meine Tante fast augenblicklich, stellt sie nach einem langen Schluck wieder ab und lehnt sich dann an die Rückenlehne aus Kunstleder.
Wir schweigen eine Weile, aber mehr brauche ich in diesem Moment auch nicht - einfach nur das Gefühl, dass sie jetzt bei mir ist.
Es ist ein sehr schönes Gefühl, etwas, das ich nur bei ihr oder Kathy fühlen kann - und wenn ich es fühle, dann auch nur ganz selten. Natürlich geben sie mir allein durch ihre Anwesenheit die Chance, mich normal zu fühlen - mich zu fühlen, als sei ich ein ganz normaler Mensch.
Ein High-School-Schüler, wie jeder andere auch, der sich ausprobiert und lacht und Freunde hat. Der Spaß am Leben und eher weniger Spaß an der Schule hat.
Meiner Meinung nach ist es das, was sie für mich wollen, auch wenn sie nur zu gut wissen, dass das niemals der Realität entsprechen wird.
Inzwischen habe ich mich ja auch damit abgefunden, nicht normal zu sein. Nicht normal sein, heißt ja auch noch lange nicht, dass ich so ganz anders als alle bin.
Schließlich hat jeder Mensch, abgesehen von ein paar Gendefekten, die gleiche Anatomie. Wir Menschen teilen 99 Prozent unseres Genoms - schließlich wären wir ansonsten keine Menschen.
Aber irgendwann muss man von den Statistiken weg und wieder auf den Boden der Tatsachen zurück kommen. "Wer war noch in dieser Organisation? Irgendjemand, den ich kenne?"
Meine Frage lässt Maryse unbehaglich dreinblicken, aber egal was sie jetzt sagt, ich muss darauf bestehen, dass sie mir antwortet.
"Carter, wenn ich dir das erzähle, dann ..." Sie spricht nicht weiter, aber ich kann mir schon so ziemlich genau denken, was sie argumentieren will.
Ungefähr so etwas: Wenn ich dir das erzähle, dann wird das für uns beide unangenehme Folgen haben. Vielleicht sterben wir ja. Würde auch kein Prolem darstellen, vielleicht werden wir ja in einem besseren Leben wieder geboren.
Heißt nicht, dass ich sterben will, sondern nur, dass ich keine Angst vor dem Tod habe, was wahrscheinlich daran liegt, dass es für mich nie einen Grund dazu gab.
"Bitte beantworte einfach meine Frage, okay? Ich kann jetzt echt keine Lügen mehr gebrauchen." Irgendwann werde ich mir dieses ständige Nase-Kratzen abgewöhnen, aber bis dahin habe ich noch genug Zeit, das weiter fortzuführen.
Sie seufzt. "Ich wusste das bis vor Kurzem nicht. Doch dann habe ich ihn im Supermarkt getroffen und natürlich sofort erkannt. Er sagte mir, dass er dich kennen gelernt hätte, vor kurzer Zeit. Schon immer hatte er ein deutlich besseres Gedächtnis, als ich selbst, deshalb hat er sich an dich erinnert, ich mich aber nicht an seinen Sohn. Ich hätte ihn erkennen müssen, spätestens an seinen Gesichtszügen." Meine Tante ballt ihre Hände zu Fäusten.
"Über wen redest du?", will ich wissen, nicht ahnend, was für Nachwirkungen das haben wird.
"Ich rede über Tristans Vater."
Geschockt sehe ich sie an. Ich hätte jeden erwartet. Wirklich jeden. Aber nicht ihn.
Andersherum wäre es jedoch auch das einzig Logische gewesen. Schließlich wurde der Name Harvey in meiner Erinnerung genannt und spätestens von da an hätte ich wissen müssen, dass es sich um Tristans Vater handelte.
"Wen gab es da noch?", stochere ich dann weiter, als ich mich wieder gefasst habe. So schlimm kann es ja gar nicht werden.
"Kathys Eltern wussten Bescheid. Wegen Rhea, du weißt schon." Kathys ältere Schwester. Ich kenne ihre Geschichte nur zu gut, sie wurde Kathy und mir ein paar - vielleicht auch nur ein - Mal erzählt, wenn wir zu lange wegblieben. "Aber sie wollten genauso wenig wie wir anderen, dass unseren Kindern etwas passiert. Zach und Kathy sind verschont geblieben, Rhea war die einzig Hochbegabte von ihnen.
Rhea haben sie ihnen genommen, weil gemunkelt wurde, während Cassidys Schwangerschaft hätte man ihr ein paar der Mittel aus dem Labor gegeben, durch die Rhea ihre Intelligenz weiter ausgebildet hat.
Sie konnten das natürlich nicht durchgehen lassen, deshalb sorgten sie dafür, dass Rhea verschwand, Cassidy und Malcolm ließen sie aber am Leben, weil Cassidy ja wieder schwanger war. Ich weiß nicht, ob sie an Rhea experimentiert oder sie direkt ...", sie schluckt, "getötet haben, aber ich war diejenige, die den beiden bei ihren Trauer-Tiraden zugehört und sie getröstet hat."
Ich wage es, meine Augen zu schließen und bin froh, dass sich keine schrecklichen Bilder auf der Innenseite meiner Lider abzeichnen. Zum Glück kannte ich Rhea nicht, sonst wäre das nicht so glimpflich ausgegangen.
"Noch jemand?", will ich dann wissen, bin aber noch nicht ganz dazu bereit, meine Augen zu öffnen, schließlich könnte mir da sonst was entgegenspringen.
"Niemand, den du kennen könntest." Ruckartig öffne ich jetzt doch die Augen und sehe sie direkt an.
"Ich sagte doch, keine Lügen." Ich knirsche mit den Zähnen, was hat sie daran nicht verstanden?
"Ich ..." Mein Telefon klingelt; Daniel ruft an und rettet meine Tante im letzten Moment davor, mir weitere Namen nennen zu müssen.
"Was ist los, Daniel?", frage ich irritiert über seinen plötzlichen Anruf.
"Carter, wir müssen reden. Es ist dringend." Seine Stimme zittert ein wenig, aber das könnte auch am Rauschen des Telefons liegen. Vielleicht ist er gerade an einem Bahnhof, so hört sich das zumindest an.
"Worum geht es?", will ich wissen und klemme mein Telefon zwischen Ohr und Schulter, um Maryse ein Handzeichen zu geben, dass sie doch bitte kurz warten solle.
Dann gehe ich aus dem Wohnzimmer in den Flur, um dort meine Schuhe anzuziehen, die leise Vorahnung im Hinterkopf habend, dass ich jetzt noch einmal los muss.
"Mein Vater hat mir gerade eröffnet, dass ich einen Bruder habe."
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Hi :),
ich hoffe, es geht euch allen gut und ohr seid nicht allzu sauer, dass Dienstag nichts kam, aber ich hatte einfach wirklich keine Zeit, etwas zu schreiben.
In jedem Fall wünsche ich euch noch einen schönen Nachmittag, später oder morgen kommt noch ein zweites Kapitel 😁.
Man liest sich!
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