-𝔽𝕠𝕣𝕥𝕪-
"Was ist mit Noah?", will ein neugieriger Carter - also ich, auch wenn mir diese Seite an mir ziemlich zuwider ist - von Daniel wissen.
"Also, bevor du irgendwelche Schlüsse ziehst oder so, will ich sagen, dass das Ganze nicht meine Idee war." Unsicher sieht er mich an und ich habe das Gefühl, einfach gar nichts mehr zu checken.
"Was war nicht deine Idee, Daniel?" Und warum muss ich ihm alles – nicht wörtlich gemeint – aus der Nase ziehen? Kann er nicht einfach reden, wenn er das tun möchte, oder brauchen Neurotypen neuerdings für alles, was sie tun eine Aufforderung?
"Das mit der Wette und so. Er hat mir vor kurzem erzählt, dass er dich darüber aufgeklärt hat und ich gehe auch davon aus, dass du das mit ihm und Tristan weißt. Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass ich Noah von Anfang an davon abgeraten habe, als er das machen wollte. Er war leicht zu begeistern, auch von den falschen Typen, die sich seine Freunde nannten.
Auch wenn Noah dir vielleicht erzählt hat, dass du Opfer der Umstände gewesen bist, als er dich damals geküsst hat, entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Sie haben geplant, dass du derjenige sein wirst, den Noah küsst, warum sie das getan haben, weiß ich bis heute nicht.
Ich habe die ganze Zeit versucht, Noah davon abzuhalten, mit diesen Typen zu verkehren. Sie waren für ihn kein guter Einfluss. Aber er war sechzehn und rebellisch, hat weder auf mich noch auf irgendwen sonst gehört. Vor ihnen wollte er einfach cool sein und mit ein paar kleinen Aufgaben auch noch einfaches Geld machen.
Keine Ahnung, warum er nicht damit aufgehört hat, nachdem das mit Tristan vorbei war. Es war das erste Mal, dass sie ihn zu einer Beziehung gezwungen haben und erst wollte er es auch nicht machen, aber als ich ihn darin bekräftigt habe, auch mal gegen ihr Wort zu handeln, war er ganz plötzlich Feuer und Flamme, genau das zu tun, was ich mir nicht für ihn gewünscht und wovon ich ihm strikt abgeraten habe.
Als das mit Tristan vorbei war, konnte man nichts mehr mit Noah anfangen. Ich habe bis heute das Gefühl, dass er ihn wirklich geliebt hat, auch wenn er immer wieder abstreitet, solche Gefühle für einen Mann haben zu können.
Meistens habe ich mich aus der ganzen Sache rausgehalten und hatte zu Noahs Freunden so wenig Kontakt wie nur irgend möglich. Dabei habe ich dann aber auch die ganze Zeit versucht, ihn nicht zu verlieren, weil wir uns schon seit Ewigkeiten kennen, doch zur damaligen Zeit haben wir uns dann irgendwie ein wenig auseinander gelebt.
Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ziemlich überrascht, aber auch froh darüber war, als er mir erzählt hat, was für komische Typen seine Freunde doch wären und dass er jetzt vollends den Kontakt zu ihnen abgebrochen hätte. Das war vor ungefähr fünf Monaten.
Seit dem habe ich das Gefühl, dass er sich vollkommen verändert hat. Als sei er einer Gehirnwäsche entflohen. Du musst wissen, dass uns früher nichts hätte auseinanderbringen können, aber dann kamen sie und haben alles zerstört.
Zwei Jahre lang war Noah nur er selbst, wenn wir zusammen waren. Vielleicht irre ich mich ja auch und eigentlich hat er bei ihnen die Maske abgenommen, die er sich in der Zeit, in der er bei mir war, gebastelt hat. Möglicherweise waren nicht sie diejenigen, vor denen er sich verstecken und verändern musste.
Aber selbst wenn ich dernenige gewesen wäre, vor dem er ein Schauspieler sein musste, habe ich trotzdem ... Ich habe mich trotzdem-" Er redet nicht weiter und starrt auf Etwas, das nur er zu sehen scheint.
"Du hast dich in ihn verliebt." Sein Kopf schießt nach oben und stumm formt er Worte mit seinen Lippen, die sein Gehirn ihn nicht aussprechen lässt.
Dann: "Woher ..." Nur ein einzelnes Wort, das so viele Kombinationen einer möglichen Fragestellung mit sich bringt, dass man ein ganzes Buch darüber schreiben könnte – sofern sich jemand dazu bereiterklärt, genügend Zeit für das In-Worte-Fassen meiner Gedanken aufbringt.
Ich nehme eine zufällige Kombination die: Woher weißt du das? ist. Es ist die wahrscheinlichste von allen und deshalb wahrscheinlich auch die logischste.
"Es ist ganz einfach: Die Arbeit des vegetativen Nervensystems eines jeden Menschen resultiert in gewissem Maße im gleichen Fazit. Man sendet einen Reiz und erhält eine Reaktion, man kommuniziert – alles völlig unterbewusst – mit anderen Menschen anhand von Blickaustauschen, Mimiken und Gestiken. Bestimmte Gesichtsausdrücke haben bestimmte Reaktionen zur Folge, andere enden eben in anderen." Ich zucke schlichtweg mit den Schultern.
"Ja, aber das erklärt noch lange nicht, warum ich mich in meinen besten Freund verliebt habe. Und warum du Tristan liebst." Er weist, fast anklagend, auf mich, sein Zeigefinger nur Millimeter vor meinem Brustkorb.
"Was ist Liebe schon? Nur eine Aneinanderreihung von unwillkürlich ausgelösten Reaktionen, die nur selten einen Sinn ergeben. Es ist akzidentell in wem man jemanden findet, der mit dem eigenen Körper entsprechende Resonanzen verbindet, weshalb ich nicht an wahre Liebe glaube. Alles einfach nur dem Zufall überlassen." Ich starre an die Decke und mir fällt auf, dass viele Decken weiß sind. Vielleicht ist das Norm, aber wenn ich Zuhause bin, werde ich meine Decke, allein aus Provokation, ozeanblau streichen.
"Du weißt trotzdem nicht wie es ist, wenn dieser Zufall sich dazu entscheidet, dass du deine Liebe in deinem besten Freund findest, von dem du dein Leben lang gedacht hast, du könntest nie etwas anderes als Freundschaft für ihn empfinden. Von dem du dein Leben lang gedacht hast, er würde bei jeder Entscheidung hinter dir stehen, egal was passiert." Er schließt für einen kurzen Moment die Augen und ich kann beobachten, wie sich seine Hände langsam und fast zu unauffällig zu Fäusten ballen.
"Nein, das weiß ich tatsächlich nicht. Ich habe schließlich Kathy als meine einzige Freundin – und vielleicht gerade so noch Benji." Er wirft mir einen klagenden Blick zu. "Ich kann mir vorstellen, was du jetzt denken wirst. Ist es nicht total klischeehaft, als Schwuler eine beste Freundin zu haben? Aber Kathy ist nicht meine beste Freundin, weil ich schwul bin – und auch nicht, um das Problem, dass ich mich in meinen besten Freund verlieben könnte, aus der Welt zu schaffen.
Kathy hat immer dafür gesorgt, dass ich mich wohl fühle. Wahrscheinlich wird sie auch in zig Jahren noch versuchen, mich normal fühlen zu lassen – was ihr natürlich unmöglich ist. Schließlich bin ich nicht normal und das sehe ich auch vollkommen ein. Vielleicht bringt es ja irgendetwas, das auszusprechen, wovor ich am meisten Angst habe – meine Abnormalität." Wir sehen uns in die Augen, er unfähig, auch nur einen Ton von sich zu geben und ich selbst ziemlich fasziniert von der Farbe seiner Augen – ein seltsam glitzerndes grau.
"Carter ..." Sein Blick ist fast schon flehend, aber ich wüsste nicht, warum er flehen sollte.
"Ich habe nie mit irgendjemandem darüber geredet, vielleicht, weil ich zu große Angst vor Abneigung hatte. Aber jetzt ist es vielleicht an der Zeit, endlich den Mund auf zu machen." Er nickt mir bekräftigend zu und ich schließe – so wie er einige Minuten zuvor – die Augen.
"Erzähl mir von deiner größten Angst, Carter." Als ich meine Augen wieder öffne, starre ich direkt in seine, was mir auf eine verworrene Art und Weise Kraft gibt.
"Ganz ehrlich? Meine Tante meinte, ich würde Konversation betreiben, um an Informationen zu gelangen. Da hat sie Recht. Dinge, die mich nicht interessieren, blende ich aus, manchmal sind das aber auch ganze Menschen. Dadurch wirke ich oft wahrscheinlich arrogant oder eingebildet, aber das ist eigentlich gar nicht meine Absicht.
Aus diesem Grund habe ich Angst davor, abgestoßen zu werden, weil ich anders bin als sie. Weil sie abstoßen was sie nicht verstehen – wenn sie es nicht verstehen, können sie es ja auch kaum akzeptieren. Denn ohne Verständnis ist Akzeptanz nur eine Maske." Ich muss ziemlich verbittert wirken, wie ich da so auf seinem Bett kauere und ihn mit schneidenem Blick ansehe.
"Also meinst du, sie können nicht akzeptieren, ohne zu verstehen?" Fragend zieht er beide Augenbrauen nach oben.
"Sie können", erwidere ich und fahre über meine Nase. "Aber das vermeindlich Akzeptierte wird nur eine Lüge des Verständnisses sein. Sie werden zwar sagen, dass sie es verstehen, aber verstanden haben sie es nicht."
"Und wenn sie akzeptieren, ohne verstanden zu haben?" Es wundert mich, wie weit er mitgekommen ist, Maryse wäre an dieser Stelle sicher schon raus und Kathy auch.
"Das wird nicht passieren. Sie akzeptieren die Dinge nicht einfach so. Sie unterziehen sie einem unterbewussten Test." Nachdenklich starre ich vor mich hin, er tut das gleiche.
"Also würden sie Unverstandenes nicht akzeptieren?" Fast klingt er wie ein kleines Kind, das noch nicht verstanden hat, dass die Erde nun mal rund ist und keine Scheibe.
"Du hast es erfasst. Unverstandenes ist ihnen fern. Aber das ist ja das Problem. Sie lassen es auch nicht an sich heran – werden sie nie. Lieber lassen sie es unverstanden." Meine Stimme klingt mit Sicherheit düster, aber ihn scheint das herzlich wenig zu stören.
"Warum akzeptieren sie die Dinge nicht einfach, die sie nicht verstehen? Alles wäre so viel einfacher, wenn sie es tun würden." Er seufzt auf und ich tue es ihm fast automatisch gleich.
"Das wäre es wahrscheinlich, aber um deine Frage zu beantworten: Weil Menschen nun mal keine Akzeptanz aufbringen können, für Dinge, die anders sind als sie selbst." Und dabei muss es nicht einmal um Intelligenz gehen, sondern kann sich auf alles Mögliche beziehen: Sexualität, Politik, Interessen ... Meinungen gehen nun mal auseinander, aber nicht immer wird Empathie gezeigt.
"Das macht gar keinen Sinn! Am Ende sind wir doch eh alle wieder gleich, warum behandelt man Leute, die anders denken oder anders sind, schlechter, obwohl sie den eigenen Horizont um Lichtjahre erweitern? Das ist doch völliger Unsinn." Er wirft plötzlich aufgebracht die Arme in die Luft und zieht die Augenbrauen zusammen.
"Ich habe die menschliche Psyche noch nie vollständig ergründen können und genau deine Frage ist ein mir unerklärt gebliebenes Phänomen." Im Gegensatz zu seiner – durch die Aufregung tiefer klingenden – Stimme, bleibe ich völlig gelassen, auch wenn es mich bewegt.
Maryse meint, man solle vor allem ruhig bleiben, wenn der Gesprächspartner die Beherrschung verliert und nicht selbst auch noch wütend oder laut werden.
Er scheint sich nach kurzer Zeit wieder beruhigt zu haben, denn er lässt sich schlagartig auf den Rücken fallen, um schließlich einfach nur an die Decke zu starren.
"Man muss diese ganzen komischen Menschen nicht verstehen, oder?" Fragend sieht er in meine Richtung und auch ich lasse mich auf meinen Rücken fallen.
Die Matratze hat eine angenehme Temperatur und Härte, während ein schwarzer Bettbezug sowohl Bettdecke als auch Kissen ziehrt.
An sich finde ich auch Daniels Zimmer wirklich schön; es ist relativ aufgeräumt und stinkt nicht – ganz im Gegenteil, ein neutraler Geruch hängt in der Luft, der mich weder ablenken noch unnötig irritieren kann.
"Nein, ich habe schon lange aufgehört, es zu versuchen. Was hätte das auch für einen Sinn, außer unnötiger Zeitverschwendung und nervenaufreibenden Unterhaltungen, die man eigentlich gar nicht führen will?" Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung, er tut es mir nach.
Lange starren wir uns in die Augen; wie viel Zeit dabei vergeht, ohne das einer von uns weg sieht, kann ich nicht genau sagen.
"Daniel, kannst du bitte-" Wir sehen uns immer noch an, auch, als eine weibliche Stimme, der ich noch keiner Person oder einem Gesicht zuordnen kann, die Stille durchschneidet wie eine Schere das Papier.
"Bitte geh raus, ja, Mom? Ich habe jetzt gerade keine Zeit, werde es aber später machen." Daniel redet, ohne den Blick von meinen Augen zu lösen und ich frage mich, wie er wissen konnte, wovon seine Mutter redet, ohne, dass sie es ausgesprochen hat – woher er wusste, dass es sich bei der Person um seine Mutter handelt, werde ich jetzt nicht infrage stellen.
Als die Zimmertür geschlossen wird, ertönt ein endlos nachhallendes Geräusch, das die Leere in seinen Augen zu untermauern scheint. Eine Leere, die ich so noch nie bei jemandem gesehen habe – zumindest nicht, wenn ich nicht stundenlang in den Spiegel und in unsagbar ausdruckslose Augen gestarrt und mich gefragt habe, ob es jemanden gibt, der mich versteht.
Ich scheine diesen Jemand gefunden zu haben.
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